Unter Druck: Die Krise der Rechtsstaatlichkeit und der Humanität an den EU-Außengrenzen

Kommentar

In einem gemeinsamen Appell fordern UNHCR und IOM Italien und alle EU Mitgliedsstaaten dazu auf, geltendes Recht zu achten, Menschen zu schützen und auch Verantwortung innerhalb der EU fair zu teilen. Humanität und Rechtsstaatlichkeit liegen im ureigenen Interesse der EU - wenn sie an den Außengrenzen verloren gehen, werden sie auch im Inneren kaum gewahrt werden können.

Küstenwache auf dem Meer

Die Erleichterung ist ihnen anzusehen. Fast zwei Wochen mussten die insgesamt 246 Geretteten an Bord der „Humanity 1” und der „Geo Barents" ausharren, bis sie im italienischen Catania an Land gehen durften. Eine qualvoll lange und ungewisse Zeit für Menschen, die gerade die lebensgefährliche Flucht über das zentrale Mittelmeer und Schreckliches in Libyen hinter sich haben.

Zuvor hatten die beiden Seenotrettungsschiffe von Ärzte ohne Grenzen und der deutschen Organisation SOS Humanity tagelang darauf warten müssen, überhaupt in Catania anlegen zu dürfen. Nach endlich erteilter Genehmigung wurde allerdings vielen Geretteten durch die italienischen Behörden die Schutzbedürftigkeit abgesprochen und das Verlassen der Schiffe verweigert. Der seit der Wahl der rechtsextremen Regierung amtierende Innenminister Italiens Matteo Piantedosi hatte mittels Dekret angeordnet, dass diese angeblich nicht Schutzbedürftigen, die er verächtlich nur “Restlast” nannte, mit dem Rettungsschiff kehrtmachen sollten. Nicht Italien, sondern der Flaggenstaat – in dem Fall Deutschland - sei hier verantwortlich.

Als schließlich doch alle von der „Geo Barents“ Geretteten an Land durften, weil sich die humanitäre Lage an Bord massiv verschlechtert hatte, ging dann die Mehrheit der an Bord der „Humanity 1“ verbliebenen Geflüchteten in den Hungerstreik, bis schließlich auch diesen 35 Menschen gestattet wurde, das Schiff zu verlassen.

Zeitgleich wurde zwei weiteren Schiffen das Anlanden in Italien verweigert: das deutsche Rettungsschiff "Rise Above" musste mit knapp 90 Geretteten eine Woche ausharren. Ihm drohte schon der Treibstoff auszugehen, bis ihm gestattet wurde, in Siziliens anzulegen. Derweil sah sich die "Ocean Viking" der Organisation SOS Méditerranée mit 230 aus Seenot geretteten Menschen an Bord gezwungen, Kurs auf Frankreich zu nehmen.

Insgesamt mussten fast 600 aus Seenot geretteten Menschen auf diese Weise tage- und wochenlang auf den vier Schiffen verharren; neben den physischen Strapazen litten die bereits schwer traumatisierten Menschen unter völliger Ungewissheit über ihr Schicksal.

Solch ein Tauziehen um das Anlanden von Seenotrettungsschiffen an italienischen Häfen ist nicht neu. Unter Innenminister Salvini von der rechtspopulistischen Lega hatte es schon 2019 solche Fälle gegeben, ihm wird deswegen heute noch wegen “Entführung von Asylsuchenden” der Prozess gemacht.[1]

Was dieses Mal neu ist, ist die Fiktion der Rechtsstaatlichkeit: Italien behauptet mit dem Betreten des jeweiligen Rettungsschiffes befinde sich ein Geflüchteter im Hoheitsgebiet des jeweiligen Flaggenstaates; die Dublin-Regelung greife zudem auch auf Hoher See und Italien sei daher nicht zuständig für den Schutz dieser Menschen.

Sowohl die Hilfsorganisationen selbst, als auch italienische Richter*innen und Staatsanwält*innen halten jedoch wenig von dieser Lesart und sind sich einig, dass Italien mit diesem Vorgehen in vielfacher Weise gegen internationales Recht und insbesondere gegen geltendes Flüchtlings- und Seerecht verstößt. Das Unwort des Jahres 2021, „Pushback“, meint unter anderem den Bruch mit dem in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschriebenem Non-Refoulement-Gebot, d.h. das Gebot, Schutzsuchende nicht ohne Prüfung ihres Asylbegehrens zurückzuweisen – also genau das, was die italienische Regierung betrieben hat.

In einem gemeinsamen Appell fordern UNHCR und IOM Italien und alle EU Mitgliedsstaaten dazu auf, geltendes Recht zu achten, Menschen zu schützen und auch Verantwortung innerhalb der EU fair zu teilen.[2]

Gerade der letzte Punkt des Appells benennt einen entscheidenden Aspekt: Denn was sich vor der Küste Italiens abgespielt hat, ist sicherlich keine rein italienische, sondern eine europäische Angelegenheit. Dass sich die Praxis illegaler Zurückweisungen über die Jahre so verfestigt hat, liegt auch an der mangelnden Solidarität mit den EU-Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen, insbesondere mit durch die Finanzkrise geschwächten Mittelmeeranrainer Italien und Griechenland. Jahrzehnte lang wurden diese Grenzstaaten auf Grundlage der Dublin-Verordnung mit der Verantwortung für Schutzsuchende allein gelassen, während zugleich insbesondere konservativ geführte Regierungen in Deutschland aus innenpolitischen Gründen auf verschärfte Grenzregime drängten. Auch heute kommt der Prozess um einen Verteilmechanismus von aus Seenot Geretteten nur schwerlich voran. Währenddessen sind sogenannte Pushbacks an diversen Außengrenzen, aber auch an Grenzen innerhalb der EU und des Schengenraums an der Tagesordnung. Nur vereinzelt schaffen es solche Vorfälle überhaupt noch in die internationale Presse. Zynischerweise nur dann, wenn sie besonders brutal sind, wie diesen Sommer an der Grenze zwischen der spanischen Exklave Melilla und Marokko, als an nur einem Tag mehr als 30 Menschen ums Leben kamen. Die genauen Umstände sind bis heute ungeklärt und die Vereinten Nationen sowie zahlreiche Menschenrechtsorganisationen werfen sowohl den spanischen als auch den marokkanischen Behörden ein unverhältnismäßig brutales Vorgehen gegenüber den Geflüchteten vor - die Rufe nach einer unabhängigen Untersuchung der Ereignisse werden immer lauter.[3]

Dass die Lage an den Außengrenzen nicht nur auf die Mitgliedsstaaten sondern auch auf die EU zurückzuführen ist, wird besonders deutlich an der Rolle der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Ein interner Bericht des EU Amts für Betrugsbekämpfung, OLAF, der nach monatelangem Drängen seitens Parlamentariern und Zivilgesellschaft jüngst veröffentlicht wurde, zeichnet ein düsteres Bild.[4] Zuvor hatten schon der Spiegel und die Organisation „Frag den Staat“ die Ergebnisse der 16-monatigen Untersuchung geleakt. Die im Bericht skizzierten Missstände sind so gravierend, dass sie den langjährigen Exekutivdirektor Fabrice Leggeri zum Rücktritt gezwungen haben. Der Bericht zeigt Lügen und Vertuschungsversuche der Agentur gegenüber dem Europaparlament sowie auch der EU-Kommission und die zumindest indirekte Komplizenschaft von Frontex bei Pushbacks: Nicht nur wurde innerhalb der Agentur nichts unternommen, um Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen zu verhindern: Menschenrechtsverletzungen wurden vielmehr bewusst nicht beobachtet, nicht dokumentiert und gezielt nicht untersucht.

Dabei fanden Pushbacks an so vielen Grenzen statt: an der Grenze zwischen Polen und Belarus zum Beispiel (auch wenn diese weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist); an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina; und an den Land- und Seegrenzen zwischen der Türkei und Griechenland. Hier hat der Fall der so genannten Evros 38 im Sommer besonders viel Aufsehen erregt. Über Wochen schoben sich die Türkei und Griechenland wechselseitig Schuld und Verantwortung für im Niemandsland gestrandete Geflüchtete zu, was schlussendlich zum Tod eines fünfjährigen Mädchens führte.

Immer mehr Menschen sterben heute, bei dem Versuch in Europa Schutz zu ersuchen. Ihre Namen erfahren wir nur selten, und die Zahlen liegen im Ungewissen. Das Missing Migrants Project (MMP) der IOM hat in 2021 mehr als 3.400 Tote auf den verschiedenen Fluchtrouten nach Europa gezählt. Ein trauriger Rekord, denn noch nie seit 2016 waren es so viele und die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen.[5] Ohne den Einsatz mutiger Retter*innen würden noch mehr Menschen auf der Flucht, insbesondere auf dem Seeweg, ums Leben kommen. Es ist die anhaltende Abwesenheit staatlicher Seenotrettung im Mittelmeer, die den Einsatz ziviler ehrenamtlicher Rettungsschiffe notwendig macht. 

Doch statt dieses zivilgesellschaftliche Engagement zu würdigen, kriminalisieren EU-Regierungen die Solidarität mit Menschen auf der Flucht. Seit Jahren wird in Italien gegen die ehemalige Crew des Seenotrettungsschiffes Iuventa strafrechtlich ermittelt. Der Vorwurf lautet „Beihilfe zur illegalen Einreise“, den Besatzungsmitgliedern drohen hohe Geldstrafen und bis zu 20 Jahre Haft. Amnesty International hat der zehnköpfige Crew stellvertretend für alle, die Geflüchteten helfen und dafür kriminalisiert werden, den Amnesty-Menschenrechtspreis 2020 verliehen. Ende Oktober musste der Prozess gegen sie erneut aufgrund staatsanwaltschaftlicher Fehler vertagt werden und eine anschließende freiwillige Befragung durch die Polizei musste nach wenigen Minuten wegen unzureichender Übersetzung abgebrochen werden. Unter dem Hashtag #NoTranslationNoJustice wird in den Sozialen Medien auf dieses Unrecht hingewiesen. Fünf Jahre nach Beschlagnahmung der Iuventa durch italienische Behörden ist die Aufmerksamkeit gering. Dass Menschen, die andere Menschen auf der Flucht vor dem Ertrinken retten, strafrechtliche Konsequenzen fürchten müssen, hat offenbar kaum noch Neuigkeitswert.

Genau wie die sogenannten Pushbacks ist auch staatliche Kriminalisierung keinesfalls nur ein italienisches Phänomen. Auch in Griechenland, Kroatien, Polen, und weiteren Staaten mit EU-Außengrenzen, ist das in ähnlich erschreckender Weise zu beobachten. Genau das ist das Ziel: Abschreckung und Einschränkung von Solidarität und Flüchtlingshilfe.
Das Gesamtbild, das sich hier abzeichnet,  ist ein Europa, das nur noch auf Zurückweisung setzt und keine Verantwortung mehr übernimmt. Verantwortung, die nicht nur in den oft beschworenen „europäischen Werten“ verankert sein sollte, sondern auch in der Genfer Flüchtlingskonvention. An den Grenzen entfaltet sich eine tiefe Krise der Rechtsstaatlichkeit – und der Humanität. Und das obwohl die relativ zügige und unbürokratische Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine in diesem Jahr gezeigt hat, dass die EU sehr wohl zu gemeinsamem und schnellem Handeln zum Schutz von Menschen in der Lage ist und eine relativ hohe Zahl von Flüchtlingen aufnehmen kann, ohne dass dies zu einer schwerwiegenden Krise führt.

Doch die erhoffte Strahlkraft dieses Vorgehens auf den Umgang mit Menschen auf der Flucht insgesamt blieb bislang leider aus. Im Gegenteil: Wir erleben eine zunehmende Polarisierung zwischen Mitgliedsstaaten, erschwert durch jüngste Wahlsiege von rechtsgerichteten Parteien in Italien und  Schweden. Es sind also längst nicht mehr nur die Visegrad-Staaten, vor allem Ungarn und Polen, die in Opposition zu einer humanen EU Flüchtlings- und Asylpolitik stehen.

Während die deutsche Bundesregierung ambitionierte Ziele im Sinne des EU-Flüchtlingsschutzes im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, hat die deutsche Innenministerin jüngst vor einer wachsenden Zahl von Neuankünften über die sogenannte Balkanroute und das Mittelmeer gewarnt. Es sei wichtig, dass diese Zahl eingedämmt würde, damit man den Menschen helfen könne, die dringend Unterstützung bräuchten, meinte sie.[6] Damit hat die Ministerin den Menschen ihre Schutzbedürftigkeit abgesprochen und das ausschließlich auf Grundlage ihrer Fluchtroute. In einer Zeit in der in Deutschland wieder Flüchtlingsheime brennen, ist das gefährlich.

Die Aussagen sind aber auch gefährlich mit Blick auf eine Europäische Union, in der ein Minimalkonsens über die Achtung von Grund- und Menschenrechte und die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu bröckeln scheint. Die Kommission als die „Hüterin der Verträge“ trägt die Verantwortung für die Einhaltung der Verträge und des EU-Rechts - wird dieser Verantwortung aber nicht gerecht.

Dies zeigt zuletzt ein Interview von Kommissionsvizepräsident und Kommissar für die „Förderung der europäischen Lebensweise” Margaritis Schinas, in der auflagenstärksten Tageszeitung Griechenlands, Kathimerini. [7] Darin befürwortet er ausdrücklich in seiner Rolle als Kommissionsrepräsentant die Asylpolitik der griechischen Regierung, ohne dabei auch nur ein Wort über die vielfach belegten Rechtsbrüche zu verlieren.  Im Gegenteil, er lobt sogar die „sehr guten Kontrollen, die die griechische Regierung und Frontex in der Ägäis durchführen“.

Was Frontex betrifft, zeigt er sich allen Missständen zum Trotz völlig unbesorgt. Der Kommissionsvizepräsident bedauert sogar im Zusammenhang mit den Westbalkanstaaten ausdrücklich, dass Frontex nicht überall, sondern nur an den Grenzen zu EU-Staaten tätig werden darf. Dass die beiden Drittstaaten Serbien und Nordmazedonien einer Frontex-Mission an ihrer Grenze zugestimmt hätten, begrüßte er ausdrücklich. Anstatt Unrechtmäßigkeiten zu beseitigen, wird so die Lage konsequent beschönigt. Sorge um die Einhaltung von EU-Recht drückt sich hier keineswegs aus.

Einer der wenigen Lichtblicke ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der jüngst den griechischen Staat für den Tod von elf Menschen haftbar machte. Anfang 2014 waren acht Kinder und drei Frauen aus Syrien und Afghanistan vor der griechischen Insel Farmakonisi in Folge eines Pushbacks der griechischen Küstenwache ertrunken. Acht Jahre und zahlreiche juristische Instanzen später sollen die 16 Überlebenden nun durch den griechischen Staat kompensiert werden.[8] Natürlich macht es die Katastrophe nicht ungeschehen, aber solch ein Urteilsspruch bedeutet wenigstens ein Stück Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen. Es macht auch deutlich, dass die EU kein rechtsfreier Raum ist. Es wäre fatal wenn es allein den Gerichten überlassen bliebe, für Rechtssicherheit zu sorgen. Humanität und Rechtsstaatlichkeit liegen im ureigenen Interesse der EU - wenn sie an den Außengrenzen verloren gehen, werden sie auch im Inneren kaum gewahrt werden können.