Das Spektakel der Pressefreiheit in Zentraleuropa

Bericht

Länder wie Polen oder Ungarn werden oft wegen mangelnder Medienfreiheit kritisiert. Ihre Regierungen bestreiten, dass sie kritische Medien bekämpfen. Doch die Einschränkung der Medienfreiheit hat viele Facetten. Ein ausgesprochen wirksames Instrument der Medienkontrolle ist das Phänomen von Media Capture. Es beschreibt die Übernahme der Redaktionen durch Investor*innen, die der Regierung politisch nahestehen.

European Democracy Conference: Illustration Chessboard

“Die Pressefreiheit ist in einem erbärmlichen Zustand, wenn man mich nur an so ‘wenigen’ Stellen diffamiert,” sagte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ironisch in einem seiner Social Media Videos vom Sommer 2021. Auf der Aufnahme ist zu sehen, wie er in der ungarischen Hauptstadt zu einem Zeitungshändler geht, den Verkäufer begrüßt, und danach, teils dem Mann hinter dem Tresen, teils den Zuschauer*innen, sein Vorhaben erklärt. “Ich dachte mir, ich suche mir einen Platz und schaue, welche regierungskritischen oder regierungsverleumdenden Zeitungen man an einem klassischen Zeitungskiosk kaufen kann.” Zusammen mit dem Verkäufer finden sie im Sortiment eine Tageszeitung, vier Wochenzeitungen und eine alle zwei Wochen erscheinende Satirezeitschrift. Für die Kritiker*innen, aber auch die Wähler*innen des Premierministers sollte das ein Beweis sein, dass die Pressefreiheit in Ungarn weiterhin intakt sei. Man könne ja sagen und schreiben, was man wolle. Man solle auch nicht vergessen, dass es neben den gedruckten Medien noch zwei Fernsehsender, ein Radio und dutzende online Medien gibt, in denen die massive Korruption der Regierung oder Orbáns Kollaboration mit Diktatoren und Kriegshetzern besprochen werden könne.

Anfangs hört sich dieser zynische PR-Gag sogar überzeugend an. Mit dem Framing Orbáns wird versucht, die Aufmerksamkeit von den Wurzeln und dem wahren Wesen des Problems abzulenken. Denn griffen demokratiefeindliche Regierungen in der Vergangenheit noch häufig auf offene Zensur, physische Drohungen und sogar Inhaftierungen zurück, um unabhängige Medien zum Schweigen zu bringen, ist in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts eine Verschiebung hin zu weniger brachialen und sichtbaren Methoden zu beobachten.

Das bevorzugte Mittel ist mittlerweile die Vereinnahmung oder auch Eroberung von Medien (auf Englisch „Media Capture“). Ein Modell, in dem es zwar auch kritische Medien gibt, aber die Regierung dennoch skrupellos agieren kann. Sogar in Russland gab es, bis Anfang dieses Jahres, kritische Stimmen, wie Nowaja Gaseta oder Echo Moskwy, um nur die bekanntesten zu nennen.

Der Media Pluralism Monitor des Centre for Media Pluralism and Media Freedom zeigt, dass auch die EU-Mitgliedsstaaten Zentraleuropas von Media Capture betroffen sind. So lässt sich erkennen, dass in Polen, der Slowakei, in Tschechien und Ungarn die Unabhängigkeit der Führung und Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien als ein hohes Risiko betrachtet wird, und auch Privatmedien oft unter der Kontrolle von regierungsnahen Interessengruppen stehen.

Methoden der Kontrolle

Die Probleme im Osten Europas (bzw. der EU) sind nicht singulär. Die durch neue Technologien, der Dominanz von Online Plattformen und dem Untergang alter Nachrichtengeschäftsmodelle verursachte weltweite Schwächung von Medienmärkten ermöglicht es Regierungen heutzutage eine Reihe verdeckter Maßnahmen zu ergreifen, um Abhängigkeiten zu schaffen und damit Medien daran zu hindern, ihrer Rolle als Kontrollinstanz gerecht zu werden. In Ländern wie Polen und Ungarn wird Werbung vom Staat, von Gemeinden oder Staatsunternehmen oft als verdeckte staatliche Beihilfe genutzt. Es wird angenommen, dass die Zeitungen als Gegenleistung für die Werbeeinnahmen öfter mal ein Auge zudrücken und so ihrer Rolle als vierte Gewalt im Staat nicht (ausreichend) nachkommen.

Als weitere Methode von Media Capture zählt auch der Eigentumswechsel. In Zentraleuropas Medienlandschaften waren eine Zeit lang westeuropäische Investor*innen die dominanten Akteure. Sinkende Renditen führten aber vielerorts zum Verkauf – oftmals an lokale Oligarchen mit politischen Verbindungen, Interessen oder sogar eigenen Machtambitionen.

Einer von ihnen ist Andrej Babiš, ein Unternehmer, der zwischen 2017 und 2021 das Amt des tschechischen Ministerpräsidenten innehatte. Seine Firma kaufte das Medienunternehmen MAFRA von der Rheinischen Post und wurde dadurch stolze Eigentümerin der Tageszeitungen Mladá fronta Dnes, Lidové noviny und der kostenlosen Pendlerzeitung Metro. In der Slowakei wiederum kündigten mehrere Journalist*innen der führenden Tageszeitung SME, nachdem bekannt wurde, dass die Zeitung von der Firma Penta aufgekauft wurde, deren Korruptionsfälle sie selbst mehrmals recherchiert hatten. Oligarchen sind oft bereit viel Geld in Medienportfolios zu investieren, wenn sie dafür anderweitig  kompensiert werden  – etwa bei der öffentlichen Auftragsvergabe oder in der Politik.

So kann die Einschränkung freier Medien als „rein wirtschaftliche Maßnahme“ deklariert werden. Als zum Beispiel Népszabadság, die führende Tageszeitung Ungarns, geschlossen wurde oder die Chefredakteur*innen der führenden Online Medien Origo.hu und Index.hu entlassen wurden, verwies das Sprachrohr der ungarischen Regierung darauf, dass der Markt manchmal unbarmherzig sein könne, aber die Regierung nichts damit zu tun habe. Auch wenn investigative Recherchen in allen Fällen die Rolle der Regierungspartei detailliert nachzeichnen konnten, verlor das Narrativ der Regierung für viele Bürger*innen nicht an Glaubwürdigkeit.

Marktmanipulationen werden immer wieder benutzt, um Medien einzuschüchtern oder Eigentumswechsel voranzutreiben. In Ungarn, zum Beispiel, plante die Regierung eine diskriminierende Werbesteuer einzuführen: der Privatsender RTL hätte als einziges Medienunternehmen den Höchststeuersatz von 50 Prozent auf seine Werbeeinnahmen bezahlen müssen. Wegen einer Klage bei der Europäischen Kommission ließ die Regierung ihr Vorhaben fallen, den Orbán-kritischen Sender über die Steuergesetzgebung in die Knie zu zwingen. In Polen wird derzeit geplant, ausländische Medienunternehmen aufzufordern ihre Anteile an Sendern und Verlagen zu verkaufen. Gesprochen wird von der „Repolnisierung“ der Medien.

Es ist wahrscheinlich kein Wunder, dass in Ländern, in denen die Regierungen die Vereinnahmung von Medien zulassen bzw. diese selbst orchestrieren, auch die öffentlich-rechtlichen Medien nicht ihrer ursprünglichen Mission gerecht werden können. In der Slowakei wird der*die Intendant*in der öffentlich-rechtlichen Medien vom Parlament gewählt. Damit ist diese Person vollständig von der Politik abhängig. Die Situation ist aber in Ungarn am schlechtesten: hier verfügt MTVA, eine Firma, die neben Staatsfernsehen und -radio, auch die Presseagentur betreibt, über eine staatliche Förderung von 300 Millionen Euro im Jahr. Sie ist bekannt für ihre rassistische und europafeindliche Propaganda. In der letzten Zeit zeigten mehrere Recherchen durch unabhängige Medien, dass Mitarbeiter*innen des Staatsfernsehens und der Presseagentur Anweisungen von ihren Vorgesetzten, bzw. sogar direkt von Politiker*innen bekommen, wie sie über die ungarische Opposition, die EU oder über Geflüchtete berichten sollen.

Entscheidungsarchitektur

Es stellt sich natürlich die Frage, warum es überhaupt ein (so großes) Problem für die Öffentlichkeit ist, wenn einige (oder auch die Mehrzahl) der Medien unter dem Einfluss der Politik oder anderen Interessengruppen leiden, so lange es immer noch Dutzende von freien Medien gibt, die über alle möglichen Themen schreiben dürfen. Man könnte ja argumentieren, dass die „Verbraucher*innen” sich die besten und verlässlichsten Medien aussuchen würden, genauso, wie sie das mit ihrem Lieblingsgetränk oder ihrer Lieblingsschokolade tun – insbesondere, wenn viele der verlässlichen Nachrichtenquellen umsonst im Internet zu finden sind.

Es gibt natürlich viele Bürger*innen, die Nachrichten sehr bewusst konsumieren. Der Digital News Report des Oxford Reuters Institute zeigt, dass Qualitätsmedien, wie aktuality.sk (wo der 2018 ermordete slowakische Investigativreporter Ján Kuciak arbeitete), die tschechische Website Seznam Zpravy oder Onet in Polen viel beliebter sind als ihre Konkurrenz. Nur in Ungarn war eine von der Regierung vereinnahmte Website, Index.hu, das führende online Nachrichtenmedium – aber auch dort folgte kurz dahinter die unabhängige Website 24.hu. Dennoch ist die Existenz von diesen einfach zu erreichenden Informationsquellen keine Garantie dafür, dass die Mehrheit der Bürger*innen die Informationen bekommen, die sie brauchen, um informierte Entscheidungen über ihre politische Zukunft zu treffen.

Warum das so ist, kann man am besten am Beispiel Ungarns betrachten. Hier stehen fast alle Lokalmedien unter der Kontrolle der Regierung, seitdem ihre ehemaligen ausländischen Eigentümer*innen sich entschieden haben, ihre Portfolios zu verkaufen. Fast alle Fernsehsender sind regierungsfreundlich; Musikradios, die verpflichtet sind Nachrichten zu senden, nutzen dafür einfach die gratis zu Verfügung gestellten Nachrichtenblocks der regierungsnahen Presseagentur. Wenn Bürger*innen nicht gezielt nach kritischen Nachrichten suchen, konsumieren sie die kontrollierten, teilweise propagandistischen Narrative der Regierung.

Es ist für viele Bürger*innen kaum nachvollziehbar, dass Medien, die noch vor ein paar Jahren als vertraulich galten, durch einen Eigentumswechsel zu Regierungssprachrohren geworden sind. Leser*innen, die hauptsächlich wegen Sport, Autos, Filmen oder anderen weniger politischen Themen die Seiten von Index oder Origo besuchen, bekommen vielleicht gar nicht mit, dass sie seit einigen Jahren auch manipulative und irreführende Propagandageschichten zu lesen bekommen.

Die Geografie ist auch wichtig: 80% der ungarischen Bevölkerung lebt außerhalb der Hauptstadt. Wenn sie sich über lokale Angelegenheiten informieren möchten, dann bleibt für sie fast nur die Propaganda der lokalen kontrollierten Medien. Ähnliche Trends sind auch in Polen zu beobachten, wo Polska Press, der Herausgeber mehrerer Regionalzeitungen, von einer Staatsfirma aufgekauft wurde.

In so einem Fall, erleben wir wie die Idee der US-Ökonomen Richard Thaler und Cass Sunstein in einer umgekehrten Form funktionieren kann. In ihrem Buch Nudge argumentieren sie, dass Denkanstöße oder Voreinstellungen es ermöglichen können, dass Konsument*innen, oft unbemerkt, die bestmögliche Option für sich und andere aussuchen. Als Beispiel nennen sie Kantinen, wo Obst in Griffnähe ist, aber Schokolade eher weiter entfernt platziert wird, oder private Vorsorgepläne die automatisch eingezahlt werden, es sei denn, die Kund*in entscheidet sich bewusst dagegen. Aber dieser wohlwollende Paternalismus kann auch zu einer Art Kontrolle über die Massen führen, wenn die Öffentlichkeit von propagandistischen Defaults dominiert wird – denn kritische Medien müssen für Geld abonniert werden, oder man muss online bewusst nach ihnen suchen.

Was können wir dem entgegensetzen?

In diesem Text war hauptsächlich von Ungarn die Rede, da wir hier, anhand der Zweidrittelmehrheit der Regierung, den EU-weit weitestgehenden Abbau der Medienfreiheit beobachten. Aber die Risiken einer Vereinnahmung der Medienlandschaft sind überall in der Region greifbar. Selbst langjährige Demokratien sind nicht immun. Wenn machtbesessene Politiker*innen sehen, dass ein bisschen Autokratie innerhalb der EU ungestraft möglich ist, dann werden sie damit experimentieren, egal ob sie in Warschau, Berlin oder Rom sitzen. Initiativen wie der Europäische Rechtsakt zur Medienfreiheit oder der EU-Richtlinienentwurf zum Schutz von Journalist*innen vor Missbrauchsklagen (sogenannte SLAPPs) sind Schritte in die richtige Richtung. Aber es muss noch mehr getan werden, um die kritische Öffentlichkeit zu stärken – nach den zerstörerischen Tendenzen von Markt und Politik in den letzten zwei Jahrzehnten.

Zum Glück bekommt das Thema Media Capture immer mehr Aufmerksamkeit. Auch in Demokratien wird vermehrt darüber gesprochen, was man machen kann, um die Medien vor Media Capture zu schützen. Grenzüberschreitende Staatshilfen und philanthropische Förderungen können hier eine wichtige Rolle spielen – davon bräuchten wir viel mehr. Ebenso wie Regeln, die die Transparenz und Fairness dieser Subventionen gewährleisten. Wichtig ist auch die Offenheit gegenüber Diskussionen über neue Formate, neue Formen des Journalismus und innovative Geschäftsmodelle – denn auch die Medien müssen sich ändern. Seit einiger Zeit kommen sehr gute Ideen aus der Community der Journalist*innen – wir müssen allerdings besser zuhören und sie in ihren Vorhaben unterstützen.