Der Autor des Zwischenraums

Essay

Als Heinrich Böll im Jahr 1972 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, war der allgemeine Tenor, es handele sich um eine explizit politische Auszeichnung. Das Bild ist falsch und war es auch damals schon.

Foto von Heinrich Böll an seinem Schreibtisch

Als Heinrich Böll im Jahr 1972 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, war der allgemeine Tenor, nicht nur in der deutschen Rezeption, es handele sich um eine explizit politische Auszeichnung.  Böll war im Verlauf des gesamten Jahres 1972 Zielscheibe verschiedenster Angriffe konservativer Medien gewesen – von der Bild-Zeitung über Die Welt zur Berliner Morgenpost, von Christ und Welt über den Rheinischen Merkur bis zu Gerhard Löwenthals ZDF-Magazin –, Angriffe, die man verschwörungstheoretisch beinahe als gezielte gemeinsame Kampagne deuten könnte. In der Realität handelte es sich eher um Rückzugsgefechte, da sich die Stimmungslage spätestens seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zugunsten einer Öffnung und Liberalisierung der Gesellschaft verschoben hatte, die Willy Brandt 1969 auf die griffige Formel „Mehr Demokratie wagen“ brachte. Die Attacken auf Böll erfolgten aufgrund eines Spiegel-Artikels, der Anfang 1972 erschien. Es war die Zeit, als der Begriff des „Sympathisantentums“ (mit dem Terrorismus der RAF) entstand und später dann zum „Sympathisantensumpf“ avancierte. Da im November des bewegten Jahres 1972 zudem Bundestagswahlen anstanden, wurde die Entscheidung der Schwedischen Akademie für Böll von den üblichen Verdächtigen sogar als Eingriff in den Wahlkampf ausgelegt, allen voran von Franz Josef Strauß.

Wider den allgemeinen Tenor

So weit, so vorhersehbar. Jedoch verstand auch die Literaturkritik, die dieser Entscheidung weitgehend zustimmte, den Preis überwiegend als moralisch-politisch motiviert, während die literarischen Qualitäten Heinrich Bölls oft skeptisch beurteilt wurden.

Der allgemeine Tenor – schon lange vor dem Nobelpreis – lief darauf hinaus, dass der Autor zwar wichtige Themen und Stoffe aufgreife und auch durchaus lesenswerte Geschichten erzähle, dass er ein sehr engagierter Schriftsteller sei, formal jedoch nicht auf der Höhe der Zeit. Bei diesem Bild des guten Menschen von Köln, der seine Meriten gehabt, aber doch etwas betulich erzählt habe, ist es bis heute geblieben.

Das Bild ist falsch und war es auch damals schon. Seine eigentliche Nobelpreisrede bzw. -vorlesung hält Heinrich Böll erst am 2. Mai 1973 vor den Mitgliedern der Schwedischen Akademie. Sie trägt den Titel „Versuch über die Vernunft der Poesie“ und ist nicht weniger als eine Poetikvorlesung in Kurzform. Böll beginnt mit einem Bild aus dem Ingenieurswesen und verweist auf die Aussage vieler Fachleute, dass selbst bei einem so minutiös geplanten Vorgang wie dem Bau einer Brücke „ein paar Millimeter bis Zentimeter Unberechenbarkeit bleiben“. Um diese Unberechenbarkeit geht es, diese zwangsläufige Differenz zwischen Konzeption und Werk, diesen Übergang vom Bewussten (Geplanten) ins Unbewusste, durch den allein ein literarischer Text gelingen kann, außerdem noch um jenen Vorgang, bei dem „sich die Vorstellungskraft des Autors mit der des Lesers auf eine bisher unerklärte Weise verbindet, ein Gesamtvorgang, der nicht rekonstruierbar ist“. Deshalb findet der Schriftsteller auf die Frage, wie oder warum er dieses oder jenes geschrieben habe, nie eine befriedigende Antwort, selbst wenn er während der Arbeit ein begleitendes Arbeitsprotokoll führen sollte. „Es bleibt und wird bleiben ein wenn auch winziger Bezirk, in den die Vernunft unserer Provenienz nicht eindringt, weil sie auf die bisher nicht geklärte Vernunft der Poesie und der Vorstellungskraft stößt.“

Das klingt sehr wenig nach einem entschiedenen Vertreter der „engagierten Literatur“, so sehr sich Böll als öffentliche Person in allen möglichen Fragen engagiert hat. Entsprechend verteidigt er in seiner Nobelvorlesung Literatur als ganze und in allen ihren Formen: „... und es erscheint mir als beinahe selbstmörderisch, wenn wir immer noch und immer wieder die Teilung in engagierte Literatur und die andere überhaupt diskutieren.“

Erzählen mit doppeltem Boden

Die Arbeit des Schriftstellers beschäftigt sich mit dem nicht Berechenbaren, dem nicht Eindeutigen, seine Pflicht ist es, nach Böll, „in die Zwischenräume einzudringen.“ (Hochinteressant hier die Nähe zu Roland Barthes' bekannter Charakterisierung: „Schriftsteller = Mensch des Zwischenraums“.)

Das hat Böll in seinen Werken durchaus getan. Sechs Jahre vor dem Nobelpreis etwa erschien die Erzählung „Ende einer Dienstfahrt“, deren scheinbare Harmonie und Friedlichkeit einen doppelten Boden hat. Böll bedient sich dabei der Form des Idylls, jedoch nicht mit einer rückwärtsgewandten, reaktionären Tendenz, sondern als Folie utopischer Überlegungen. Auch „Billard um halb zehn“, erschienen im gepriesenen (west-)deutschen Literaturjahr 1959, ist mit seiner polyphonen Dreigenerationengeschichte, erzählt an einem Tag, formal ein sehr avancierter Roman, und nur auf den ersten Blick ist Grass' zeitgleiche „Blechtrommel“ mit ihrem barocken Habitus „moderner“. Was Bölls Erzählen ausmacht, ist seine Sinnlichkeit, seine dichte Beschreibung, weit entfernt aber von jeglichem Naturalismus: „Was wirklich ist, bestimmt der Autor“, hieß es in seiner Laudatio auf den Büchner-Preisträger Reiner Kunze 1977. Er bestimmt es nicht nur, er erschafft es erst. 

„Nicht aus bloßer Spielerei und nicht nur, um zu schockieren, haben Kunst und Literatur immer wieder ihre Formen gewandelt“, heißt es in Bölls Rede. Auch er selbst hat bis zum Schluss neue Formen gesucht. Der postum erschienene sogenannte Roman „Frauen vor Flusslandschaft“, dessen 12 Kapitel nur noch die Dialogform und das Selbstgespräch kennen, ist Ausdruck dessen, was Marcel Reich-Ranicki in seiner Rezension „eine Elegie mit bizarren Zügen, ein Requiem mit satirischen Akzenten“ genannt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass Böll bei der gründlichen Überarbeitung, die er noch vorhatte, auf die Dialoge verzichtet hätte und in dieser großen Elegie nur noch eine Stimme hätte sprechen lassen, wie Beckett in „Das letzte Band“, nur, dass diese Stimme eindeutig weiblich gewesen wäre.

Es hat also schon 1972 genug literarische Gründe gegeben, Heinrich Böll den Literaturnobelpreis zuzusprechen und die engagierte öffentliche Person und den guten Menschen von Köln – der er ohnehin nicht war – vorübergehend zu vergessen. Und es gibt hinreichend literarische Gründe, ihn weiterhin zu lesen.