Die Stimme erheben – aber zu welchem Preis?

Interview

Genderbasierte Desinformation im Internet bringt Frauen im öffentlichen Raum zum Schweigen. Die Desinformations- und Demokratisierungsexpertin Nina Jankowicz erklärt die Bedrohung und beschreibt mögliche Schutzmaßnahmen.

European Democracy Conference 2022: Illustration Nina Jankowicz

Nina Jankowicz im Gespräch mit Claudia Rothe und Georg McCutcheon

Georg McCutcheon (GM): Ihre Forschung konzentriert sich auf genderbasierte Desinformation. Für viele Leser*innen könnte das zunächst ein unklarer Begriff sein, den sie grob zwischen Online-Belästigung und genderbasierter Gewalt verordnen würden. Was sind die besonderen Merkmale der genderbasierten Desinformation?

Nina Jankowicz (NJ): Zunächst ist es meines Erachtens wichtig zu betonen, dass Desinformation im Allgemeinen bereits bestehende gesellschaftliche Spaltungen ausnutzt, um erfolgreich zu sein. Genderbasierte Desinformation habe ich ursprünglich im Zusammenhang mit der russischen Desinformation zu untersuchen begonnen, weil ich immer wieder Frauen in Ländern wie Georgien und der Ukraine traf, die von russischer Desinformation betroffen waren, welche unglaublich sexualisiert und genderbasiert war und zum Ziel hatte, Frauen von der Teilnahme am öffentlichen Leben abzuhalten.

Ich habe dieses Phänomen im Zusammenhang mit den US-Wahlen im Jahr 2020 mit dem Wilson Center in einem Bericht mit dem Titel Malign Creativity: How Gender, Sex, and Lies are Weaponized Against Women Online weiter erforscht. Bei unseren Recherchen fanden wir heraus, dass genderbasierte Desinformation eine Unterkategorie des Online-Missbrauchs oder der genderbasierten Online-Gewalt ist, die sich koordiniert falscher Narrative und bösartiger Absichten bedient, um Frauen zum Schweigen zu bringen und sie aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. In der Regel haben diese falschen Darstellungen eine genderbasierte oder geschlechtsbezogene Konnotation. Während der Präsidentschaftswahlen in den USA machte beispielsweise die Behauptung die Runde, Vizepräsidentin Kamala Harris habe sich "an die Spitze geschlafen". So etwas würde man niemals einem Mann zuschreiben.

Insgesamt zeigen unsere Untersuchungen drei übergeordnete Narrative der genderbasierten Desinformation: Sexualisierte Narrative, wie das, das ich gerade über die Vizepräsidentin Kamala Harris beschrieben habe, transphobe Narrative, die behaupten, dass Frauen an der Macht insgeheim transgender sind, und rassistische Narrative, die zum Beispiel behaupten, dass Kamala Harris nicht Schwarz ist. Insbesondere haben wir festgestellt, dass Frauen mit intersektionalen Identitäten, das heißt Frauen, die auch Personen of Color, queer oder behindert sind, weit mehr genderbasierten Beleidigungen und Desinformation ausgesetzt sind als ihre weißen, heterosexuellen und nicht-behinderten Kolleginnen.

GM: Warum werden Frauen überproportional häufig zur Zielscheibe von Desinformation und was ist die Motivation dahinter? Wer sind Ihrer Meinung nach die Hauptverantwortlichen für die systematische Verbreitung von genderbasierter Desinformation?

NJ: Natürlich sind Frauenfeindlichkeit und Online-Frauenfeindlichkeit nicht auf Russland, den Iran und China begrenzt. Das ist einer der Gründe für ihre Effektivität. Leider ist Frauenfeindlichkeit im öffentlichen Diskurs in vielen Ländern immer noch weit verbreitet. Ich glaube, es gibt eine tief sitzende Angst unter Männern, die glauben, dass Frauen in Räume eindringen, die sie lange Zeit selbst besetzt haben. Infolgedessen zielt die genderbasierte Desinformation oft darauf ab, Frauen zum Schweigen zu bringen und sie aus dem öffentlichen Leben herauszuhalten. Wenn wir uns genderbasierte Desinformationskampagnen ansehen, sehen wir dramatische Auswirkungen auf die politische Beteiligung von Frauen, und zwar quer durch alle Wähler*innen- und Altersgruppen. Als Kamala Harris den Amtseid als erste weibliche Vizepräsidentin der USA ablegte, war dies für viele Frauen in den USA zweifellos ein entscheidender Moment. Aber wenn man sich die Antworten auf ihre Tweets anschaut, wenn man sich jede Diskussion über sie im Internet anschaut, möchte man dem als Frau nicht ausgesetzt sein. Denn dann drängt sich die folgende Berechnung auf: Was passiert, wenn ich meine Stimme erhebe? Was passiert, wenn ich am öffentlichen Leben teilnehme? Werde ich dann auch denselben Narrativen ausgesetzt sein? Wir sehen also, dass die Auswirkungen der genderbasierten Desinformation über die gewaltvolle Wirkung auf die Zielperson des Missbrauchs hinausgehen, denn sie hat zudem beträchtliche Folgewirkungen auf die demokratische, politische Beteiligung von Frauen allgemein.

Diese Angriffe auf unsere Fruchtbarkeit oder unseren elterlichen Status, unser Alter, unser Aussehen und unsere mentale Gesundheit werden nicht in demselben Maße gegen Männer gerichtet, aber aus irgendeinem Grund ist es in Ordnung, Frauen auf diese Weise anzugreifen. Als ich schwanger war, machten Männer abfällige Bemerkungen über mein Gewicht und meine Akne - beides ist während der Schwangerschaft völlig normal. Ich glaube, das ist ein Reflex bei vielen Menschen. Selbst Journalist*innen und Politiker*innen neigen dazu, diese abwertenden Klischees zu bedienen, wenn sie selbst nicht davon betroffen sind. Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel von der Amtseinführung des US-Präsidenten 2020 anführen. Es war ein extrem kalter Tag und wir haben viel Zeit damit verbracht, über die Mäntel zu diskutieren, die die anwesenden Frauen getragen haben. Senator Bernie Sanders hingegen, erschien in seinem inzwischen berühmten Parka und Fäustlingen und sah etwas struppig aus. Der Moment wurde zu einem Meme und ihm kam viel Zuneigung entgegen. Wenn jedoch eine Frau in dieser Aufmachung auftauchen würde, würde sie verspottet werden, unabhängig von ihrer politischen Position.

Was die Täter angeht, so sehen wir, dass diese Kluft von ausländischen Akteur*innen genutzt wird, aber offen gesagt ist dies nichts, wovor legitimierte inländische Akteure zurückschrecken. In Deutschland sahen wir, wie Annalena Baerbock während der letzten Wahl durch genderbasierte Narrative ins Visier genommen wurde, und dieselbe Art von Narrativen wird auch bei den US-Zwischenwahlen 2022 verwendet. Wir beobachten dies nicht nur bei Online-Influencer*innen am Rande des politischen Spektrums, sondern wir sehen auch, dass unsere eigenen gewählten Politiker*innen diese Narrative reproduzieren. Präsident Donald Trump hat bekanntlich eine Menge abfälliger genderbasierter Ausdrücke verwendet, um Reporter*innen und politische Gegner*innen zu beschreiben. Wir sehen, dass Mitglieder des US-Kongresses dies auch heute noch tun. Ich selbst war auch schon Opfer solcher Angriffe von Kongressmitgliedern. Ich denke, dass dies ein sehr problematisches Beispiel ist, da es suggeriert, dass so etwas in der Politik in Ordnung ist.

Claudia Rothe (CR): Das Dossier, in dem dieses Interview erscheint, befasst sich mit der Presse- und Medienfreiheit in Europa. Wie würden Sie die besondere Bedrohung beschreiben, der Frauen und geschlechtliche Minderheiten im Journalismus und anderen Medienberufen ausgesetzt sind, insbesondere diejenigen, die mit intersektioneller Diskriminierung konfrontiert sind? Was muss getan werden, um sie vor diesen Bedrohungen zu schützen?

NJ: Journalist*innen stehen aufgrund ihres Berufs oft an vorderster Front dieser Konflikte. In Brasilien zum Beispiel hat, eine Studie von Reportern ohne Grenzen ergeben, dass acht von zehn weiblichen Journalistinnen ihre Berichterstattung geändert haben, um sich vor Angriffen zu schützen. Wichtig ist, dass es sich dabei nicht nur um Online-Angriffe handelt, sondern dass sie oft auch in die Offline-Welt übergreifen. In einem Beruf, in dem das Internet so wichtig ist, verschwimmt die Grenze zwischen online und offline schnell.

Frauen, die im Journalismus tätig sind, werden häufig "gedoxed", das heißt, es werden ihre privaten Daten, einschließlich ihrer Adresse und Telefonnummer, veröffentlicht. Journalist*innen sind zudem oft "Swatting" ausgesetzt. Dabei wird ein falscher Anruf bei der Polizei wegen einer angeblichen Bedrohung in ihrer Wohnung getätigt, woraufhin eine Spezialeinheit ausrückt um die Notsituation zu entschärfen. Dies stellt eine erste Gefahr für die Betroffenen dar. Außerdem werden im Internet Gewaltandrohungen ausgesprochen und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass man sich dann fragt, ob es sich lohnt, die eigene Arbeit fortzusetzen. Sei es, dass man über Dinge schreibt, die politisch unbequem sind oder die eine Oppositionspartei oder eine extremistische politische Gruppe verärgern. Es bringt einen dazu, darüber nachzudenken, wie man sich engagiert. Viele Frauen im öffentlichen Leben, insbesondere Journalistinnen, werden es sich daraufhin zweimal überlegen, ob sie eine bestimmte Geschichte weiterverfolgen wollen. Das ist eine Einschränkung der Pressefreiheit, und es ist eine Einschränkung der Redefreiheit.

Was Schutzmaßnahmen anbelangt, so werden die Redaktionen langsam etwas versierter, wenn es um die Sicherheit ihrer Reporter*innen geht – insbesondere von Frauen und denjenigen mit intersektionaler Identität, aber das reicht immer noch nicht aus. Im Vertrag aller Reporter*innen sollte festgelegt sein, dass die Redaktion Hilfestellung leisten muss, wenn sie aufgrund ihrer Berichterstattung Bedrohungen ausgesetzt sind, zum Beispiel bei gezwungenen Umzügen oder Bedarf an Hilfe bei der Betriebs- und IT-Sicherheit. Das sollte der Standard sein und das ist leider noch nicht der Fall. Vor allem der Schutz von freien Mitarbeitenden, die für die Medienbranche von entscheidender Bedeutung sind, aber häufig nicht die gleichen Rechte haben wie fest angestellte Reporter*innen, muss verbessert werden. Dies gilt für jede Institution, die eine Person beauftragt, sie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren.

CR: In Ihrem Buch stützen Sie sich unter anderem auf das Beispiel von Kamala Harris sowie auf Ihre eigenen Erfahrungen und geben Ratschläge, wie Frauen und geschlechtliche Minderheiten mit Online-Belästigung, Missbrauch und Desinformation umgehen sollten. Was sind die wichtigsten Schritte, die diese Gruppen – und wir alle – unternehmen können, um sich online zu schützen?

NJ: Das ist ein vielschichtiges Problem. Ich glaube nicht, dass die Lösungen, die ich in diesem Buch vorschlage, ein Allheilmittel sind, aber sie sind eine Möglichkeit, den eigenen Online-Raum zu schützen, damit man seine Stimme bewahren kann. Für mich ist das das Wichtigste. Das Schwierigste an den Schikanen, die ich erlebt habe, ist, dass ich, vor allem als ich noch in der Regierung war, nicht sprechen durfte. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Leuten, die mich angriffen, einfach ausgeliefert war. Das war einer der Hauptgründe dafür, dass ich die Regierung verlassen habe, weil sie mir nicht ermöglichten, mich zu verteidigen.

Das Wichtigste und Grundlegendste, was Sie tun können, um Ihr Privatleben und Ihre Informationen zu schützen, ist die Einrichtung einer Zwei-Faktor-Authentifizierung und komplexer Passwörter für alle Ihre Geräte und Konten.

Zweitens sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass Trolle im Internet oft wollen, dass Sie sich mit ihnen beschäftigen, weil dies ihre Botschaft verstärkt. Denken Sie daran, dass Sie die Möglichkeit haben, diese Personen zu blockieren oder stumm zu schalten. Auch wenn das Melden von Konten nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen führt, liefert es den Plattformen dennoch wichtige Informationen darüber, wer sich dort aufhält und diese Personen dort tun.

Drittens ist es wichtig, eine Community zu haben, auf die man sich verlassen kann. Als ich das erste Mal im Internet belästigt wurde, war ich schockiert, dass mir nahestehende Personen, darunter mein Mann und meine Mutter, das nicht verstanden. Einige meiner Freund*innen sagten: "Schalte einfach das Internet ab, sieh dir die Kommentare nicht an und lass dich nicht auf die Trolle ein." Aber wenn die eigene Forschung und Arbeit online stattfindet, ist das unglaublich schwierig. Zum Glück hatte ich eine Community von Schriftstellerinnen, über die ich in meinem Buch spreche, und viele von ihnen hatten das schon einmal durchgemacht. Das Internet ist ein furchtbarer Ort, aber man kann dort auch echte Freundschaften und Unterstützungsnetzwerke finden, sei es mit Kolleg*innen aus der eigenen Branche oder mit Menschen, deren Arbeit man bewundert. Werden Sie als Unbeteiligte*r im Internet aktiv: Wenn Sie jemanden sehen, der belästigt wird, weisen Sie auf dieses Verhalten hin – wenn Sie können, ohne den Troll zu verstärken – und blockieren Sie diese Person.

GM: Zum Schluss möchten wir die institutionelle Verantwortung in den Mittelpunkt rücken. Wie bewerten Sie die bestehenden legislativen Ansätze, um diese Probleme anzugehen, und haben Sie Empfehlungen, wie die genderbasierte Dimension der Desinformation in der Gesetzgebung angemessen berücksichtigt werden kann, insbesondere im Hinblick auf Plattformen sozialer Medien?

NJ: Zunächst einmal verfügen nur sehr wenige westliche Demokratien über funktionierende Gesetze gegen Hassrede, insbesondere im Zusammenhang mit dem Internet. Deutschland hat einige Versuche unternommen, doch ich würde sagen, dass sie zwar in die richtige Richtung gehen, aber noch nicht sehr weitreichend sind. Der australische eSafety-Beauftragte ist ein interessantes Beispiel. Dort gibt es strenge Gesetze für das Teilen von Bildern ohne Einverständnis, illegale Inhalte, Inhalte, die auf Kinder abzielen, und auch für Online-Belästigung und Verleumdung, wobei Verstöße mit hohen Geldstrafen geahndet werden. Entscheidend ist, dass der politische Wille zur Durchsetzung dieser Gesetze vorhanden zu sein scheint. Meiner Meinung nach ist es ein passender Vergleich, dass man eine einstweilige Verfügung gegen den Initiator erwirken kann, wenn man auf der Straße von Hunderten von Menschen umringt wird, die einen beschimpfen. Im Internet gibt es keinen solchen Schutz, auch wenn die Auswirkungen im wirklichen Leben spürbar sind.

Ich denke nicht, dass es unbedingt notwendig ist, genderbasierte Desinformation als eine besondere Untergruppe des umfassenderen Phänomens der geschlechterbezogenen Online-Gewalt zu behandeln. Wir müssen jedoch über das Thema sprechen, so wie wir auch über sexuelle Belästigung im Büro diskutiert haben. Ich würde es begrüßen, wenn jede neue Gesetzgebung echte Konsequenzen für diejenigen hätte, die an Online-Belästigungen und Hetzkampagnen beteiligt sind. Außerdem würde ich mir eine stärkere Aufsicht über die Plattformen wünschen, die in Moderator*innen für Inhalte investieren sollten, die über das nötige Fachwissen verfügen, um Richtlinien zu erstellen, die dann auch tatsächlich durchgesetzt werden.

Alle großen Plattformen haben bereits Richtlinien gegen Hassrede, die auch genderbasierte Hassreden berücksichtigen - sie werden nur nicht durchgesetzt. Teilweise ist der Grund dafür wahrscheinlich ein Mangel an politischem Willen oder die Tatsache, dass die emotionalen, hasserfüllten Inhalte, die wir online sehen, die Menschen dazu bringen, wiederzukommen. Somit werden sie zu einem Bestandteil des Geschäftsmodells. Ein Schlüsselelement ist jedoch auch ein Mangel an Fachwissen. In den von mir durchgeführten Fokusgruppen habe ich immer wieder gehört, dass Frauen und Frauen mit intersektionalen Identitäten Beschimpfungen gemeldet haben, die Plattformen aber oft nicht tätig wurden, weil die Menschen auf der anderen Seite des Bildschirms sie nicht als Beleidigung oder Hassrede erkannten. Ohne Kontext und ein Verständnis der aktuellen Meme-Kultur wird z.B. das Bild eines leeren Eierkartons, das Unfruchtbarkeit suggerieren soll, im Überprüfungsverfahren möglicherweise nicht als frauenfeindlicher Missbrauch erkannt.

CR und GM: Vielen Dank für das Interview!