Mythos Moor: Mehr als nur Moorleichen

Atlas

Seit Jahrtausenden dienen Moore als Kulisse für Schauermärchen. In gruseligen Sagen und Überlieferungen verschlingen sie Menschen und ganze Städte, beherbergen Geister, den Teufel und so manches andere übernatürliche Schauspiel.
 

Mooratlas Infografik: Entstehung eines Hochmoores
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In Europa sind Moore auch Relikte der Eiszeit. Sie konnten entstehen auf Standorten mit Wasserüberschuss durch schmelzende Gletscher

Hätten bereits unsere Vorfahren die Neigung gehabt, die Welt mit Informationstafeln und Warnhinweisen zu möblieren, so hätten an Mooren schon vor langer Zeit Schilder gestanden mit Aufschriften wie „Vorsicht! Hier befindet sich der Eingang zur Hölle!“ Oder: „Achtung! Hier treiben Gespenster ihr Unwesen!“ So manch einsame Wanderer nämlich, die sich ins Moor begaben, kehrten nicht mehr zurück. Was konnte daran anderes schuld sein als das Böse, das an diesen unwirtlichen Stellen wohnte? Kristallisiert haben sich die Sagen von solch gefährlichen Gängen übers nächtliche Moor in dem berühmten Gedicht Annette von Droste-Hülshoffs, deren „Knabe im Moor“ von all den schaurigen Geräuschen und Gestalten gehetzt wird, die der Volksglaube aufbietet: unselige Spinnerinnen, verdammte Margarethen und gespenstische Grabknechte. Allesamt verlorene Seelen, denen nur der Unschuldige mit Glück wieder entkommt.

Cover Mooratlas

Der Mooratlas 2023

Der Mooratlas beleuchtet in 19 Kapiteln die Folgen der Zerstörung dieser einzigartigen Lebensräume und zeigt die Chancen nasser Moore und ihrer Nutzung für die Gesellschaft auf, um alle Akteur*innen zum Handeln zu ermutigen – „Moor muss nass“!

Es existieren sogar Sagen von Mooren, die ganze Dörfer und Städte verschlungen haben. Manche haben einen historischen Kern, wie die des Dorfes im Roten Moor der Hessischen Rhön, das im Dreißigjährigen Krieg in der Tat zerstört wurde. In der Version der Sage allerdings wurde es von göttlicher Strafe ereilt, ebenso wie die sagenumwobene Stadt, die angeblich einst am Ufer des oberpfälzischen Röthelweiher lag und zur Strafe für den sündigen Lebenswandel ihrer Einwohner versank. In den Nächten sollen Stimmen aus dem Wasser zu hören sein; auch soll an besonders heiligen Tagen die Stadt so weit auftauchen, dass man in der Stunde vor Mitternacht die Kirchturmspitzen aus dem Weiher ragen sieht. Zwar kann seit über hundert Jahren kein Mensch mehr das Moorgebiet passieren, das einst an der Straße von Bayreuth nach Amberg lag und heute zum Truppenübungsplatz Grafenwöhr gehört. Gleichwohl ist die Sage bis heute lebendig geblieben.

Einen festen Platz in der Moormythologie haben die Irrlichter. Augenzeugen schildern sie mal als helle Flammen, mal als hüpfende blaue Flämmchen oder vergleichen sie schlicht mit Kerzenlicht. Diese Vielfalt mag dazu beigetragen haben, dass sie in der Sagenwelt auch unterschiedliche Rollen spielen: mal als Seelen Verstorbener, die zur Strafe für böse Taten ewig auf Erden wandeln müssen, dann als Seelen von Mord­opfern, die keine Ruhe finden. Oder als koboldhafte Wesen, die dem Menschen auf dem Weg durchs Moor entweder Geleit geben, ihn ins Verderben führen oder schlichtweg Schabernack mit ihm treiben. Heute lässt sich das Phänomen der Irrlichter damit erklären, dass dem Moor Faulgase entsteigen, die bei einsetzender Gärung biologischer Stoffe entstehen und sich beim Austritt aus dem Boden von selbst entzünden können.

Moore galten lange als Regionen, die nicht zu dieser Welt gehören. Ein Zwischenreich, weder eindeutig Wasser noch eindeutig Land. In ihnen wird die vielfältige Symbolik des Wassers offenbar, das für Leben, Erneuerung und Reinigung ebenso steht wie für Tod und Vernichtung. Dem Moorwasser wurden heilende und fruchtbarkeitsfördernde Kräfte zugesprochen; und bis heute genießen wir die Wirkung von Moorbädern. Einerseits. Andererseits waren Moore Orte der Strafe, wo frevlerische Taten oder ein frevelhafter Lebenswandel gesühnt wurden. Und dies geschah nicht nur in Sagen, sondern ganz real. Darauf weist die Existenz der sogenannten Moorleichen hin. Über Jahrhunderte hinweg fand man beim Torfstechen immer wieder Tote, die den Zeitgenossen wegen ihres gut konservierten Zustands nicht geheuer waren. Heute weiß man, dass der Mangel an Sauerstoff und das extrem saure Milieu im Moorboden die Verwesung aufhält. Dennoch ist nicht zweifelsfrei geklärt, was es mit den Moorleichen auf sich hat. An manchen wurde eine sogenannte Übertötung festgestellt, wie beim Lindow-Mann aus England, der durch Axtschläge auf den Schädel, Messerstiche in den Brustkorb sowie Erdrosselung zu Tode kam. Die Hypothese: Im Moor wurden entweder Verbrecher hingerichtet oder Menschenopfer dargebracht. Es gibt aber auch Leichen, die nach einem natürlichen Tod im Moor bestattet wurden. Hier wird vermutet, dass das Moor als Ort für Notbestattungen, als letzte Ruhestätte für sozial ausgegrenzte Menschen diente.

Des Ersten Tod, des Zweiten Not, des Dritten Brot – so formulierte es der Volksmund. Er fasst die Erfahrung der drei Generationen dauernden Bemühungen zusammen, das Teufelsmoor bei Osterholz in Bauernland zu verwandeln, ihm Anbauflächen abzuringen oder gewinnbringend an seinen Rändern Torf zu stechen, einst ein wichtiger Brennstoff wie Braunkohle. Hinzufügen könnte man diesem Sinnspruch: des Vierten Bild. Denn die Malerinnen und Maler der Künstlerkolonie Worpswede haben später mit Gemälden der kargen Landschaft und des armen Bauernlebens dieser Region zu einer eigenen Bildsprache gefunden, einem modernen, realistischen und dennoch sagenhaften Mythos Moor.