Von einer, die Rechtsgeschichte schreibt

Rede

Die Juristin Joumana Seif hat mit ihrer Arbeit einen entscheidenden Anteil daran, dass sexualisierte Gewalt als eigener Straftatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt ist. Sagt die Juryvorsitzende des Anne-Klein-Frauenpreises Dr. Imme Scholz

Imme Scholz, Vorstand Böll-Stiftung vor einem hellen Hintergrund blickt in die Kamera
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Imme Scholz, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Als ich mich mit Joumana Seifs Leben und Wirken beschäftigt habe, musste ich mir auch die langjährigen politischen Kämpfe und den Krieg in Syrien wieder vor Augen führen. Zwölf Jahre ist es her, seit Frauen und Männer in Syrien begannen, auf Syriens Straßen Würde, Gerechtigkeit und Freiheit einzufordern. Die gewaltsame Reaktion des Regimes hat seither über eine halben Million Menschen das Leben gekostet. 130.000 sind Opfer erzwungenen Verschwindenlassens geworden. Fast jede Familie in Syrien vermisst eine oder mehrere geliebte Personen.

Fast jede syrische Familie vermisst geliebte Menschen

Mehr als die Hälfte aller Syrer*innen mussten aus ihren Heimatorten fliehen. Das furchtbare Erdbeben am 6. Februar hat das Leid der ohnehin schon am schwersten Getroffenen noch einmal potenziert. Mir ist bewusst, dass vielen von Ihnen heute nicht zum Feiern zu Mute ist. Wir sind heute auch in Gedanken bei den Menschen und unseren Partner*innen in der Region und sprechen allen, die Angehörige und Freund*innen verloren haben, unser aufrichtiges Beileid aus. Trotz all dieses Schmerzes brauchen wir Hoffnung – und genau dafür steht unsere diesjährige Preisträgerin Joumana Seif mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Arbeit für die Rechte von Frauen, für die Selbstbestimmung und Demokratie, gegen die Gewaltherrschaft, die auch ihre Familie trifft. Trotz oder gerade wegen der politisch begründeten Gewalt des Regimes gegen ihre Familie engagiert sie sich selbst während des Damaszener Frühlings für Reformen. Sie studiert Jura, um sich für die Menschenrechte einzusetzen. Die Morddrohungen gegen sie selbst und ihre Familie zwingen sie in den Jahren der Aufstände gegen Bashir al-Assad ins Exil, seit 2013 lebt sie in Berlin. Aber liebe Joumana, du hast dich trotz dieser schrecklichen Erfahrungen und des Lebens im Exil nicht einschüchtern lassen. Dein Mut und dein Einsatz für Menschenrechte und vor allem die Rechte von Frauen sind ungebrochen. Zusammen mit anderen Aktivist*innen gründet Joumana in Berlin das „Syrian Women’s Network“, die „Syrian Feminist Lobby“ und das „Syrian Women’s Political Movement“. Organisationen, die sich in der einen oder anderen Form für ein gerechteres Syrien von Morgen einsetzen. Ein Syrien, in dem Frauen in politische Entscheidungen einbezogen werden, in dem für alle Menschen die gleichen Rechte gelten.

Frauen sollten an allen politischen Prozessen beteiligt werden

Denn die Arabische Revolution und ihre Erfahrungen mit der syrischen Opposition haben Joumana zur Feministin gemacht. Sie ist verwundert: Alles soll anders werden, Syrien soll neu aufgebaut werden, aber die Frauen sitzen nicht mit am Tisch? Das muss sich ändern! Denn ohne die Frauen können Frieden, Gerechtigkeit und ein gutes Leben nicht erreicht werden. Joumana kämpft dafür, dass Frauen an allen politischen Prozessen beteiligt werden und dass sie ihren festen Platz in einem neuen Syrien haben. In einem friedlichen und gerechten Syrien, für Männer, für Frauen, für alle Menschen.

Schon dafür hätte Joumana eine Auszeichnung verdient. Für uns als Jury hat jedoch noch etwas anderes den Ausschlag gegeben, Joumana den diesjährigen Anne-Klein-Frauenpreis zu verleihen: ihr Einsatz für die juristische Bekämpfung von genderbasierter sexualisierter Gewalt als Instrument der systematischen politischen Unterdrückung und Einschüchterung in Syrien und – über die Anwendung des Weltrechtsprinzips –, auch in anderen Ländern, wenn entsprechende Taten und Verbrechen ebenfalls hier vor Gericht kommen.

Sexualisierte Gewalt wird weltweit in Konflikten und Kriegen gezielt zur ultimativen Demütigung eingesetzt. Das führt zu nicht wiedergutzumachenden Verletzungen, zur Traumatisierung der Überlebenden, die oft auch gesellschaftlich stigmatisiert und diskriminiert werden. Außenministerin Annalena Baerbock hat gestern ihre Leitlinien für eine feministische Außenpolitik vorgestellt. Ein wichtiges Motiv dafür war dieser immense Schaden, den sexualisierte Gewalt anrichtet.

Als Juristin beim Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte ECCHR spielte Joumana eine wichtige Rolle im so genannten Al-Khatib-Verfahren vor dem Oberlandesgericht Koblenz von 2020 bis 2022. Dies war der weltweit erste Prozess gegen Staatsfolter in Syrien. Joumana begleitet die Folterüberlebenden, die vor Gericht zu Folter und sexualisierter Gewalt im Al-Khatib-Gefängnis des Geheimdienstes aussagen.

Erlittenes Unrecht muss bezeugt und geahndet werden

In ihrem Bericht „Words against silence“ stellt Joumana dar, wie zentral die Anwendung sexueller Gewalt durch syrische Sicherheitskräfte gegenüber Frauen ist, die aus politischen Gründen inhaftiert werden.  Dieser Text besteht zu einem Großteil aus Zitaten der Frauen, die Joumana begleitet hat.  Diese Zitate zeigen einen wesentlichen Unterschied bei der Inhaftierung und Folter von Frauen und Männern: Frauen werden von Anfang an wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit und ihrer untergeordneten, rechtlosen Stellung gedemütigt und bedroht. Alle Frauen erwarten, vergewaltigt zu werden, sind aber auch weiteren sexualisierten Formen der Erniedrigung ausgesetzt. Wie ein Zeuge sagt: „Männer verlassen das Gefängnis als Helden, Frauen verlassen es gedemütigt und voller Scham“. 

Umso mehr Respekt habe ich vor all den Frauen, die den Mut und die Kraft hatten, sich diesem Prozess zu stellen und die es Joumana erlaubt haben, ihre Zeugenaussagen aufzunehmen – ein sehr schmerzhafter Prozess – und in dem Bericht zu veröffentlichen. Die Stiftung hat den ECCHR in diesem Gerichtsverfahren unterstützt. Seit vielen Jahren stehen wir an der Seite der syrischen Zivilgesellschaft und wir werden weiterhin unsere grünen Netzwerke nutzen, um ihren Stimmen Gehör zu verschaffen, in der deutschen Öffentlichkeit und in der deutschen Politik. Wir werden die Bestrebungen unserer syrischen Partnerorganisationen nach Strafverfolgung und Gerechtigkeit, wie es Joumana in ihrer Arbeit tut, auch weiterhin unterstützen. Im Al-Khatib-Verfahren wird das Urteil im Januar 2022 gesprochen. Der Angeklagte wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Sexualisierte Gewalt wurde dabei erstmals nicht als Einzelfall, sondern als systematisches Verbrechen gegen die syrische Zivilbevölkerung und damit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft.

Sexualisierte Gewalt ist ein globales Phänomen

Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres zählte 2022 weltweit insgesamt 49 Konfliktparteien, die sexualisierte Gewalt ausüben. Das bedeutet, dass Vergewaltigung, Zwangsprostitution, erzwungene Abtreibungen und Zwangssterilisationen in vielen Konflikten systematisch als Kriegswaffe eingesetzt werden. Die Opfer sind fast immer weiblich, aber auch queere Menschen, nicht-binäre und trans Personen sowie Männer und Jungen sind dieser Gewalt ausgesetzt. 2022 erschien ein Bericht zur systematischen Anwendung sexualisierter Gewalt während des 30 Jahre zurückliegenden libanesischen Bürgerkrieges. Da wurde vielen erst klar: Diese Form der Gewalt war in keinem einzigen der Regalmeter füllenden Standardwerke über den Bürgerkrieg überhaupt erwähnt worden – geschweige denn, geahndet. Ob Ex-Jugoslawien, Rwanda, Kolumbien, Iran, Myanmar oder die Ukraine: sexualisierte Gewalt ist ein globales Phänomen. Und wenn Frauen rechtlos sind, wenn ihnen Bildung und Gesundheitsversorgung vorenthalten werden, wie in Afghanistan, sind sie Männern ausgeliefert. Vor diesem Hintergrund können wir Joumanas Leistung, sexualisierte Gewalt als eigenen Straftatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewerten, gar nicht hoch genug preisen: Damit hat Joumana Rechtsgeschichte geschrieben.

Der Anne-Klein-Frauenpreis soll ermutigen, danken und solidarisch sein

Ich habe zu Beginn gesagt, dass wir Hoffnung brauchen. Auf Frieden, auf eine gerechtere Zukunft. 2018 haben wir Mayerlis Angarita und Jineth Bedoya aus Kolumbien mit dem Anne-Klein-Frauenpreis ausgezeichnet, weil sie Frauen, die sexualisierter Gewalt durch den bewaffneten Konflikt im Land ausgesetzt waren, eine Stimme gegeben haben. Ich habe ihre Reden nachgelesen und gespürt, wie wichtig es für den gesellschaftlichen Wiederaufbau ist, dass diese gedemütigten Frauen wieder Kraft gewonnen haben, indem sie sprechen, gehört werden, Recht erfahren und sich einbringen, in Friedensverhandlungen und Reform. Der Wahlsieg von Gustavo Petro und Francia Marquez wurde auch durch die Ermächtigung dieser Frauen ermöglicht. Auf diese Perspektive hoffen wir auch für Syrien, für Ägypten, für Iran, für die Ukraine nach dem Ende des Krieges, für Belarus und die russische Gesellschaft. Und dafür steht für mich Joumana. Für die Kraft, nicht aufzugeben, weiter zu kämpfen und Gerechtigkeit einzufordern. Gerechtigkeit für Lama, Sara, Sawsan und Hala. Für die Menschen, deren Zeugnis wir im Bericht „Words against Silence“ nachlesen können und die durch die Schergen des syrischen Regimes leiden mussten. Mit dieser Hoffnung und mit dieser Kraft wird eines Tages ein neues Syrien aufgebaut werden. Ein friedlicheres und ein gerechteres. Für Männer, für Frauen und alle Menschen.

Liebe Freundinnen und Freunde, ich möchte Euch heute einladen, mit mir eine Frau zu ehren, die sich für Gerechtigkeit einsetzt, die kämpft, ja: die aktiv eine andere Zukunft gestaltet – für Syrien, aber auch für Frauen auf der ganzen Welt. Der Anne-Klein-Frauenpreis ist ein Preis, der ermutigen, danken und solidarisch sein will. Die Mitglieder der Jury des Anne-Klein-Frauenpreises, die Heinrich-Böll-Stiftung und ich freuen uns, dass wir heute deine Arbeit würdigen und solidarisch an deiner Seite stehen können. Herzlichen Glückwunsch, liebe Joumana!

Und hiermit übergebe ich an die heutige Laudatorin, Lotte Leicht. Lotte ist Juristin, von 1994 bis 2021 war sie EU-Direktorin von Human Rights Watch und ist aktuell Vorstandsvorsitzende von ECCHR. Als wir Lotte angefragt haben, hat sie sofort zugesagt und ich freue mich, dass sie sozusagen von Juristin zu Juristin noch einmal in ganz besonderer Weite Joumanas Arbeit würdigen kann.
Lotte, du hast das Wort.