Diskutieren, gestalten, wirksam sein

Wie dialogorientierte Bürger­beteiligung demokratisches Engagement und Kommunal­politik stärken kann. 

Wie kann in Zeiten des Rechtspopulismus, von medialen Echokammern und abnehmender Bedeutung verbindender Institutionen wie Kirchen oder Gewerkschaften, Parteien und Vereinen eine am Gemeinwohl und demokratischen Prinzipien orientierte Verbindung zwischen den Bürger*innen entstehen? Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst-Wolfgang Böckenförde, beschreibt eindrücklich, dass Demokratien von Voraussetzungen abhängen, die sie selbst nicht verlässlich herstellen können: «Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.»

In den vergangenen Jahren haben vor allem Krisen wie der Klimawandel, die Corona-Pandemie oder der Angriffskrieg gegen die Ukraine zumindest für eine gewisse Zeit gesellschaftlich verbindend gewirkt. Bei all diesen Themen gibt es jedoch eine wachsende – mitunter sogar radikale – Ablehnung der Maßnahmen, die vonseiten des Staates ergriffen beziehungsweise nicht ergriffen werden, wie es etwa Stefan Goertz vor Kurzem in seiner Analyse zu den «Querdenkern» beschrieben hat.

Erfahrungen der Selbstwirksamkeit in politischen Prozessen ermöglichen

Unterschiedliche Positionen stellen an sich kein Problem, sondern eine zentrale Stärke von Demokratien dar, sofern es Begegnungsräume gibt, in denen Menschen friedlich und gleichberechtigt über den Umgang mit wichtigen Fragen ihres Zusammenlebens diskutieren können. Doch viele Menschen haben heute den Eindruck, dass diese Räume unerreichbar weit von ihnen entfernt sind. Sie finden sich und ihre Lebensrealitäten in den etablierten Gremien der repräsentativen Demokratie nicht wieder – ein fatales Symptom der vielbeschriebenen Krise der Demokratie.

Beteiligungsformate wie Bürgerräte zielen darauf ab, Diskursräume als sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie (wieder) einzurichten. Mit dem Ziel, das Erfahrungswissen der Bürger*innen in beratender Form für politische Entscheidungen nutzbar zu machen – und zugleich den involvierten Bürger*innen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Zwischenzeitlich gibt es im ganzen Land auf allen politischen Ebenen viele Beispiele, die gelungen sind und die als Inspiration dienen können.

Auf kommunaler Ebene zählt hierzu etwa das Modellprojekt LOSLAND (www.losland.org). Im Rahmen des Projektes hatten zehn Kommunen in ganz Deutschland die Möglichkeit, einen «Zukunftsrat» zu erproben und Fragen rund um die Gestaltung einer «enkeltauglichen» Zukunft der Kommune zu entwickeln. Jede  Kommune stellte eine Steuerungsgruppe zusammen, deren Aufgabe es war, die Fragestellung und das Vorgehen zu planen. Anschließend wurden für den Zukunftsrat etwa 20 Bürger*innen aus dem Melderegister gelost. Begleitet von einem professionellen Moderationsteam entwickelten sie Empfehlungen zur Gestaltung einer «enkeltauglichen» Zukunft.

Diese wurden anschließend den Bürgermeister*innen übergeben und alle Bürger*innen waren eingeladen, die Empfehlungen zu diskutieren und weiterzuentwickeln. In einem weiteren Schritt plante die Steuerungsgruppe mit Sprecher*innen des Zukunftsrates das weitere Vorgehen. LOSLAND zeigt, dass dieses Grundprinzip für unterschiedlichste Kommunen funktioniert. Egal, ob große oder kleine, eher konservativ oder progressiv geführte Kommunen: Weil Formen der dialogorientierten Demokratie ganz nach Bedarf an die Fragestellung und den Kontext angepasst werden können, können sie überall einen Mehrwert erzeugen und die Demokratie vor Ort stärken.

LOSLAND: Mehrere Menschen blicken nachdenklich auf irgendwas
Im Rahmen des Modellprojektes LOSLAND haben zehn Kommunen in ganz Deutschland einen "Zukunftsrat" ins Leben gerufen, um Bürger*innen Vorschläge für eine "enkeltaugliche Zukunft" entwickeln zu lassen.

Auf Bundesebene wurde 2021 unter anderem der Bürgerrat «Deutschlands Rolle in der Welt» eingerichtet. Der  Ältestenrat des Bundestages einigte sich fraktionsübergreifend auf die Fragen, mit denen er sich beschäftigen sollte. Wegen der Covid-19-Pandemie fand er digital statt. Im Ergebnis hielt er Leitsätze für die deutsche Außenpolitik fest, etwa, dass man «faire Partnerin und Vermittlerin» sein möchte. Trotz des komplexen und eher «bürgerfernen» Themas ist es in diesem Bürgerrat besonders gut gelungen, einen freien und gleichwertigen Austausch herzustellen, Wissen zu vermitteln und somit Einflüsse von Eliten zu begrenzen. Unter anderem gaben die beteiligten Schüler*innen sowie Menschen mit Hauptschulabschluss bei der Evaluation vom Institute For Advanced Sustainability Studies Potsdam und Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung Wuppertal häufiger als andere Gruppen an, dass sie den Eindruck hatten, ihre Argumente hätten Gewicht.

Beteiligung kann aber auch deutlich niedrigschwelligere Prozesse verbessern und Selbstwirksamkeit fördern, wie es etwa die Ethnograph*innen und Sozialwissenschaftler*innen Victoria Luh, Julia Gabler und Jeremias Herberg in ihren Workshops zum Strukturwandel mit Auszubildenden der Lausitzer Energie AG beschreiben. Die jungen Menschen lernten, ihre Rolle und ihre Handlungsmöglichkeiten im Lausitzer Strukturwandel besser zu verstehen und zu erkennen. Sie entwickelten Strategien, sich öffentlich einzubringen: Dazu zählten eine Befragung anderer Auszubildender sowie Empfehlungen für die Zukunft des eigenen Unternehmens sowie für die Kommunal- und Landespolitik.

Mehr Übungsräume, um eine nachhaltige Kooperationskultur zu etablieren

Teilnehmende der LOSLAND-Kommunen, der bundesweiten Bürgerräte, die Auszubildenden, aber auch Verwaltungsmitarbeitende und Bürgermeister*innen betonen im Nachgang, dass es mit einmaligen Veranstaltungen und Modellprojekten allerdings nicht getan ist. Sie fordern mehr Übungs- und Erprobungsräume und ein planvolles Vorgehen, um eine demokratische Kooperationskultur zwischen Bürger*innen, Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Akteuren nachhaltig zu etablieren.

Die LOSLAND Bürgermeisterin schreibt auf einem Blatt Papier
Die Zukunftsräte des LOSLAND-Projektes übergaben ihre Ideen schließlich den Bürgermeister*innen und Stadt- und Gemeinderät*innen. Ein zentraler Wunsch: Die Bürgerschaft mehr an lokalen Entscheidungen zu beteiligen.

Durch die aktive Mitwirkung an demokratischen Prozessen können sich positive Verbindungen zwischen Bürger*innen sowie zwischen ihnen und repräsentativen Institutionen entwickeln. Teilnehmende berichten regelmäßig, dass sie Verständnis dafür entwickeln konnten, wie unterschiedlich Menschen auf bestimmte Problemlagen blicken, zum Beispiel auf die Lockdowns während der Corona-Zeit. Wenn Bürger*innen selbst in der Verantwortung stehen, wächst auch der Wunsch, sich umfangreich und differenziert zu informieren. Bei gelungenen Prozessen steht am Schluss oft eine politische Handlungsempfehlung, die als Ratschlag den Auftraggebenden des Beteiligungsprozesses zurückgespielt wird oder die festhält,  dass es zu einem Thema sehr unterschiedliche Positionen gibt. Dies wirkt demokratisch motivierend, denn es zeigt, dass es dennoch möglich ist, eine gemeinwohlorientierte Übereinkunft zu finden. Ergebnisse sind dabei keineswegs lediglich kleinste gemeinsame Nenner, sondern können auch jenseits der eigentlichen Fragestellung wichtige Erkenntnisse liefern. So empfahlen fast alle Zukunftsräte aus dem LOSLAND-Projekt ihren Bürgermeister*innen und Stadt- beziehungsweise Gemeinderät*innen, die Kommunikation zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft zu verbessern und die Letztere mehr an lokalen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Förderprogramme ausweiten, um Kommunen mehr Spielraum für Projekte zu geben Damit Beteiligung zu einem normalen Teil demokratischer (Alltags-)Kultur wird, müssen politische Entscheidungsträger*innen die Erfahrung machen können, dass sie dadurch ihre Handlungsmöglichkeiten ausweiten können. Im LOSLAND-Projekt wurde allerdings auch deutlich, wie sehr die kommunalen Verwaltungen bereits an der Belastungsgrenze arbeiten. Zusätzliche Projekte sind kaum zu stemmen – weder finanziell noch personell. Die wenigsten sind in der Lage, schnell neue Stellen oder Zuständigkeiten einzurichten und vielversprechende neue Projekte und Ideen mit den notwendigen Ressourcen auszustatten. Hier kommt die Landes- und Bundesebene ins Spiel. Förderprogramme müssen ausgeweitet, längerfristig Gelder bereitgestellt und zudem muss das Vergaberecht vereinfacht werden. Aber auch mit nichtmonitären Ressourcen könnten die Länder und der Bund unterstützen: zum Beispiel durch kostenlose Partizipationsberatung für Kommunen oder Angebote zum Ausbau der Beteiligungskompetenzen vor Ort.

Beteiligung kann selbstverständlich nicht allein die Probleme liberaler Demokratien lösen, aber sie kann ein wichtiger Baustein sein, damit sich Menschen mit Freude und Engagement für ihr Gemeinwesen einbringen. Doch das funktioniert nur dann zuverlässig und in der Breite, wenn die Rahmenbedingungen es den Kommunen leichtmachen, vor Ort gute Beteiligungsprozesse umzusetzen.


Dr. David Löw Beer leitet die Gruppe Regionale Nachhaltigkeitstransformationen und ist Sprecher des Bereichs Demokratie & Nachhaltigkeit am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) des Helmholtz-Zentrums Potsdam, vormals IASS Potsdam. 

Daniel Oppold ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler und arbeitet seit 2016 am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam im Forschungsprojekt «Ko-Kreation in der demokratischer Praxis». 

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