"Mit Realismus allein kommt man nicht weiter"

Interview

Bei den Entwicklungszielen der Vereinten Nationen hängt die Staatengemeinschaft hinterher. Wie man sie dennoch erreichen könnte, erklärt die Soziologin Imme Scholz.

Denkmal - Vereinte Nationen, Völkerbundpalast in Genf

Interview: Christiane Grefe

ZEIT ONLINE: Imme Scholz, worüber denken Sie gerade nach?

Imme Scholz: Ich denke über die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen nach, denn mich beschäftigt sehr, wie wir diese doch noch erreichen oder zumindest massiv voranbringen können. Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 2015 beschlossen worden, um das weltweite Wohlstandsversprechen bis zum Jahr 2030 sozial auszugleichen und ökologisch zu zähmen. Das ist angesichts der dramatischen globalen Krisen dringlicher denn je! Wir müssen unumkehrbare Entwicklungen beim Klimawandel abwenden, damit Armut, Konflikte und Kriege dauerhaft bewältigt werden können.

Das klingt besorgt. Der SDG-Marathon ist schon auf halber Strecke angekommen, als Ko-Vorsitzende einer unabhängigen internationalen Wissenschaftlergruppe sollen Sie die Umsetzung der Ziele im Auftrag der UN bewerten. Fällt die Halbzeitbilanz denn so miserabel aus?

Es sieht nicht gut aus, vor allem wegen der Pandemie und der höheren Nahrungsmittelpreise. Das beginnt schon bei Ziel Nummer eins, das "keine Armut" lautet. Dem sind wir nicht näher gekommen, sondern wir müssen sogar bis zu 95 Millionen mehr Menschen in Armut verzeichnen. Eine solche Zunahme gab es nicht einmal nach der Finanz- und Nahrungspreiskrise von 2009! Bei den SDGs zu Hunger, Schulbildung und Gesundheit hat sich die Lage ebenfalls verschlechtert. Die Pandemie und Kriege, vor allem jener in der Ukraine, ziehen öffentliche und private Mittel und die politische Aufmerksamkeit auf sich. In der Folge hinken wir auch bei der Bewältigung der Klimakrise, dem Umbau der Energiesysteme und vielen anderen Feldern der Umweltpolitik hinterher. Ärmere Länder mussten sich verschulden, einige stehen vor dem Bankrott. Das alles ist eine enorme Herausforderung.

Sind die Nachhaltigkeitsziele also noch erfolgloser als ihre Vorgänger, die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs), die von 2000 bis 2015 galten?

Viele Millenniumsziele wurden ja am Ende doch noch erreicht. Zwischen beiden UN-Versprechen gibt es aber einen großen Unterschied: Bei den MDGs sollten die reichen Gebernationen die ärmeren Länder mithilfe von Geldtransfers voranbringen. Dafür gelang es, politische Power zu mobilisieren. Nichtregierungsorganisationen und Künstler organisierten weltweit Kampagnen, die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit stiegen wieder an. Das war klassische Entwicklungspolitik. Heute müssen wir mehrere globale Krisen bewältigen, die miteinander verknüpft sind und Veränderungen in allen Ländern der Welt erfordern. Die reichen Länder haben jetzt beides gleichzeitig zu schultern: die Transformation im eigenen Land und die Unterstützung für andere dabei.

Dass sich in diesem Sinne auch die USA oder Deutschland jetzt eigentlich als Entwicklungsländer verstehen müssten, hat sich noch kaum herumgesprochen. Ist auch das ein Grund, weshalb es bei den SDGs mehr Rückschritte als Erfolge gibt?  

Hierzulande werden die Nachhaltigkeitsziele tatsächlich immer noch entwicklungspolitisch verstanden. Das greift viel zu kurz. Wir haben zwar eine Beauftragte im Bundeskanzleramt und auch eine deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, aber die kennen noch zu wenige. Auf EU-Ebene finden sich viele SDGs im Green Deal wieder, aber auch hier ohne ausdrücklichen Bezug darauf. Das ist ein kommunikatives und auch ein politisches Problem.

Die 17 Ziele sind ja auch deshalb schwer zu vermitteln, weil jedes einzelne – zum Beispiel Klima, Hunger, Wasser, gute Arbeit, nachhaltige Städte – schon seine eigenen Institutionen und Gipfeltreffen hat. Im Gegensatz zu den Abkommen über Klimaschutz und Biodiversität sind die SDGs nicht einmal verbindlich. Worin liegt überhaupt ihr Mehrwert?

Wenn wir die multiplen Krisen noch bewältigen wollen, dann sind diese 17 Ziele für Nachhaltigkeit sogar unsere Überlebensausstattung. So hat es mal ein Kollege in unserer Wissenschaftlergruppe formuliert. Sie zeichnen ein positives Zukunftsbild, und das haben alle Regierungen der Welt gemeinsam erarbeitet. Hier kann man also immer noch von einer wirklichen Staatengemeinschaft sprechen, trotz geopolitischer Konflikte und neuer Nationalismen. Deshalb darf man eine solche Errungenschaft des Multilateralismus nicht einfach herunterreden oder gar beiseitelegen.

Aber was bringen die SDGs konkret?

Etwas sehr Wichtiges: Sie weisen auf die Wechselwirkungen zwischen den Themen hin, die Fortschritt so schwer machen, und fordern zur Kooperation auf. Sie schaffen zudem eine Klammer zwischen Politikfeldern, für die es schon verbindliche Abkommen gibt, und anderen, wo sie noch fehlen. Besonders ärmere Länder können sich auf den universellen SDG-Katalog berufen und argumentieren: Wir können den klimaschutzgerechten Umbau bei uns nur leisten, wenn ihr Reichen uns unterstützt und dadurch mehr Gerechtigkeit schafft.

Andere Experten bemängeln allerdings, dass genau dieses Denken in Zusammenhängen fehle. Stattdessen förderten nicht weniger als 17 Haupt- und 169 Unterziele eher Widersprüche, Verwirrung und politische Rosinenpickerei. Jede Regierung suche sich aus, wo sie ohnehin schon ganz gut ist. Haben diese Kritiker recht?

Diese Schwachstelle war von Anfang an klar. Deshalb steht in der Agenda auch, dass die Ziele "unteilbar" sind. Schon die Autoren des letzten Weltnachhaltigkeitsberichts haben deshalb 2019 gefordert, dass Regierungen solchen Schlüsselpolitiken Vorrang geben, die Veränderungen in mehreren Themenfeldern zugleich hebeln können.

Ihr Bericht fordert "Interventionen mit systemischen transformativen Wirkungen über mehrere SDGs hinweg". Das klingt sehr akademisch, was heißt es konkret?

Wenn es zum Beispiel bei Ziel 5 gelingt, die rechtliche und ökonomische Stellung der Frauen zu verbessern, dann bringt das zugleich die Ziele 1, 3 und 4 zur Armutsbekämpfung, Gesundheitsvorsorge und besseren Bildung voran. Wer sich die Ziele 13 und 16, Klimaschutz und Konfliktprävention, vornimmt, der tut zugleich etwas gegen den Hunger. Das fordert viel Kooperation, aber nur so können wir die Umsetzungsgeschwindigkeit bei den SDGs erhöhen. Leider ist das gerade in Deutschland, wo man die Autonomie der Ministerien als besonders hohes Gut bewertet, eine riesige Herausforderung. Das Silodenken zu überwinden ist nicht leicht, aber wirklich nötig.

Wie kann man die Grenzen zwischen Ministerien durchlässiger machen?

Für die Nachhaltigkeitsstrategie hat die Regierung verabredet, dass Fachleute aus mehreren Ministerien in Thementeams zusammenarbeiten werden. In unserem Bericht rufen wir die Regierungen außerdem dazu auf, nationale Aktionspläne für die Bereiche zu erarbeiten, in denen sie hinterherhinken. Sie sollen Maßnahmen verfolgen, die nachweisbar Wirkung zeigen, und die Öffentlichkeit besser über Fortschritte und Probleme bei der Umsetzung informieren. Das Bundeskanzleramt sollte sich bei den UN dafür einsetzen, dass diese übergreifenden Strategiepläne auf dem SDG-Gipfel 2023 beschlossen und beim nächsten großen Treffen im Juli 2024 vorgelegt werden.

Das würde bedeuten, dass sich der harte politische Rahmen ändern muss: Handelsregeln, Finanzregeln, Energiepolitik, Subventionen. Bislang sind die SDGs aber eine eher beliebige Summe aus Einzelvorhaben.

Ja, Nachhaltigkeit ist leider ein separates Themenfeld. Sie stellt noch immer kein übergeordnetes, verbindliches Ziel dar. Einige Entwicklungsländer sind da weiter: Sie versuchen sich an einer kohärenten Gesamtstrategie auf Grundlage der SDGs. In den Industrieländern aber diskutieren wir jedes Mal neu über das Verhältnis von Politik und Markt. Dabei kommt der erforderliche große Umbau nur voran, wenn er durch politische Vorgaben, also Ordnungspolitik und Anreize, gepusht wird. Ohne die Förderung durch das EEG hätten sich die erneuerbaren Energien nicht weltweit ausbreiten können. Für eine klima- und umweltverträgliche Landwirtschaft brauchen wir jetzt eine entsprechende Ausrichtung der Agrarsubventionen und die Regulierung von Giftstoffen. Wir wollen noch immer nicht wahrhaben, dass wir nur mit einer langfristigen Perspektive für die enorme Transformation der gesamten Gesellschaft unser Wohlergehen dauerhaft sichern können.

Politische Vorgaben stoßen aber immer dann auf Widerstand, wenn es konkret wird und sich zeigt, wer gewinnt und wer verliert. Schwächeln die Nachhaltigkeitsziele auch, weil sie Interessen und Machtverhältnisse ausklammern?

Na ja, als die SDGs ausgehandelt wurden, haben Macht und Interessen natürlich eine große Rolle gespielt. Sonst hätte zum Beispiel ein Ziel "Mehr Demokratie" in den Katalog aufgenommen werden müssen – es steht aber nicht drin. In Demokratien wie unserer gehört der Streit darüber, wie der Green Deal umgesetzt werden kann oder ob wir eine verpflichtende Gebäudedämmung brauchen, nun mal dazu, das ist ganz normal. Alle Beteiligten müssten sich aber viel stärker auch daran messen lassen, welchen Beitrag sie zum Gemeinwohl leisten. Von Politikern und Regierungen fordern wir im Weltnachhaltigkeitsbericht, dass sie den Wünschen von Interessengruppen nicht auf Kosten der Transformation nachgeben. Und: Sie müssen sich auch an längst gefasste Beschlüsse halten.

Sie haben gesagt, dass die SDGs im Globalen Süden ernster genommen werden als bei uns. Woran liegt das?

Der Zielkatalog wurde nicht wie die MDGs nur von Fachleuten entwickelt, sondern von einer UN-Arbeitsgruppe, in der die Entwicklungsländer stark vertreten waren. Deshalb identifiziert man sich im Globalen Süden mit der Agenda 2030; deshalb genießen die 17 Ziele auch in den größeren Schwellenländern hohe Legitimität. Diese Identifikation kann der Umsetzung jetzt womöglich Rückenwind in der G20 geben, dem Zusammenschluss der 20 wirtschaftsmächtigsten Staaten. Denn mit Indien, Brasilien und Südafrika gibt es 2023, 2024 und 2025 drei Süd-Präsidentschaften.

Ihr neuer Weltnachhaltigkeitsbericht fordert auch größere Anstrengungen, Kriege zu beenden und Konflikten vorzubeugen; zudem einen Schuldenerlass, damit Entwicklungsländer nach den teuren Sozialprogrammen in der Pandemie wieder in ihre Zukunft investieren können. Ist das nicht unrealistisch, weil auch die Etats der reicheren Länder durch Pandemie, Energiewende, Sozialprogramme und Verteidigungsabsichten unter Druck geraten sind?

Mit Realismus allein kommt man nicht weiter. Wer eine bessere Zukunft erreichen will, der muss darauf hoffen und sich dafür einsetzen. Man darf auf keinen Fall aufhören, wissenschaftlich begründete Aufgaben zu formulieren, vor denen die Staatengemeinschaft, die Unternehmen, auch die einzelnen Bürger nun mal stehen! Es liegt so viel privates Geld herum, dieser Besitz muss für die Zukunftssicherung genutzt und ein Anteil davon umverteilt werden. Das ist ein politisches Tabu, aber das eine Prozent der Menschheit, das diesen enormen Reichtum an sich gezogen hat, kann sich nicht länger einfach heraushalten. Uns läuft die Zeit davon.

Zum Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik noch eine persönliche Frage: Wie haben Sie Ihren Wechsel aus der Forscherinnenrolle im Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in jene als Ko-Vorständin einer politischen Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung, erlebt?

Dieser Wechsel ist gar nicht so einschneidend, denn Politikberatung war schon beim DIE eine unserer Aufgaben. Auch dort waren wir der nachhaltigen Entwicklung verpflichtet, das spiegelt sich im neuen Namen des Instituts: German Institute of Development and Sustainability (IDOS). Neu ist aber, dass ich jetzt viel mehr in den öffentlichen politischen Diskurs einbezogen bin. Wie werden Probleme formuliert? Wer formuliert sie? Was wird ausgeblendet, wer wird erreicht, wer müsste stärker erreicht werden? Das zu beobachten und zu beeinflussen, finde ich unglaublich spannend. In einer politischen Stiftung zu arbeiten ist auch deshalb besonders schön, weil man einerseits unabhängig arbeitet, andererseits einer bestimmten Partei – bei uns Bündnis 90/Die Grünen – mit ihren Werten, Weltsichten und Zielen nahesteht. Zugleich unabhängig und verbunden den großen Krisen entgegenwirken zu können: Das ist für mich eine große Chance und Herausforderung.

Allzu häufig berufen sich allerdings auch grüne Politiker nicht auf die SDGs. Müssen Sie intern noch mehr Aufklärung leisten?

Die sozialökologische Transformation steht bei den Grünen ganz oben und die SDGs sind eine strategische Verstärkung dafür. Dieses Verständnis in der Koalition und im Parlament zu stärken, finde ich wichtig. So können wir erreichen, dass unsere Politik nicht auf Kosten anderer, vor allem schwächerer Länder geht.


Das Interview wurde zuerst in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?" auf  Zeit-Online veröffentlicht.