Miriam Schröder, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

Radikale Gesellschaftskritik ist auf Spekulation angewiesen: Wenn Kritik sich darauf beschränkt, das Falsche in der Gesellschaft als falsch auszuweisen und anzuprangern, ist unklar, wie in dieser Kritik die Möglichkeit entstehen kann, ganz anders über die Welt nachzudenken und neue Weisen der Gesellschaftsorganisation und Beziehungsweisen zu imaginieren. Damit das spekulative Moment tatsächlich einen neuen Möglichkeitsraum eröffnet, darf es sich von der Kritik allerdings auch nicht ablösen. Diese Gefahr zeigt sich bereits im umgangssprachlichen Gebrauch des Spekulationsbegriffs: Kritisch kann Spekulation nur sein, wenn sie nicht versucht, von einer vermeintlich außenstehenden Position aus, losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen, im luftleeren Raum zu denken. Genauso wenig kann es darum gehen, mittels stochastischer Verfahren und Prognosen Aussagen über die Zukunft zu treffen und auf diese Weise Entscheidungen in der Gegenwart abzusichern. Wie aber dieses spekulative Moment und sein Verhältnis zur Kritik gedacht werden kann, ist damit noch nicht geklärt. Obwohl in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Bereich der feministischen Wissenschaftskritik und sogenannten neomaterialistischen Ansätzen sowie im Kontext solcher Arbeiten, die als „afropessimistisch“ und „afrofuturistisch“ bezeichnet werden, der Begriff der Spekulation Konjunktur erfährt, ist eine ausführliche und systematische Bearbeitung der Frage bislang ausgeblieben. Auch bei Autor*innen, die das spekulative Moment in der Kritik als solches theoretisieren, bleibt das Verhältnis unterbestimmt. In meiner Arbeit möchte ich dieses Verhältnis von Kritik und Spekulation anhand einer Auswahl kritischer Theorien genauer analysieren. Dazu werde ich mich im Wesentlichen auf die Arbeiten dreier Autor*innen fokussieren, die in unterschiedlichen Theorie- und Debattenkontexten verortet werden können: Theodor W. Adorno, Donna J. Haraway und Saidiya Hartman. Ich möchte der Frage nachgehen, inwieweit in deren Texten Kritik und Spekulation in ein solches Verhältnis treten, dass die Bearbeitung drängender theoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen ermöglicht wird. Zu diesem Zweck möchte ich eine Kartografie spekulativer Praktiken erstellen, um den Begriff der Spekulation in seinem Verhältnis zur Kritik zu schärfen. Anschließend möchte ich ausgehend davon Fragen wie diejenige nach der Notwendigkeit einer Utopie oder dem Status eines durch Spekulation produzierten Wissens diskutieren. In einem letzten Schritt möchte ich darauf aufbauend eine Epistemologie des Spekulativen vorschlagen: Spekulation verstehe ich darin als situierte Praxis, die es als Auseinandersetzung mit der Welt und als Arbeit an der Gegenwart erlaubt, Differenzen jenseits von Aneignung und Gleichmachung zu denken.