Mexiko: Frauen fallen dem Drogenkrieg zum Opfer

Analyse

Der andauernde Krieg gegen die Drogen trifft nicht nur Mexikos Kartelle, sondern auch die mexikanische Zivilbevölkerung: obgleich dieser seit seinem Beginn im Jahr 2006 mit erhöhter Sicherheit für Zivilist*innen begründet wurde, hat der Krieg gegen die Drogen auch zu einem Anstieg der Gewalt beigetragen.

Gedenkstaette Verschwindenlassen

Die traurige Wahrheit des gewaltsamen Verschwindenlassens

In diesem Konflikt sind Männer und Frauen Gewalt ausgesetzt – Frauen erleiden aber eine andere Form der Gewalt als Männer. Die mächtigen Drogenkartelle, die oft mit lokalen/ staatlichen Behörden zusammenarbeiten, organisieren sich in patriarchalen Machtstrukturen und Hierarchien. So sind im Krieg gegen die Drogen Frauen und vor allem junge Frauen, vermehrt Opfer von Tötungsdelikten, Femiziden, Vergewaltigungen und gewaltsamen Verschwindenlassens.

Der Krieg gegen Drogen erhöht die Zahl Verschwundener

Das gewaltsame Verschwindenlassen in Mexiko ist eine besorgniserregende Praxis. Seitdem der ehemalige Präsident Calderón 2006 den Kartellen den Krieg erklärte, ist die Gewalt in Mexiko angestiegen. Am 2. Mai 2023 registrierte das Land 112.113 verschwundene Personen. Die Dunkelziffer wird als erheblich höher vermutet. 80 Prozent der Vermisstenmeldungen stammen aus der Zeit nach 2006: dem Jahr, in dem der „Krieg gegen die Drogen“ begann. Nach dieser Politikwende änderte auch das mexikanische Militär seinen Kurs und ging gegen die organisierte Kriminalität offensiver vor. Was eigentlich zum Schutz der Zivilbevölkerung gedacht war, bedeutete jedoch für viele Zivilist*innen den Tod im Kreuzfeuer der Kartelle und dem Militär auf offener Straße. Die Opfer und Hinterbliebenen erfahren nur unzureichende Unterstützung von den Behörden und sind bei der Suche nach ihren Vermissten oftmals auf sich gestellt.

Auch Calderóns Nachfolger führten einen ähnlichen Kurs mit der weiteren Militarisierung der öffentlichen Sicherheit in Mexiko zu Lasten der Zivilbevölkerung: die Gewalt stieg weiter an. Statt nur die leicht zu ersetzenden Anführer der Drogenkartelle festzunehmen, sollte das Militär dafür ausgebildet werden, präventiv und deeskalierend zu wirken, um Zivilist*innen tatsächlich zu schützen.

Guanajuato: Kartelle, Krieg und Drogen

Gewalt ist in Mexiko landesweit ungleich verteilt.: 45 Prozent aller Tötungsdelikte im Land ereignen sich in nur fünf der 31 Bundesstaaten: Guanajuato, Baja California, Chihuahua, Michoacán und dem Bundesstaat Mexiko. Guanajuato ist mit 11 Prozent der gewalttätigste Bundesstaat des Landes und auch der mit den häufigsten Militäreinsätzen (Zahlen ab 2021). Zwischen 2017 und 2022 stieg dort die Zahl der Vermisstenmeldungen um 81 Prozent. In den letzten zwei Jahren wurden 235 illegale Gräber gefunden, deren Existenz die Behörden zuvor geleugnet hatten. Diese Haltung weist auf die Zusammenarbeit von Behörden und Kartellen in einigen Bundesstaaten hin. Die Organisation Impunidad Cero ermittelte, dass 94 Prozent der Verbrechen nicht angezeigt werden und weniger als 1 Prozent aufgeklärt werden.

Für kriminelle Gruppen wie das Santa-Rosa-de-Lima-Kartell wuchs die Bedeutung des Bundesstaates Guanajuato, durch seine geografische Lage Mitten in Mexiko, der Nähe zur Hauptstadt und zur Bundesautobahn. Auch die Möglichkeit zum Treibstoffdiebstahl aus lokalen Pipelines als eine der lukrativsten und leichtesten Einnahmequellen der Kartelle besteht in Guanajuato. Der Staat verschärfte insbesondere die Verfolgung von Treibstoffdiebstahl in den letzten Jahren mit dem Einsatz des Militärs und damit einer gleichzeitigen Militarisierung der öffentlichen Sicherheit in Guanajuato. Neben den beiden größten Kartellen Santa-Rosa-de-Lima-Kartell und Jalisco Kartell waren 148 weitere kriminelle Gruppen in Guanajuato aktiv (Stand 2020). Weitere Einnahmequellen all dieser Kartelle sind Drogenhandel, Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung, Organdiebstahl und -handel, Ressourcendiebstahl und Erpressung.

Gewalt an Frauen zum Beispiel in Guanajuato

Das Instituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia versuchte durch eine Reihe von Interviews mit Hinterbliebenen von verschwundenen Frauen in Guanajuato strukturelle Zusammenhänge ihres Verschwindens zu untersuchen (diese Studie wird voraussichtlich Ende Mai veröffentlicht). Die Gewalt, die Frauen erfahren und die Gründe dafür unterscheiden sich von denen der Gewalt gegen Männer.

Oft wuchsen Betroffene in Armut oder sozialer Benachteiligung auf, erfuhren häusliche Gewalt, brachen früh die Schule ab oder wurden früh Mutter. In einigen Fällen war das psychische Wohlergehen der Opfer bereits vor ihrem Verschwinden durch vergangene Todesfälle oder Morde an nahestehenden Personen belastet. In diesen Fällen traten Schuldgefühle und Depressionen auf. Kamen die jungen Frauen aus gewalttätigen, abwesenden oder strengen Elternhäusern mit problematischem Drogenkonsum, konnten sich diese Muster in ihren eigenen Partnerschaften später wiederholen. Weitere Muster waren unausgeglichene Machtverhältnisse in den Beziehungen, wie ein hoher Altersunterschied oder dass die Männer in ihren Beziehungen selbst in Verbindung zu kriminellen Gruppen standen. Die Familien der Femizidopfer gaben in den Interviews an, dass sie vor dem Verschwinden verschiedene Arten von Gewalt beobachtet haben, denen ihre Töchter oder Schwestern ausgesetzt waren - unter anderem sexuelle Gewalt und Ausbeutung der Arbeitskraft sowie physische und psychische Gewalt. Diese Gewalt ist wiederum eingebunden in das patriarchale und rassistische System, in dem diese Frauen leben. 2022 war jede Dritte als vermisst gemeldete Frau unter 18 Jahre alt.

In diesen Strukturen kamen viele betroffene Frauen oft in Kontakt mit Drogen und somit auch mit illegalen Netzwerken des Drogenhandels. Als eine der Ursachen für das Verschwinden wurde in acht der neunzehn Interviews ein Kontakt zu Drogen genannt, ebenso wie eine Beziehung zu einer Person, die möglicherweise mit einer kriminellen Gruppe oder kriminellen Handlungen in Verbindung steht (wie Auftragsmord, illegaler Waffenverkauf und Verkauf illegaler Substanzen). Die Familien von mindestens zehn der 19 befragten Opfer gaben an, dass die Partner für das Verschwinden ihrer Töchter oder Schwestern verantwortlich wären. Auch ohne Drogenkonsumentinnen sein zu müssen, gerieten die Frauen in Kontakt mit der strukturellen Kriminalität der Kartelle.

Guanajuato hat zwar aufgrund seiner geografischen Lage eine Schlüsselrolle für den Drogenhandel, ist mittlerweile aber auch Endziel für Konsument*innen geworden. Crystal Meth wird in großen Mengen in illegalen Laboren hergestellt und hat als synthetische Droge ein sehr hohes Suchtrisiko. Kriminelle Gruppen sahen in Jugendlichen (als vulnerable Gruppe) eine leichte Nische, in der sie ihre Produkte verkaufen konnten. Der Kontakt zu Drogen erhöht das Risiko, Opfer eines gewaltvollen Verschwindens zu werden. Trotz dieser Tatsachen fehlt es an staatlichen Präventionsmaßnahmen und Hilfsangeboten. Das und die Stigmatisierung des Konsums drängt bedürftige Personen auf der Suche nach Hilfsangeboten schnell in inoffizielle und unsichere Räume, die wiederum erneut das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, erhöhen. Diese inoffiziellen Räume halten sich nicht zwingend an Vorschriften zur Behandlung von Suchtkranken: es wurden Fälle bekannt, bei denen Menschen in solchen Einrichtungen mit dem Versprechen auf Hilfe vergewaltigt oder über Wochen festgehalten wurden. Angehörige bestätigten, dass die Aufenthalte dort keine positiven Ergebnisse erbrachten.

Geplant: Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität mit Genderperspektive

Politische Maßnahmen und Pläne, die sich mit dem Zugang von Frauen zu einem Leben ohne Gewalt befassen, haben bisher keine positiven Auswirkungen gezeigt. Derzeit werden in Mexiko durchschnittlich täglich elf Frauen ermordet, eine Zahl, die in den letzten Jahren gestiegen ist, ebenso wie die Zahl der verschwundenen Frauen. Ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2009 verpflichtete den mexikanischen Föderalstaat, Normen und politische Maßnahmen zu schaffen, die die Geschlechterperspektive berücksichtigen, wie beispielsweise differenzierte Suchmechanismen.

Der Bundesstaat Guanajuato arbeitet derzeit an einem umfangreichen Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, dieses sollte eine Genderperspektive beinhalten. Es wäre zielführend wenn der Bundesstaat Guanajuato mit der mexikanischen Bundesregierung zusammenarbeiten würde, da die Regulierung des Drogenhandels unter Berücksichtigung der Menschenrechte sowie die Verbesserung des Strafverfolgungssystems und der Rechtspflege zentrale Themen sind.

Die untersuchten Fälle des Verschwindenlassens der Frauen stehen im Kontext von Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Drogenkartellen. Das Fehlen einer Gender Perspektive erschwert die Untersuchung dieser Fälle. Die Machtstrukturen innerhalb der Kartelle sind stark sexistisch und die Machtausübung ist Männern vorbehalten. Frauen nehmen in diesem bewaffneten Konflikt die Rolle eines "untergeordneten Subjekts" ein. In diesem System der organisierten Kriminalität werden Frauen degradiert zu Dekoration, Unterhaltungsobjekten oder Sexpartnerinnen eines der Mitglieder einer kriminellen Gruppe und entmenschlicht. Diese Menschenrechtsverletzung insbesondere weiblicher Opfer im patriarchalischen System der Kartelle muss juristisch unterschieden werden.

Der mexikanische Staat kommt seiner Verantwortung nicht nach

Die Verfolgung und Aufklärung des Verschwindenlassens von Mädchen und Frauen sowie von Femiziden bleibt häufig ungelöst. Die Behörden werden nicht tätig, um die strukturellen Verbindungen zu den Tätern aufzubrechen und die Taten konsequent zu ahnden. Das heißt schlichtweg, dass die Opfer seitens der Behörden nur unzureichend betreut werden und eine Stigmatisierung fürchten müssen. Darüber hinaus mangelt es den Behörden in Guanajuato an finanziellen und personellen Ressourcen, um das Verschwindenlassen wirklich angehen zu können. Der mexikanische Staat und die Behörden in Guanajuato kommen ihrer Pflicht, die Zivilbevölkerung und besonders vulnerable Gruppen zu schützen, also nicht nach. Es fehlt eine Strategie zur Prävention der Taten, zum Schutz der Opfer sowie zur Bestrafung der Täter. Maßnahmen müssen finanziell tragfähig und an die lokalen Gegebenheiten angepasst sein.

Als Reaktion auf die Untätigkeit des Staates organisierten sich viele Betroffene, vor allem Frauen, zu Suchkollektiven oder anderen Formen der Unterstützung zur Suche nach den vermissten Personen. Dabei rücken auch allgemeine Fragen der Geschlechtergleichstellung sowie der Verteidigung der Menschenrechte ins Zentrum der Organisationen. Diese operieren oft lokal und sind ein Zufluchtsort für die Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind und ihre Hinterbliebenen. Die finanzielle Unterstützung seitens des Staats ist unzureichend und hat in den letzten Jahren abgenommen. In Mexiko bedarf es eines Kurswechsels für eine Politik, die die strukturelle Gewalt gegen Frauen juristisch anerkennt und ahndet.

 


Das Insituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia ist eine Partnerorganisation der Heinrich-Böll-Stiftung.