Bürgerräte: Wem nutzen sie wirklich?

Kommentar

Geloste Gremien können die Demokratie bereichern. Damit Bürgerräte nicht nur Showveranstaltungen sind, müssen sie im System verankert werden.

Mitglieder des Bürgerrates Demokratie vor einem Hotel in Leipzig
Teaser Bild Untertitel
Mitglieder des Bürgerrates Demokratie im Jahr 2019 in Leipzig

>> Dieser Text erschien zuerst auf Zeit Online. <<


Vor Kurzem hat der Bundestag einen ersten offiziellen Bürgerrat zum Thema Ernährung im Wandel eingesetzt. Geloste Bürgerinnen und Bürger sollen den Bundestag beraten. Der Protestforscher Dieter Rucht hatte bei ZEIT ONLINE auf die Grenzen solcher Gremien hingewiesen. Hier antworten ihm drei Experten für Bürgerbeteiligung, die sich für Bürgerräte einsetzen.

Die Letzte Generation fordert sie, und auch der Bundestag probiert sie aus: In den vergangenen Wochen hat die Diskussion um Bürgerräte, also politische Gremien aus zufällig ausgewählten Bürger*innen, eine neue Dimension erreicht. Es wird nun ernst für diese Beteiligungsverfahren, von denen sich die Befürworter eine echte Bereicherung der Demokratie versprechen. Kritiker, wie zuletzt der Soziologie Dieter Rucht auf ZEIT ONLINE, sehen darin eher Showveranstaltungen ohne großen Nutzen – oder gar eine Schwächung des Parlaments. Es wird auch deshalb ernst, weil das Instrument Bürgerrat bei vielen in den Verdacht gerät, parteipolitischen Interessen zu dienen: Die Union hat der Einsetzung eines Bürgerrats zum Thema Ernährung im Bundestag vor zwei Wochen nicht zugestimmt. Getragen wird das neue Gremium nun nur von den Stimmen der Ampel-Parteien und der Linken.

Deshalb ist es höchste Zeit, die Sache genauer zu betrachten: Was können Bürgerräte leisten und was nicht? Wem nutzen sie? Und wie verhindert man, dass sie nicht nur einem Lager helfen, sondern der Demokratie als Ganzem?

Der erste Schritt ist anzuerkennen, dass unsere Demokratie offensichtliche Schwächen hat. Wiederwahl- und Karriereaussichten legen Politiker*innen ein enges Korsett von Fehlanreizen an. Gewiss, abseits einer oft auf Sensation ausgerichteten Medienöffentlichkeit funktioniert unsere Demokratie besser, als viele denken. Hier diskutieren die Abgeordneten meist konstruktiv und offen über die Probleme, die zu lösen sind, und über die Optionen, um mit ihnen besser umzugehen. Die Vorschläge der Gegenseite werden nicht nur gehört, sondern konstruktiv reflektiert und teilweise sogar übernommen.

Illustration von Menschen, die an einem Hebel ziehen

Konferenz: Gesellschaftsprojekt Energiewende

Am 18. September 2023 in Berlin und im Livestream

Wir suchen nach Strategien und Ideen, um die Energiewende voranzutreiben.

>> Jetzt anmelden und dabei sein!

Doch viele weitreichende Entscheidungen werden im Rampenlicht der Medienöffentlichkeit getroffen. Das ist einerseits gut so, andererseits führt es dazu, dass viele wichtige Themen es erst gar nicht auf die Agenda schaffen, weil sie zu heikel sind oder sich mit ihnen aus Sicht der Politiker*innen nichts gewinnen lässt; andere Themen werden zu Leerformeln und Allgemeinfloskeln verkürzt, um keine Angriffsfläche zu bieten. Politiker*innen sind getrieben, in Wahlperioden zu denken. Debatten werden im strategischen Blick auf Gewinn und Verlust von Wählerstimmen geführt. Im Zweifel werden dann symbolische Entscheidungen getroffen, die wenig zur Problemlösung beitragen, aber auch niemandem wehtun oder zum Widerspruch reizen. Ein Beispiel ist das Verbot, private Pools zu beheizen. Das Verbot signalisiert, dass beim Energiesparen auch die Reichen bluten müssen. Doch die Vorschrift lässt sich weder kontrollieren noch hat sie einen nennenswerten Effekt auf die Energiebilanz.

Fatale Langzeitwirkung

Selbst wenn sich solche Mogelpackungen kurzfristig strategisch auszahlen, sind die Langzeitwirkungen fatal: Bürger*innen wenden sich genervt von Politik ab, weil sie das Gefühl haben, "die da oben" kreisten nur um sich selbst. Joseph Schumpeter verglich die Regierungschefs in Demokratien mit Reitern. Beide würden durch den Versuch, sich im Sattel zu halten, so völlig in Anspruch genommen, dass sie gar keinen Plan für den Ritt aufstellen könnten.

Demokratische Innovationen wie Bürgerräte müssen sich daran messen lassen, wie gut sie in der Lage sind, diese Schwächen im bestehenden System auszugleichen. Die große Stärke von Bürgerräten liegt gerade darin, dass sich die Teilnehmenden nicht danach richten müssen, ob sie wiedergewählt werden oder was beim Wahlpublikum ankommt. Sie werden ja nur für eine begrenzte Zeit und Aufgabe ausgelost. Bürgerräte hören verschiedene Expert*innen und Betroffene, diskutieren intensiv die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Maßnahmen und können dann weitgehend frei von äußeren Zwängen die aus ihrer Sicht besten Lösungen vorschlagen. Im traditionell katholischen Irland konnten mithilfe von Bürgerräten heikle Themen wie Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe bearbeitet werden. An beide Themen traute sich die Regierung nicht heran, obwohl auch viele Konservative wussten, dass eine Reform geboten war.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Es wäre naiv zu glauben, Bürgerräte seien komplett frei von politischen Interessen. Wer einen Bürgerrat zu einem bestimmten Thema einberuft, hat ein politisches Interesse daran. Sonst würde man es ja nicht tun. Die Union wirft der Ampel vor, sie wolle mit dem kürzlich eingesetzten Bürgerrat Ernährung im Wandel lediglich die eigenen Pläne legitimieren. Dabei hatte die Union sich vorab intensiv und konstruktiv an der Planung und Themenfindung des Bürgerrats beteiligt. Gut möglich, dass CDU und CSU der Einsetzung des Bürgerrats zugestimmt hätten, hätte sich ihr Wunschthema, ein verpflichtendes Dienstjahr für junge Menschen, durchgesetzt.

Es müssen sich nicht alle einig sein

Ist es schlimm, wenn sich nicht alle Fraktionen auf ein Thema einigen können? Nein, denn würden Bürgerräte immer nur dann einberufen, wenn alle Fraktionen sich einig sind, wäre wenig gewonnen. Entweder würde das Instrument nur selten genutzt oder es würde nur zu Themen einberufen, die allen Fraktionen unwichtig genug sind. Solche wenig kontroversen Themen können auch im bestehenden System effektiv bearbeitet werden. Bürgerräte wären dann nicht viel mehr als symbolische Showveranstaltungen, die signalisieren sollten, man nehme die Bürger*innen mit.

Ist es problematisch, wenn Bürgerbeteiligungsverfahren politisch motiviert sind? Nicht prinzipiell. Das wichtigste Gebot ist, dass der Prozess selbst entscheidungsoffen bleibt, dass also die Möglichkeit besteht, dass die Bürger*innen zu Ergebnissen kommen, die gegen die Interessen derer gehen, die sie einberufen haben.

Es spricht nichts dagegen, dass eine Regierung Bürger*innen fragt, mit welchen konkreten Maßnahmen sie die Ziele aus dem eigenen Koalitionsvertrag erreichen sollte. Schließlich wurde die Regierung mehrheitlich für genau diesen Auftrag gewählt. Natürlich schränkt man die Bürger*innen mit einer solchen Frage ein. Doch wer ohne Ziel und Orientierung diskutiert, landet meist ohne konstruktive Lösungen im Nirgendwo. Entscheidend ist, dass den Teilnehmenden die Möglichkeit eingeräumt wird, auch die vorgegebene Stoßrichtung noch mal zu hinterfragen. Die bisherigen Pläne für den Bürgerrat Ernährung im Wandel sehen das vor.

Dient ein Bürgerrat also immer der Regierung oder den herrschenden Parteien in den Parlamenten? Das muss keinesfalls so sein. Sie könnten auch als Korrektur zur herrschenden Politik dienen, wenn diese es versäumt, gesellschaftlich wichtige Themen aufzugreifen. Man könnte der Bevölkerung ein Initiativrecht einräumen, so wie es in vielen Bundesländern bei Volksbegehren oder anderen Formen der direkten Demokratie bereits gesetzlich verankert ist. Die Wählerinnen und Wähler könnten den Bürgerrat selbst starten, statt auf die Regierungsparteien zu warten. Auch die parlamentarische Opposition könnte ein solches Initiativrecht erhalten, wenn ihr Anliegen ausreichend Unterstützung in der Bevölkerung findet.

Bürgerrat als dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat

Aber was, wenn irgendwer auf die Idee käme, einen Bürgerrat zur Bestrafung vermeintlich krimineller Ausländer einzuberufen? Auch hier gilt: Solange Regeln institutionalisiert sind, die sicherstellen, dass die Durchführung des Bürgerrats unabhängig ist, besteht wenig Grund zur Sorge. Vergangene Erfahrungen und Forschungsbefunde lassen erwarten: Eine Zufallsauswahl aus der Mitte der Gesellschaft wird ein manipulatives Framing erkennen und die Initiatoren in ihrem Ansinnen enttäuschen. Das würde die Demokratie eher stärken, als sie zu gefährden.

Die weitreichendste Möglichkeit wäre, ein zufallsgelostes Gremium als dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat einzurichten. Wie beim Bundesrat könnte man nach bestimmten Kriterien die Zustimmungspflicht (oder auch nur eine Beratungspflicht) der Kammer für einzelne Gesetzesvorhaben festlegen.

Bürgerräten wird immer wieder vorgeworfen, dass sie die repräsentative Demokratie und deren Vertreter*innen abwerten oder in ihrem Handlungsrahmen einschränken würden. Die empirische Forschung zu Bürgerräten in Deutschland und in ganz Europa zeigt dagegen, dass die Teilnehmenden in der Regel mehr Verständnis für die Zwänge der Politik aufbringen und sich stärker als vorher mit der parlamentarischen Demokratie identifizieren.

Natürlich haben Bürgerräte auch Schwächen, die ernst genommen werden müssen. Die Kehrseite ihrer größten Stärke ist gleichzeitig eine Schwäche: Gerade weil die Teilnehmenden nicht darüber nachdenken müssen, wiedergewählt zu werden, können sie auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden, indem man sie abwählt. Daher sollten Bürgerräte gewählte Parlamente nicht ersetzen. Beide Institutionen haben Stärken und Schwächen. Wer ernsthaft an einer Stärkung der Demokratie interessiert ist, sollte fragen, wie diese unterschiedlichen Institutionen produktiv zusammenspielen können.

Vielfältiger als jedes Parlament

Dieter Rucht kritisiert zudem, dass mit nur 160 Menschen, der Standardgröße eines bundesweiten Bürgerrats in Deutschland, das Land nicht wirklich statistisch repräsentativ abgebildet werden kann. Wichtiger als zahlenmäßige Repräsentativität ist aber, dass die Vielfalt an Lebensrealitäten und Meinungen Eingang in die Diskussionen im Bürgerrat findet und sich später in den Ergebnissen widerspiegelt. Bürgerräte sind in ihrer Zusammensetzung heterogener als nahezu alle anderen Formen der Bürgerbeteiligung, und erst recht als Parlamente und Regierungen.

Bedeutender ist eine andere Frage, die Rucht ebenfalls stellt: Erhoffen sich die Letzte Generation und andere Befürworter zu viel vom Bürgerrat? Betrachtet man nur den Einfluss, den vergangene Bürgerräte auf bundespolitische Entscheidungen in Deutschland hatten, ist die Bilanz in der Tat eher mager. Einige hatten Auswirkungen auf die politische Entscheidungsfindung. So hat der 2020 zivilgesellschaftlich organisierte Bürgerrat zu Demokratiefragen dazu beigetragen, dass der Bundestag nun regelmäßig geloste Bürgergremien veranstalten wird. Andere haben wenig oder gar nichts bewirkt. In vielen unserer Nachbarländer waren die Einflüsse größer. In Irland folgte auf den Bürgerrat zum Thema Abtreibung eine Volksabstimmung, die zu einer Änderung der irischen Verfassung führte. Die Erfahrung zeigt, wie viel davon abhängt, wer einen Bürgerrat initiiert, welches politische Interesse an den Ergebnissen besteht und welche Regeln für den Umgang mit den Empfehlungen gelten.

In Schottland, Österreich, Spanien, Irland, Berlin und an vielen anderen Orten ist es mittlerweile selbstverständlich, dass Regierungen schriftlich auf jede einzelne Empfehlung eines Bürgerrats reagieren. Jede nicht umgesetzte Empfehlung muss begründet werden, während Empfehlungen, die umgesetzt werden sollen, teilweise mit einer kontrollierbaren Umsetzungsfrist versehen werden sollen. In Frankreich traf sich Präsident Emmanuel Macron regelmäßig mit den gelosten Teilnehmenden, um den Stand der Umsetzungen zu erörtern. In Danzig und Amsterdam haben Bürgermeister*innen versprochen, Empfehlungen umzusetzen, wenn diese bestimmte Kriterien erfüllen – zum Beispiel eine Zustimmung von über 80 Prozent im Bürgerrat. In Irland und dem US-amerikanischen Oregon werden geloste Gremien mit anschließenden Volksabstimmungen kombiniert. Und im deutschsprachigen Ostbelgien gibt es eine permanente Zufallskammer, die nachverfolgt, was mit den Empfehlungen ihrer nur auf Zeit ausgelosten Mitbürger*innen passiert.

Bürgerräte sollen Parlamente (und auch die Beteiligung von Interessengruppen) nicht ersetzen. Aber es muss sichergestellt sein, dass ihre Empfehlungen ernsthaft geprüft und Abweichungen von den Empfehlungen klar und nachvollziehbar begründet werden. Nur so können Bürgerräte auch bei politisch schwierigen Themen die Entscheidungsfindung verbessern und, zum Beispiel, das Risiko symbolischer Scheinlösungen verringern.

Eines ist klar: Damit Bürgerräte unsere Demokratie tatsächlich bereichern können, müssen sie fest im System institutionalisiert werden. Andernfalls besteht die andauernde Gefahr, dass sie politisch instrumentalisiert werden oder lediglich als symbolische Showveranstaltungen bei wenig kontroversen Themen zum Einsatz kommen, die auch im bestehenden System schon effektiv behandelt werden können. Ein erster Schritt wäre getan, würden Abgeordnete offen anerkennen, was ohnehin bekannt ist: Das bestehende System der repräsentativen Demokratie hat ernsthafte Schwächen. Es kann nur gewinnen, wenn Verfahren wie Bürgerräte als Ergänzung und Bereicherung des politischen Systems angesehen und systematisch eingesetzt werden.