Belarus: Kaum Hilfe für Betroffene häuslicher Gewalt

Analyse

Staatliche Willkür und zunehmende Repression im Kontext der politischen Krise in Belarus stehen im Zusammenhang mit der Ausprägung von häuslicher Gewalt im Land. Eine Analyse der belarussischen Genderforscherin Viktoria Lavriniuk.

Schwarz-weiß Foto mit einer Hand, die Stop zeigt

Hintergrund

Im Jahr 2018 wurden Versuche der Fachministerien zur Einführung eines Gesetzes zur Prävention von häuslicher Gewalt durch Präsident Lukaschenko 2018 jäh gestoppt. Öffentlich erklärte er: „Das ist alles Unsinn, vor allem aus dem Westen übernommen. Sie müssen sich keine Sorgen machen und lassen Sie die Menschen sich keine Sorgen machen – wir werden uns ausschließlich von unseren eigenen Interessen, unseren belarussischen, slawischen Traditionen und unserer Lebenserfahrung leiten lassen.  […] Jemand hat etwas über die Bekämpfung häuslicher Gewalt gesagt. Das ist ein beliebter Ausdruck im Westen. Bald werden sie keine Familien mehr haben: Ein Mann wird einen Mann heiraten. Es gibt niemanden, der Kinder zur Welt bringt. Und wir übernehmen einige Verhaltensnormen die Familie von ihnen".

Das Konzept eines umfassenden Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt stieß aber auch bei religiösen und konservativen Organisationen auf viel Kritik, und häusliche Gewalt blieb ein Privatthema. Die Situation verschärfte sich nach den Ereignissen im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl im August 2020 nicht nur aufgrund der Eskalation der staatlichen Gewalt im Allgemeinen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass es fast keine Organisationen mehr gibt, die Opfer häuslicher Gewalt unterstützen (die Begriffe „Opfer, „Überlebende“ und „Betroffene“ werden in diesem Text austauschbar verwendet). Nichtregierungsorganisationen (NGO) waren die Hauptakteure, die Opfer häuslicher Gewalt betreuten, das öffentliche Bewusstsein schärften und ein öffentliches Profil für das Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen schufen. In all den Jahren ihrer Tätigkeit erhielten sie nie finanzielle Unterstützung vom Staat, sondern nur von internationalen Geberorganisationen. Diese NGOs waren eines der ersten Ziele des Regimes nach den Wahlen im Jahr 2020 und wurden liquidiert. Anschließend verblieben fast ausschließlich staatliche Angebote für Überlebende von häuslicher Gewalt.

Fehlgeleitete staatliche Maßnahmen

Staatliche Interventionen im Bereich häuslicher Gewalt sind in Belarus oft so konzipiert, dass Opfer bzw. Überlebende in den Gewaltbeziehungen verbleiben. Das drängendste Problem ist das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für die Verfolgung häuslicher Gewalt von staatlicher Seite. Das bedeutet, dass ein Opfer selbst rechtliche Schritte gegen den mutmaßlichen Täter einleiten muss, indem es eine Anzeige erstattet. In einer Situation, in der die Strafverfolgungsbeamten direkt an der Manifestation der staatlich geförderten Gewalt beteiligt sind, ist es für Opfer höchst ungewiss, ob die Polizei wirksamen Schutz anbieten kann und möchte. Mit dem Willen der Beteiligten scheint es aber möglich, wie ein kürzlicher Einzelfall belegt: Die Staatsanwaltschaft leitete gegen einen Mann wegen leichter Körperverletzung und Morddrohung ein Strafverfahren ein. Angesichts der Abhängigkeit von ihrem Mann und aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seinerseits weigerte sich das Opfer, gegen ihn auszusagen und Strafanzeige zu stellen. Dennoch wurde der Mann angeklagt. Allerdings sind keine weiteren Fälle dieser Art bekannt und es scheint eine Ausnahme zu sein.

Ein weiteres strukturelles Problem stellt sich, wenn Kinder im Haushalt leben. Gemäß Präsidialerlass Nr. 14 über „sozial gefährliche Situationen“ ist in Fällen anhaltender Gewalt in Familien eine staatliche Inobhutnahme der Kinder vorgesehen. In der Praxis bedeutet es, dass Frauen ihre Beschwerden zurückziehen, um sicherzustellen, dass ihre Kinder bei ihnen bleiben können. Frauen haben keine Wahl: Entweder sie gehen zur Polizei und unterstellen ihre Kinder dem staatlichen Fürsorgesystem, oder sie bleiben bei den häuslichen Gewalttätern, aber mit ihren Kindern. Der Erlass wird zudem auch häufig eingesetzt, um Druck auf politisch missliebige Eltern auszuüben.

Auf dem Papier gibt es eine große Anzahl staatlicher Krisenräume, die als Unterkünfte für Überlebende von häuslicher Gewalt dienen sollen. Diese bieten aber oft keine ausreichende Hilfe und Sicherheit und bleiben deshalb leer. Der Zugang zu Krisenräumen erfordert zunächst, dass Frauen die oben genannten Schritte unternehmen und riskieren, dass Kinder von den Sozialdiensten weggenommen werden. Zudem befinden sich die Krisenräume häufig in Nebengebäuden der Polizeistationen. Frauen, die dort Schutz suchen, können von Tätern leicht ausfindig gemacht werden.  Die einzige Unterkunft, die von einer NGO betrieben wurde und die erforderlichen Sicherheitsprotokolle befolgte, wurde vom Regime aufgelöst, wie auch weitere nichtstaatliche Hilfsangebote.

Ferner greifen staatliche Schutzangebote nicht für Angehörige der LGTBQ+-Gemeinschaft. Die Generalstaatsanwaltschaft schlug kürzlich im Gegenteil vor, eine Geldstrafe gegen die Propaganda von „nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen, Geschlechtsumwandlung und Kinderfreiheit“ zu verhängen – ein Vorschlag, der prompt von Lukaschenko unterstützt wurde und auch an Positionen Putins und an die russische Rechtslage anschließt.

Belarus und Russland sind die einzigen beiden Länder in der Region, die über kein umfassendes Gesetz zur Prävention von häuslicher Gewalt verfügen.

Der belarusische Staat stärkt somit weiterhin seinen patriarchalen Charakter, der lange Zeit eher im privaten Bereich verborgen geblieben war. Belarus hatte laut den vom Weltwirtschaftsforum und UNDP entwickelten Indizes zur Gleichstellung der Geschlechter einen hohen Rang eingenommen und damit sogar die USA, Österreich und Singapur übertroffen, was im besten Fall paradox ist. Es ist jedoch notwendig, die Verbreitung von Gewalt in der häuslichen Umgebung im Zusammenhang und in Verflechtung mit der staatlich geförderten Gewalt zu analysieren. Beide verstärken sich und das patriarchale Familienbild ist Grundlage für das Verständnis der autoritären Charakteristika des Staates und der von ihm legitimierten Gewalt. Gewalt wird vom Staat produziert, aber gleichzeitig generiert sie auch das belarusische Staatswesen.

Gesetzesänderungen 2022

Mit den Änderungen des Gesetzes zur Prävention von Straftaten vom 6. Januar 2022 wurde eine Definition häuslicher Gewalt vorgenommen: „vorsätzliche illegale oder unmoralische Handlungen physischer, psychischer oder sexueller Art durch nahe Verwandte, ehemalige Ehegatten und Bürger mit einem gemeinsamen Kind (Kindern), oder andere Bürger, die zusammenleben (lebten) und einen gemeinsamen Haushalt führen und im Verhältnis zueinander körperliches und (oder) seelisches Leid verursachen“. Das Gesetz definiert enge Verwandte als Eltern, Kinder, Adoptiveltern, Adoptivkinder, Geschwister, Großeltern, Enkel und Ehepartner.

Das Gesetz definiert auch, was unter Handlungen psychologischer, sexueller und physischer Art fällt: Handlungen psychologischer Natur sind „Handlungen mit Einfluss auf die Psyche eines Bürgers der Republik Belarus, eines ausländischen Staatsbürgers oder eines Staatenlosen (im Folgenden, sofern nicht anders definiert, eines Bürgers) durch Drohung, Erniedrigung von Ehre und Würde oder durch die Begehung anderer unmoralischer Handlungen, die einem Bürger objektiv Anlass geben, um seine Sicherheit oder die seiner Angehörigen zu fürchten; Handlungen sexueller Natur, Verletzung der sexuellen Freiheit oder sexuellen Unverletzlichkeit; Handlungen körperlicher Natur – die körperliche Schäden, Schmerzen, Leiden oder Körperverletzung verursachen“.

Wie aus diesen Definitionen hervorgeht, ist das Spektrum der Handlungen, die Manifestationen von häuslicher Gewalt darstellen, nicht erschöpfend und definiert beispielsweise nicht wirtschaftliche Gewalt, kontrollierendes Verhalten oder Gewalttaten mithilfe digitaler Technologie, wie etwa Online-Stalking, Drohungen oder das Posten von Nacktbildern der Frauen, unter anderem als „Rachepornos“ bekannt. Einerseits ist sexualisierte Gewalt innerhalb einer (Ex-)Partnerbeziehung laut Gesetz nicht mehr normalisiert. Andererseits wird wirtschaftliche Gewalt immer noch nicht ausreichend erkannt, aber wie die Umfrage zeigt, leiden Frauen in erheblichem Maße unter wirtschaftlicher Gewalt. Die finanzielle Verletzlichkeit von Frauen führt dazu, dass sie selbst über Jahrzehnte hinweg in gewalttätigen Beziehungen bleiben.

Darüber hinaus besteht einer der problematischen Bereiche dieser Gesetzesänderung darin, dass sie an den traditionellen Werten festhält, die als Leitwerte bei der Behandlung von Fällen häuslicher Gewalt definiert werden. Dieses Festhalten an traditionellen Werten in Bezug auf den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt ist paradox,, da sie die Hauptursache dafür sind, dass häusliche Gewalt ein offenkundiger Ausdruck des Patriarchats ist. Zusammen mit den jüngsten Vorschlägen zur Verfolgung von Angehörigen der LGBTQ+-Gemeinschaft trägt dies zum offenkundigen patriarchalen Charakter des Staates bei, der nicht mehr im privaten Umfeld der Haushalte verborgen werden kann.

Bei diesen Änderungen des bestehenden Gesetzes zur Verhütung von Straftaten handelte es sich um eine Art Kompromissversuch – weiterhin gibt es kein umfassendes Gesetz, aber zumindest einige Änderungen. Obwohl nun klar definiert wird, was häusliche Gewalt ist, löst es nicht das Hauptproblem der Notwendigkeit privater Anzeigeerstattung, das Betroffene von häuslicher Gewalt daran hindert, Hilfe zu suchen und Schutz zu erhalten. Darüber hinaus führen diese Änderungen Strafprogramme für Täter ein. Auf den ersten Blick kann man es durchaus als fortschrittlich bezeichnen. Diese Programme sind jedoch nicht obligatorisch und daher nicht effizient und garantieren nicht, dass die Täter daran teilnehmen. Aber was ebenso wichtig ist: Es gibt keine Infrastruktur für die Bereitstellung solcher Programme. Nichtstaatliche Organisationen, die früher entsprechende Programme für Täter anboten, wurden zwangsweise aufgelöst.

Häusliche Gewalt in Belarus 2022 – Ein Überblick

Die WHO führte im Jahr 2013 globale und regionale Studien zur Prävalenz häuslicher Gewalt durch, die zeigten, dass etwa jede dritte Frau auf der Welt im Laufe ihres Lebens eine Form von Gewalt in der Partnerschaft erlebt hat. Die Situation in Belarus war ähnlich. Im Jahr 2018 wurde vom Institut für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften von Belarus im Auftrag des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen in Belarus (UNFPA) eine Studie über die Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Belarus durchgeführt. In dieser Studie wurde das Ausmaß häuslicher Gewalt gemessen, die Frauen im Laufe ihres Lebens sowie in den letzten 12 Monaten erlebt haben. Außerdem wurden körperliche, sexuelle, wirtschaftliche und psychische Gewalt bei einer landesweit repräsentativen Stichprobe von Frauen gemessen. Die Studie ergab, dass jede zweite Frau (52,5 %) im Laufe ihres Lebens mindestens eine der oben genannten Formen von Gewalt erlebt hat, während jede dritte Frau (33,4 %) im Laufe ihres Lebens körperliche oder sexuelle Gewalt erlitten hat. In den 12 Monaten vor dem Befragungszeitpunkt gaben 72 % der Frauen an, keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein, 6,9 % der Frauen hatten körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlitten.

Derzeit ist es unmöglich, genaue Zahlen über die Prävalenz von häuslicher Gewalt in Belarus zu erhalten. Das Innenministerium veröffentlicht seit etwa zwei Jahren keine Zahlen mehr. In einem Interview im Februar 2023 nannte ein Beamter des Innenministeriums jedoch die Zahl von 80.000 bis 90.000 Fällen pro Jahr, in denen Betroffene rechtliche Schritte bei der Polizei eingeleitet haben. Aus den oben genannten Gründen ist aber davon auszugehen, dass die Fallzahlen deutlich größer sind.

Soziologische Erhebungen können aktuell in Belarus nicht durchgeführt werden. Die Autorin greift in ihrer Analyse auf Zahlen aus einer nicht repräsentativen Online-Befragung zurück, um dennoch Anhaltspunkte für die Verbreitung häuslicher Gewalt zu erhalten.

Um den Zusammenhang zwischen verschiedenen Arten von Gewalt weiter zu herauszuarbeiten, ging eine der Fragen der Umfrage über die Gewalt in der Partnerschaft hinaus und verdeutlichte die Erfahrungen von Frauen im Allgemeinen mit Situationen, in denen sie sich Sorgen darüber machten, körperliche oder sexuelle Gewalt von verschiedenen Menschen zu erleiden.

443 (51 %) der 871 Frauen, die angaben, in den letzten 12 Monaten in einer partnerschaftlichen Beziehung gelebt zu haben und den Fragebogen vollständig beantworteten, hatten in den letzten 12 Monaten Angst vor körperlichem oder sexuellem Missbrauch. Bemerkenswerterweise nannten 365 dieser 443 Frauen „Vertreter von Strafverfolgungsbehörden“ als Quelle ihrer Ängste, verglichen mit nur 37 bzw. 45, die ihren aktuellen oder ehemaligen Partner nannten. Mit anderen Worten: Die Hauptursache für die Besorgnis, körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, ist das Verhalten der Vertreter der Strafverfolgungsbehörden.

In Bezug auf die häusliche Gefährdung ergab die Befragung eine stärkere Betroffenheit von sexuellem Missbrauch in der Altersgruppe von 18-24 Jahren, dagegen sind Frauen jenseits der 45 in höherem Maße von körperlicher Gewalt betroffen. Unter Formen psychologischer Gewalt und Ausübung von Druck leiden vor allem 18-19jährige und 45-54jährige Frauen.

Außerdem wurde aufgrund des spezifischen belarusischen Kontexts der Repression gegen gesellschaftlichen Aktivismus die Frage gestellt, ob Partner ihren Frauen androhten, etwaige Protestaktivitäten bei der Polizei zu melden. Aber nur etwas mehr als 1 Prozent der Frauen hat eine solche Situation erlebt.

Bezeichnend ist dagegen, dass nur eine verschwindend kleine Zahl der Befragten – ca. 1% - angab, in Fällen körperlicher oder sexueller Gewalt Hilfe bei der Polizei, bei religiösen oder medizinischen Organisationen in Anspruch genommen zu haben. Dies bedeutet, dass Frauen, die mit häuslicher Gewalt konfrontiert waren, dazu neigen, keine Hilfe außerhalb des persönlichen Umfeldes zu suchen und mit Gewalt oder Missbrauch allein klarzukommen. Rund zwei Prozent der Frauen gaben an, dass sie keine Hilfe suchen konnten, weil sie aufgrund des Verhaltens ihres Partners Angst davor hatten und keine Möglichkeit hatten, dies sicher zu tun.

Häusliche Gewalt und Gewalt in der Partnerschaft bleibt ein großes Problem für belarusische Frauen. In den letzten zwei Jahren wurden die Möglichkeiten, Hilfe und Schutz zu erhalten, jedoch deutlich reduziert, da nichtstaatliche Hilfsangebote durch Verbote der Trägerorganisationen abgeschafft wurden und es in Belarus immer noch kein Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt gibt.

 


Lektorierte maschinelle Übersetzung aus dem Englischen: Robert Sperfeld