Erfolgreicher Klimaschutz: Bottroper Modellstadtteil halbiert seinen C02-Ausstoß

Best Practice

Die ehemaligen Bergbaustadt Bottrop mit ihren immensen sozialpolitischen Problemen angesichts des Strukturwandels war zwischen 2010 und 2020 „InnovationCity Ruhr Modellstadt“. Im Rahmen dieses Projekts hat Modellstadtteil unter Ägide der Projektgesellschaft Innovation City Management GmbH sehr erfolgreich seine CO2-Emissionen halbiert, eine 3,3-Prozent-Sanierungsquote im Gebäudebestand erreicht und den Energieträgerwandel hin zu Erneuerbaren eingeleitet.

Luftbild: Zahlreiche Häuser mit Solarzellen auf dem Dach
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„Sonnenstadt Bottrop“: Zahlreiche Häuser in dem Modellstadtteil von Bottrop verfügen inzwischen über Solaranlagen auf dem Dach.

Wer im Bottroper Stadtteil Batenbrock auf die 90 Meter hohe ehemalige Prosper-Haniel-Bergehalde steigt und vom Tetraeder, einer weithin sichtbaren Aussichtsplattform, aufs Ruhrgebiet hinunterschaut, sieht die Bottroper Innenstadt als blauschwarzes Meer. Der erste Gedanke: Kohle. Es braucht den zweiten Blick, um zu begreifen: Nein, das, was da so gleißt, sind Solaranlagen, überall auf den Dächern. Eine vorbeispazierende Familie folgt dem Blick und erzählt stolz: „Sogar die Kinder haben in der Schule gelernt, wie man ein Sonnenhaus baut.“

Bottrop hat einen erstaunlichen Wandel hinter sich: In zehn Jahren hat die frühere Kohlestadt, die Stand 2016 von allen kreisfreien Städten in Deutschland das niedrigste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hatte und mit Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte, als InnovationCity einen neuen Markenkern etabliert, die CO2-Emissionen halbiert und den Einsatz erneuerbarer Energien massiv gefördert.

Alles ging Ende 2009 los, als der Initiativkreis Ruhr, ein Wirtschaftsbündnis im Ruhrgebiet, den InnovationCity-Wettbewerb auslobte. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Städte in Deutschland 80 Prozent aller genutzten Ressourcen verbrauchen, meist noch stark von fossilen Energieträgern abhängen und bei der Findung alternativer Energielösungen hinterherhinken, ging es bei dem Wettbewerb darum, ein Konzept vorzulegen, wie innerhalb von zehn Jahren in einem industriell geprägten Pilotgebiet mit rund 70.000 Einwohner*innen und 15.000 Gebäuden die CO2-Emissionen halbiert werden könnten. Bottrop gewinnt gegen 16 Mitbewerber. Die lokale Wirtschaft sowie Landesmittel zur Städtebauförderung für energetische Sanierung füllen die Töpfe der Stadt, der Initiativkreis Ruhr gründet die InnovationCity Management GmbH (ICM) als Agentur für die Projektsteuerung.

Kostenlose Beratung, unbürokratische Förderung und Dolmetschen als Schlüssel für die „Energiewende von unten“

Nun gilt es: Ein Pilotgebiet rund um die Bottroper Innenstadt, von Rathaus und Einkaufszone über den Stadtpark bis hin zu A42, Gewerbegebieten und Kläranlage, soll zwischen 2010 und 2020 zur Modellstadt für Klimaschutz und energetische Gebäudesanierung werden. Burkhard Drescher, seit 2011 Geschäftsführer der ICM und damit Begleiter, Koordinator und Chefkommunikator des Modellstadt-Projekts, erzählt, man habe von Anfang an auf die Karte „Energiewende von unten“ gesetzt. Diesen Ansatz erklärt Drescher so: „Man kann die Energiewende nicht von oben, zentralistisch aus Berlin verkünden, man muss sie gemeinsam mit den Bürger*innen gestalten. Ein klimagerechter Stadtumbau kann nur gelingen, wenn die Leute informiert und abgeholt werden, sie müssen der Motor der Wende selbst werden.“ Bildung und Aktivierung müssten kombiniert werden mit Förderung für Modernisierungsmaßnahmen. Und dabei, so Drescher, sollten alle mitgenommen werden: „Wir müssen in die Schulen, Kirchen und Schützenvereine gehen und gemeinsam überlegen, was jeder Einzelne und jede Einzelne zum Klimaschutz im Quartier beisteuern kann. Schließlich sollen die Leute ihre Stadt gestalten, sie kennen sie am Besten, genau wie ihre Bedürfnisse, nur so ist Stadtentwicklung wirklich nachhaltig.“

Burkhard Drescher
Burkhard Drescher, seit 2011 Geschäftsführer der ICM und damit Begleiter, Koordinator und Chefkommunikator des Modellstadt-Projekts.

Drescher und die ICM denken einen nachhaltigen Stadtumbau ganzheitlich, beziehen technische, wirtschaftliche und soziale Aspekte gleichermaßen mit ein. Gleich zu Beginn gründen sie als zentrales Gestaltungsinstrument, den „Projekttisch“. Eng getaktet – zunächst im wöchentlichen Rhythmus – setzen sie sich mit Vertreter*innen von Stadtverwaltung, Immobilienwirtschaft, Energieversorgern, Handwerk, Bürgerschaft und Wissenschaft zusammen, um schnell Ideen zu entwickeln und effizient umzusetzen. Alle Beteiligten hätten anfänglich sehr verschiedene Sprachen gesprochen, erzählt Drescher. Die Rolle der ICM sei deswegen zunächst vor allem das Zusammenbringen, Vermitteln und Bündeln von Ideen gewesen. Einer der ersten Beschlüsse ist die Einrichtung von vier „Zukunftshäusern“. „Zu Demonstrationszwecken“, sagt Drescher, „denn ich kann gerade im Ruhrgebiet keine Überzeugungsarbeit leisten, wenn ich nicht praktisch zeige, was alles möglich ist. Die Leute hier wollen anfassen und sehen und werden so darin bestärkt, selbst Projekte umzusetzen.“

Dämmung entlastet die Haushaltskasse: Für 10 Prozent weniger Ausstoß gibt es 10 Prozent Förderung

Also zeigt man ihnen konkret, wie nachhaltiger Gebäudeumbau aussehen kann: Ein Haus mit Sozialwohnungen entsteht als Neubau, je ein Einfamilien-, ein Mehrfamilien- und ein Geschäftshaus werden im Bestand energetisch saniert. Alle Gebäudehüllen werden gedämmt, Photovoltaik kommt aufs Dach – bei dem Mehrfamilienhaus sogar an die Fassade –, Tiefengeothermie wird direkt vom Grundstück aus der Erde geholt, Wärmepumpen werden installiert, Strom- und Wärmespeicher kommen in die Keller. Parallel eröffnen Burkhard Drescher und seine Leute sieben Quartiersbüros an zentralen Stellen in der Stadt, damit die Bürger*innen direkte Anlaufstellen haben. Hier können sich alle Bewohner*innen und Gewerbetreibenden unbürokratisch und kostenfrei zu Energiefragen beraten lassen. Von der ICM gebriefte Studierende ziehen los, klingeln an den Haustüren und machen auf die Möglichkeit der kostenlosen Energieberatung aufmerksam. Im Fokus jeder Beratung, so Drescher: „Klare Rechnungen, klare Ansagen und vor allem individuelle Beratungen. Klimaschutz muss zum jeweiligen Portemonnaie passen und bedeutet: Ihr dämmt eure oberste Geschossdecke, tauscht Fenster aus oder entscheidet euch für Erneuerbare, spart Energiekosten und entlastet die Haushaltskasse.“

In Bottrop gilt während der Projektphase die Faustformel: Wer 10 Prozent Ausstoß spart, bekommt 10 Prozent Förderung. Die ICM führt knapp 4.000 kostenlose Einzelenergieberatungen durch, sowohl aufsuchend bei den Menschen zuhause oder im Betrieb als auch in den Quartiersbüros. Außerdem schiebt sie ein Fülle von Vermittlungs- und Beteiligungsformaten an: Nachhaltigkeitspädagog*innen gehen in die Schulen, bei 30 Veranstaltungen lernen 645 Schüler*innen die Ziele des Projekts sowie Möglichkeiten zum Energiesparen kennen. In 437 Veranstaltungen, Workshops, Spaziergängen und Exkursionen mit fast 12.000 Teilnehmer*innen geht es gleichermaßen darum, zu informieren wie die Visionen von Bevölkerung und lokaler Wirtschaft zu erheben und in den Prozess einfließen zu lassen.

NRW-Photovoltaik-Spitzenreiter, dazu eine Modernisierungsrate von 3,3 Prozent pro Jahr

Was Bottrop in zehn Jahren schafft, macht im Rückblick fast ein wenig schwindeln: Über 300 Ideen werden gemeinsam mit diversen Akteur*innen umgesetzt. Eine kleine Auswahl: Die Straßenbeleuchtung wird auf LED umgestellt, Laternen werden zu Ladesäulen für E-Autos und -Bikes umgerüstet, Radwege ausgebaut, die Straßenreinigung sammelt Regenwasser und macht damit sauber. Die „Förderoffensive Grünes Bottrop“ regt die Dach- und Fassadenbegrünung sowie eine naturnahe Vorgartengestaltung an. Die lokale Wirtschaft steigt ein, mit einer „Energiesparkarte“ können die Bewohner*innen des Pilotgebiets im Baumarkt Energiesparartikel 15 Prozent günstiger kaufen. Das größte Klärwerk der Stadt, das 2009 noch den Energiebedarf von 30.000 Einwohner*innen hat, nimmt sich vor, Energie für 30.000 Einwohner*innen zu produzieren. Es trocknet den Klärschlamm nun nicht mehr per Koks, sondern mit Sonnenenergie, speist die Abwärme der Klärschlammverbrennung ins Wärmenetz ein und spart 60.000 Tonnen CO2 pro Jahr.

Und dann die Transformation der Bestandsgebäude: Insgesamt werden 733 Millionen Euro in Sanierung und Umrüstung investiert, zwei Drittel davon aus privater, ein Drittel aus öffentlicher Hand. Zwischen 2010 und 2020 werden im Pilotgebiet 36,6 Prozent der Wohngebäude energetisch modernisiert. Die jährliche Modernisierungsrate beläuft sich auf 3,3 Prozent p.a – und ist auch nach 2020 ähnlich hoch geblieben. Unter dem Motto „Sonnenstadt Bottrop“ startet zusätzlich eine Solarkampagne, die dazu führt, dass Bottrop Ende 2022 mit 1.759 Photovoltaik-Anlagen und 314 Wp erzeugter PV-Nennleistung pro Kopf die Liste der Ruhrgebietsstädte mit weitem Abstand anführt. (Schlusslicht ist Duisburg mit 64 Wp pro Kopf; NRW-Schlusslicht ist Köln mit 24 Wp pro Kopf). Heute produziert Bottrop pro Jahr rund 35 Millionen kWh PV-Strom und versorgt damit gut 12.000 Vierpersonen-Haushalte. Es gibt kein öffentliches Gebäude mehr ohne Photovoltaik auf dem Dach. All diese Maßnahmen generieren Arbeitsplätze. Allein in Bottrop, so ermittelt das Ruhr-Forschungsinstitut für Innovations- und Strukturpolitik e.V., belaufen sich die neu entstandenen Jobs auf 3.211 Beschäftigtenjahre.

Wohnhaus mit Solardach
Wohnhaus mit Solardach.

Energetische Autarkie für Stadtquartiere über Photovoltaik und Wärmenetze möglich

Das Modellstadt-Projekt ist hinsichtlich seiner Zielvorgaben also eindeutig erfolgreich: Das Pilotgebiet hat in zehn Jahren seine CO2-Emissionen um 50,09 Prozent reduziert. Im Jahr 2020 stößt jede*r Bottroper*in sechs Tonnen CO2 aus. Im gesamten Bundesgebiet sind es dagegen durchschnittlich neun Tonnen pro Kopf. Die Erfahrungen aus Bottrop setzt Drescher „konsequent in die Breite um“. Grundlage für das Roll-out ist einerseits der 1.300-seitige Masterplan für Bottrop sowie das eigens entwickelte „Innovationshandbuch“, ein strategischer und konzeptueller Leitfaden für andere Kommunen, der die Vorgehensweisen und Erkenntnisse aus der Bottroper Modellphase als Blaupause formuliert. Seit 2018 hat die ICM, meist größtenteils finanziert über das KfW-Programm 432 für Energetische Stadtsanierung, mehr als neue 120 Quartierskonzepte entwickelt, im Auftrag der Landesregierung allein zwischen 2016 und 2019 für weitere 20 Quartiere in 17 Ruhrgebietsstädten. Mit mittlerweile 55 festen Mitarbeiter*innen ist man aber längst auch bundesweit aktiv, u.a. in Berlin, Hamburg und in den ehemaligen Braunkohlegebieten am Niederrhein.

In Bottrop ist die ICM nach Ablauf des Projektzeitraums ebenfalls weiter tätig. Das Interesse der Bottroper*innen an Energieberatung und selbsterzeugtem Solarstrom ist nach wie vor hoch, auch der kommunale Topf für die Solaroffensive wird seit 2020 jedes Jahr neu aufgelegt. Derzeit lotet man außerdem verstärkt Alternativen für die Wärmeversorgung aus. Schließlich hat sich die Stadt ein nächstes Ziel gesetzt: Bis 2035 will man klimaneutral sein.

Burkhard Drescher ist überzeugt, dass das gelingen kann: „Die Lösung für die Energieversorgung ist: Der Ausbau Erneuerbarer. Unabhängigkeit durch Photovoltaik auf dem eigenen Dach, idealerweise kombiniert mit einem Batteriespeicher. Wenn Deutschland in Sachen Mieterstrom und Verkauf von selbst erzeugten Überschüssen an die Nachbarn rechtlich mehr möglich machen würden, könnte Photovoltaik das Land gleich zwei Mal mit Strom versorgen. Und für die Wärme gilt: Nicht in jedes Haus kann man eine Wärmepumpe einbauen, aber jedes Haus kann man an ein Wärmenetz koppeln. Wir müssen Tiefengeothermie, Abwärme aus Industrie, Müllverbrennung und Kläranlagen stärker einbeziehen. So kann man, davon bin ich überzeugt, jedes Stadtquartier energetisch autark umbauen.“