"Die Fortschrittserzählung hat ihren Vertrauensvorschuss aufgebraucht"

Interview

Konservative und rechte Parteien sind die Sieger der Landtagswahlen in Hessen und Bayern. Warum das so ist und wie es um die Zukunft des schwarz-grünen Projekts steht, erläutert die Politikwissenschaftlerin Dr. Julia Reuschenbach.

Ein großer Bildschirm zeigt eine grüne Wiese und darauf den Schriftzug "Landtagwahl 2023", davor liegen ein großer Strauß Sonnenblummen, im Hintergrund stehen Aufsteller der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Im Vordergrund sind schemenhaft Personen mit Kameras zu erkennen.

Waren diese Landtagswahlen die von einigen beschworenen „Midterms“ - also eine Art Halbzeitzeugnis für die Ampelregierung im Bund? Und wenn ja, wie fällt es aus?

Ja, wir können eine Art Zwischenwahleffekt beobachten. In beiden Bundesländern mussten die Parteien der Bundesregierung teils starke Verluste hinnehmen, die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung wurde an der Wahlurne artikuliert. Die Regierung hat zwar bereits viele Projekte begonnen und teils umgesetzt, viele Maßnahmen gegen aktuelle Krisen entwickelt. Zugleich ist es ihr nicht gelungen, dies nach außen zu transportieren. Erreichte Erfolge und gute Kompromisse wurden überlagert von einer schlechten politischen Kommunikationsleistung in Form von Streit auf offener Bühne und der mangelnden Geschlossenheit, getroffene Entscheidungen auch gemeinsam nachhaltig zu vertreten.

Welche ist in Ihren Augen die wichtigste Lektion, die die Ampel aus diesen Wahlen ziehen kann?

Die Fortschrittserzählung hat ihren Vertrauensvorschuss aufgebraucht. Immer mehr Menschen sorgen sich um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, haben den Eindruck, dass keine der Parteien die großen Fragen von wirtschaftlicher Entwicklung, Transformation, Migration, Klimaschutz lösen kann. Mir scheint, wichtig ist jetzt, dass "Fortschritt" wieder anschlussfähig für alle wird. Jede Maßnahme muss sozialpolitisch flankiert werden. Komplexität muss reduziert, Politik wieder anschaulicher und lebensnaher kommuniziert werden. Beim GEG haben wir deutlich gesehen, dass die Menschen überfordert sind. Darauf muss die Ampel Antworten haben.

Porträt von Julia Reuschenberg
Dr. Julia Reuschenbach ist Politikwissenschaftlerin und forscht zu politischen Parteien. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Arbeitsstelle für Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland, an der Freien Universität Berlin.

Die AfD hat in beiden Ländern sehr stark abgeschnitten und viele Stimmen hinzugewonnen. Wieso schaffen es die demokratischen Parteien nicht, sie einzuhegen?

Das ist eine komplexe Frage. Sicherlich ist es eine Mischung aus alten Fehlern und neuen Entwicklungen. Die demokratischen Parteien springen oft noch immer über jedes Stöckchen, dass die AfD ihnen hinhält. Mit rechtspopulistischer Sprache tragen Teile der Union zur Normalisierung der AfD bei, zugleich liefert die Bundesregierung unzureichende Antworten vor allem im Bereich der Sozialpolitik und sozioökonomischen Fragen. Daneben gehört aber auch zur Erklärung, dass wir in der AfD eine gefestigte Stammwählerschaft finden, die die Partei aus Überzeugung wählt und deren rechtspopulistische, in Teilen rechtsextreme und antidemokratische Positionen teilt. Diese Menschen sind für die anderen Parteien schwer erreichbar, vor allem deshalb, weil sie gerade aus der Ablehnung der anderen Parteien ihre Unterstützung für die AfD begründen.

Zudem wählen immer mehr Menschen die AfD aus Überzeugung. Ist sie keine Protestpartei mehr?

Nein und ich würde auch anzweifeln, ob sie das jemals war. Der Partei gelingt es seit Jahren ein in Deutschland immer da gewesenes rechtspopulistisches und rechtsextremes Wählerpotenzial zunehmend hinter sich zu versammeln und diese Gruppe zu festigen. Zugleich können Protest- und Einstellungswahl durchaus auch ineinander übergehen. Der alleinige Ansatz "Protestwahl" ist daher unzureichend und unterkomplex.

Haben die Grünen Ihrer Beobachtung nach einen Umgang damit gefunden, dass ihnen von vielen Seiten so viel Gegenwind entgegen bläst?

Sie haben sich zumindest nicht auf das Spiel von "Hauptgegnerschaften" eingelassen. Aber gerade im bayerischen Wahlkampf konnte man merken, dass dieser Gegenwind der Partei zusetzt und die Arbeit erschwert.

Wie können demokratischen Partei das Thema Migration besetzen, ohne dass sie damit rechtsextremen Kräften Auftrieb geben?

Meines Erachtens vor allen Dingen, indem sie konkrete politische Antworten geben. Bund und Länder müssen zu einer Verbesserung der Situation in den Kommunen gelangen. Legale Migration braucht Struktur und Verbesserung. Illegale Migration eine stärkere Begrenzung. Es braucht also Inhalte, politische Antworten. Was nicht hilft, sondern vor allem die AfD stärkt, ist das Thema in der Debatte mit Halbwahrheiten, Faktenferne und Pauschalisierungen groß zu machen.

Wieso können linke Parteien von den aktuellen Krisen nicht profitieren? Man denke an steigende Lebenshaltungskosten, Wohnungsnot, Ungleichheit…

Das ist eine spannende Frage. Man muss schauen, über welche linke Parteien man spricht. Die Linke kämpft gerade ums politische Überleben, ist in der Debatte vor allem durch interne Machtkämpfe und Auseinandersetzungen sichtbar und nicht durch Inhalte. Die Grünen haben aus meiner Sicht versäumt, neben ihrem Thema Klima/Umwelt und Wirtschaft, ein stärker sozialpolitisches Profil zu entwickeln. Die eigene Anhängerschaft ist darauf gar nicht so sehr angewiesen, aber die anderen - also darüber hinausgehenden Wählergruppen - eben schon. Und die SPD hat das Glück, dass sie gelegentlich fast unter dem Radar läuft, während die Polarisierung etwa von Grünen und AfD die Parteien stark in den öffentlichen Fokus rückt. Gerade die SPD muss sich aber fragen lassen, wie es um ihr Profil steht, wenn zum Beispiel der geplante Wohnungsneubau nicht mal ansatzweise erreicht werden wird.

Welche Auswirkungen werden die Ergebnisse von CDU und CSU auf den innerparteilichen Richtungsstreit der Union haben?

Die Parteien werden beide Wahlen als Siege verbuchen. Boris Rhein hat ein beachtliches Ergebnis erzielt und wird Hessen damit in der Partei mehr Gewicht verleihen. Markus Söder bleibt hinter den Erwartungen zurück, was womöglich eine Kanzlerkandidatur 2025 (die er selbst aber bereits ausgeschlossen hat) unwahrscheinlicher macht. Spannend bleibt vor allem die Frage, ob Boris Rhein mit einer Fortsetzung von schwarz-grün in der Riege der modernen Konservativen mit Hendrik Wüst und Daniel Günther verbleibt, oder ob er durch ein schwarz-rotes Bündnis der "schwarz-grünen Idee" einen Dämpfer verpasst.


Dieses Interview wurde von Laura Endt geführt.