Sibylle Wuttke, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wer befragte die Täter? Eine Wissenschaftsgeschichte von Interviews mit NS-Täter:innen 1945 – 2005

Verglichen mit den Opfern gab es deutlich weniger Versuche, Täter:innen des Nationalsozia-lismus zu befragen. Es handelte sich demnach um eine marginale Forschungspraxis. Dieser Um-stand spiegelt sich auch in der mangelnden Beschäftigung mit diesen Interviews und deren his-torischer Verortung wider.  

Die geplante Arbeit beleuchtet diesen bisher wenig beachteten Bereich der Täterforschung, indem die Befragungen von NS-Täter:innen durch Wissenschaftler  verschiedener Disziplinen und Nationalitäten unter historischen Gesichtspunkten analysiert und ausgewertet  werden. Damit geht die Arbeit der Frage nach, wie die Praxis der Täterbefragung wissenschaftsge-schichtlich zu verorten ist. Es soll zum einen gezeigt werden, dass die Planung, Durchführung und Veröffentlichung der Täterbefragungen durch die justizielle und politische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, das damit zusammenhängende Täterverständnis, aber auch durch fi-nanzielle Förderungen, Forschungslogiken und disziplinäre Grenzen bestimmt war. Zum ande-ren wird gefragt, in welcher Weise die Methode des Interviews Rückwirkungen auf das sich wandelnde Täterverständnis hatte.

Zentral ist die Annahme, dass die Methode des Interviews als mündliche, qualitative For-schungsmethode zwar in den beteiligten Disziplinen eine Randerscheinung blieb, sie aber rück-blickend als Täterforschung avant la lettre begriffen werden kann.

Die Befragungen durch Psychologen und Psychiater bei den Nürnberger Prozessen bilden den Ausgangspunkt. Die Ergebnisse der Interviews flossen teilweise in weitere Forschungsprojekte ein, jedoch blieb die Fachwissenschaft der qualitativen Methode gegenüber skeptisch. Denn immer wieder stand die Frage im Raum: Wie aussagekräftig können Aussagen der Täter:innen sein?

Angeregt durch den Eichmann-Prozess und Hannah Arendts These vom „Schreibtischtäter“, beschäftigte sich Militärpsychiater Henry Dicks Ende der 1960er mit der Frage nach der Per-sönlichkeitsstruktur der NS-Täter. Als Grundlage nahm er hierfür die Theorie der autoritären Persönlichkeit, die zunächst von Erich Fromm geprägt und schließlich durch Adorno in Expe-rimenten untersucht wurde. Ähnlich verfuhr auch Soziologe John Steiner, der aber in einem nächsten Schritt pädagogische Konzepte aus seinen Interviews entwickeln wollte. Doch blieben seine Erkenntnisse auf einen kleinen Kreis von Rezipienten begrenzt. Weshalb verhallten diese frühen Forschungen? Lag es an dem Methodentrend der quantitativen Forschung, der in den Sozialwissenschaften in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte? Oder war das Konzept der Täterinterviews als solches nicht tragfähig?

Im zweiten Teil des Promotionsprojekts wird die Oral-History-Methode im Fokus stehen. Kon-zeptionell durch Lutz Niethammer nicht für Befragungen von Tätern im strengen Sinn vorgese-hen, gab es dennoch einzelne Versuche, die Methode auch auf NS-Belastete anzuwenden. Bei den Oral-History-Projekten insgesamt wurden Personen mit sehr unterschiedlichem Grad an „NS-Belastung“ befragt bzw. Opfer- und Täterinterviews in einem Projekt nebeneinanderge-stellt. Dabei geht es um die Fragen: Verwischte das Täter-Opfer Dichotom in diesen Projekten? War genau dies der Schlüssel im Umgang mit Täterbefragungen oder gerade der Fallstrick?