Philipp Kolonko, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Automatisierte Prognosen Eine Analyse der Potentiale Künstlicher Intelligenz für die strafrechtliche Prognosestellung.

Das deutsche Strafrecht folgt mehreren Zwecken, wie unter anderem dem Rechtsgüterschutz. Erklärtes Ziel ist es folglich, die Rechtsgüter des Einzelnen wie beispielsweise Leben, Leib und Freiheit zu schützen. Ein solcher Schutz kann jedoch nur gewährleistet werden, wenn das Strafrecht nicht repressiv, sondern zumindest auch präventiv agieren kann, mithin die Möglichkeit hat, einer möglichen Straftat zuvorzukommen. Zu diesem Zweck werden im Strafrecht an verschiedenen Stellen Prognosen angeordnet, wie beispielsweise bei Bewährungsentscheidungen (§§ 56 ff StGB) oder dem Maßregelvollzug (§§ 63 ff StGB). Naturgemäß sind diese Prognosen mit einiger Unsicherheit belastet, da niemand dazu in der Lage ist, mit Sicherheit ein zukünftiges (kriminelles) Verhalten einer bestimmten Person vorherzusagen. Nichtsdestotrotz werden jedes Jahr tausende solcher Prognoseentscheidungen durch die Gerichte getroffen.

Durch den rasanten Fortschritt Künstlicher Intelligenz in den vergangenen Jahren haben sich weitreichende Potentiale in allen denkbaren Lebensbereichen entwickelt. Hierzu zählt unter anderem auch der Bereich der Prognosen durch das sog. maschinelle Lernen. Diese algorithmischen Entscheidungssysteme sind aufgrund ihrer hohen Rechenleistung in der Lage, auf der Grundlage von Daten Korrelationen zu identifizieren, die für den menschlichen Betrachter aufgrund der Masse an Informationen nicht erkennbar wären. Dies kann genutzt werden, um Entscheidungen zusätzlich empirisch zu validieren und somit zu besseren bzw. sichereren Prognoseergebnissen zu gelangen. Die Systeme können dabei hinsichtlich ihrer Funktionsweisen, Interventionsmöglichkeiten und Transparenz sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Insbesondere in den USA werden bereits eine Vielzahl solcher Systeme eingesetzt, um die richterliche Entscheidungsfindung zu unterstützen. In Deutschland gibt es bisher keine vergleichbaren Systeme. Um auch in der deutschen Rechtsprechung von dem enormen Potential algorithmischer Entscheidungssysteme für Prognoseentscheidungen zu profitieren, bedarf es umfassender Untersuchungen zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Ziel dieser Arbeit ist es daher, den status quo der richterlichen Prognosestellung rechtlich, empirisch und methodisch zu erarbeiten, um auf dieser Grundlage zu identifizieren, welche Möglichkeiten des Einsatzes bestehen und welche konkreten Anforderungen hierfür zu stellen sind. Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere die Risiken der Systeme wie die Intransparenz (Black Box) und die Diskriminierung (bias).

Es gilt, einen Rahmen zu entwickeln, in dem Nutzen und Risiken in Ausgleich gebracht werden und ein verantwortungsbewusster Einsatz der Systeme ermöglicht wird. Ziel darf es gerade nicht sein, einen Einsatz entweder aus reinem Selbstzweck zu ermöglichen oder aus zu großer Angst vor den Risiken zu verweigern. In Anbetracht der grundrechtlichen Relevanz des Einsatzes im Spannungsfeld von Freiheitsrechten des Einzelnen und Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit gilt es, die Szenarien zu identifizieren, in denen die Potentiale verantwortungsbewusst genutzt werden können, ohne die Kontrolle über die Risiken zu verlieren.