Äthiopien: Tigray ein Jahr nach dem Abkommen von Pretoria – eine Bilanz

Analyse

Seit einem Jahr ist der Krieg zwischen Äthiopiens Regierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray beendet, doch ein stabiler Frieden noch nicht erreicht. Zu den ungelösten Problemen gehören der Status der Gebiete im westlichen und südlichen Tigray, die Rückkehr der Binnenvertriebenen, die vollständige Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und die Organisation von Wahlen.

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Trauer in Adwa (Tigray): Zeremonie zum Gedächtnis Gefallener, Oktober 2023

Vor einem Jahr, am 2. November 2022, unterzeichneten die beiden Hauptkriegsparteien des äthiopischen Tigray-Konflikts in Pretoria (Südafrika) ein Abkommen über die dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten. Es brachte in einem der tödlichsten Konflikte der Welt endlich etwas Hoffnung für eine von zweijährigen Kämpfen gebeutelte Gesellschaft1 . Am ersten Jahrestag des Abkommens ist jedoch offen, ob seine Umsetzung zu dauerhaftem Frieden führen wird, und die Gefahr eines neuen bewaffneten Konflikts in der Region steigt.

Wesentliche Errungenschaften des Abkommens

Es besteht kein Zweifel daran, dass das Pretoria-Abkommen, das durch intensive Vermittlungsbemühungen der Afrikanischen Union und der Vereinigten Staaten zustande kam, seine unmittelbaren Ziele erreicht hat: In Tigray schweigen seither die Waffen, es wurde ein Waffenstillstand geschlossen, und die zweijährige Belagerung des nördlichsten Regionalstaates Äthiopiens endete.

Um die Autorität der äthiopischen Bundesregierung und die verfassungsgemäße Ordnung wiederherzustellen, wurde die Regierung von Tigray durch eine Übergangsverwaltung unter der Führung des ehemaligen Sprechers der Tigray People’s Liberation Front (TPLF), Getachew Reda, ersetzt2 . Das äthiopische Parlament wiederum hob die Einstufung der TPLF als Terrororganisation auf und ließ alle Anklagen gegen TPLF-Führer fallen. Tigrayanische Gefangene, darunter auch tigrayische Angehörige der äthiopischen Armee, wurden freigelassen. Alle Mitglieder des äthiopischen Kabinetts und die Präsidenten der anderen Regionalstaaten besuchten die tigrayische Hauptstadt Mekelle. Insgesamt verbesserten sich die Beziehungen zwischen der äthiopischen Bundesregierung und der „Interim Regional Administration (IRA) of Tigray“ stetig.

Auch die humanitäre Hilfe wurde nach der Unterzeichnung des Abkommens wieder aufgenommen (wenn auch bald darauf aus anderen Gründen wieder ausgesetzt3 ). Dienstleistungen wie das Bankwesen, Kommunikationsdienste und Stromversorgung, Gesundheitswesen, die Lieferung von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und der Flugbetrieb nach Mekelle wurden wiederaufgenommen. Allerdings sind diese Dienste aufgrund der erheblichen Kriegsschäden und der Auswirkungen eines neuen bewaffneten Konflikts zwischen „Fano“-Milizen und der äthiopischen Armee (Ethiopian National Defense Force - ENDF) in der benachbarten Region Amhara und angrenzenden Gebieten weiterhin stark eingeschränkt. Institutionen der Regionalregierung Tigrays in den Bereichen Sicherheit, Landwirtschaft, Gesundheit und Bildung kommen aber langsam wieder auf die Beine. Die Polizei Tigrays wurde wiederaufgebaut. Zum ersten Mal seit drei Jahren fanden kürzlich in Tigray wieder Aufnahmeprüfungen für äthiopische Universitäten statt. Alle Universitäten des Regionalstaates haben den Lehrbetrieb wiederaufgenommen. Das oberste Gericht stellte Tigrays Kontrolle über parteinahe, halbstaatliche Unternehmen wieder her4 . Insgesamt erholt sich Tigray in Hinblick auf die Wiederherstellung von Dienstleistungen und Institutionen allmählich von den Auswirkungen des zweijährigen Krieges.

Offene Probleme und neue Herausforderungen

Trotz einiger Fortschritte verzögert sich die Umsetzung wichtiger Elemente des Abkommens erheblich. Die Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung der tigrayischen Kämpfer sollte zeitgleich mit dem Abzug der Eritrean Defense Forces (EDF) und der Amhara Special Forces (ASF) aus Tigray erfolgen. Letztere hatten während des Krieges in einer Allianz mit der äthiopischen Regierung gegen die Tigrayan Defence Forces (TDF) gekämpft. Berichten zufolge sind jedoch in einigen Grenzabschnitten im nördlichen Tigray weiter EDF-Einheiten auf äthiopischem Boden verblieben, während sich Amhara-Kräfte – darunter die Fano-Milizen und inoffizielle, lokale amharische Verwaltungsstrukturen – weiterhin im westlichen und südlichen Teil des Regionalstaates Tigray befinden, den sie nun für die Nachbarregion Amhara beanspruchen. Tigray-Kämpfer – die aus regionalen Spezialkräften des Tigraystaates und Freiwilligen hervorgegangen waren – haben der ENDF zwar schwere Waffen übergeben, die Kombattanten im Allgemeinen bleiben aber weiterhin mobilisiert. Die IRA argumentiert, dass eine vollständige Demobilisierung von einem eritreischen und amharischen Abzug abhängig sei, weil das Abkommen von Pretoria die Demobilisierung von der Sicherheitslage Tigrays abhängig gemacht hatte. Daher die Sackgasse.

Eine weitere große Herausforderung ist der Status der TPLF als legale politische Partei. Obwohl die TPLF von der Terrorismusliste gestrichen wurde, hat die Nationale Wahlbehörde Äthiopiens (National Electoral Board of Ethiopia - NEBE) den rechtlichen Status der TPLF nicht wiederhergestellt. Sie verweist dabei auf eine Gesetzeslücke. Das Wahlgremium möchte, dass sich die TPLF erneut als neue Partei registrieren lässt. Aus Sicht der TPLF stellt die Verweigerung der Wiederherstellung ihrer früheren Rechtspersönlichkeit einen Verstoß gegen das Pretoria-Abkommen dar. Die Partei erwartet, dass die äthiopische Regierung NEBE unter Druck setzt, die „alte“ TPLF wieder als legale politische Partei zuzulassen – einschließlich ihrer früheren Vermögenswerte. Die Angelegenheit bleibt bisher ungelöst.

Großes Einverständnis zwischen beiden Seiten herrscht bedauerlicherweise im Bereich der Rechenschaftspflicht für begangene Gräueltaten, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt. Hier wurden kaum oder gar keine Fortschritte erzielt. Sowohl die Übergangsregierung von Tigray als auch die Bundesregierung Äthiopiens befürworten einen lokal definierten „transitional justice”-Mechanismus zur Aufarbeitung, der bislang aber nicht umgesetzt wird. Die äthiopische Regierung lehnte eine Mandatsverlängerung für den Expertenausschuss unter dem UN-Menschenrechtsrat vehement ab. Die Übergangsregierung von Tigray stellte sich dieser Haltung zumindest offiziell nicht in den Weg.

West- und Süd-Tigray

Die vom Regionalstaat Amhara beanspruchten Teile des Regionalstaats Tigray sind mit Abstand der größte Knackpunkt – nicht nur hinsichtlich der Umsetzung des Abkommens, sondern auch seines Wortlauts selbst: Der Weg zur Lösung des Problems lässt sich bestenfalls aus der Bestimmung zur „Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ ableiten. Dieser Teil des Abkommens kann so interpretiert werden, dass die Verfügungsgewalt über das Territorium sich zunächst an der definierten föderalen Verwaltungsstruktur orientieren muss. Dies könnte dann nur durch gesetzlich festgelegte Verfahren – nicht durch gewaltsame Besatzung – verändert werden.

Im Mittelpunkt stehen das westliche Tigray (das hauptsächlich aus Wolqayt, Tsegede, Tsellemti und Humera besteht) und das südliche Tigray (Rayya) – Teile des Tigray Regional State, die derzeit von ENDF und in Teilen von ASF und Fano-Milizen kontrolliert werden. Einflussreiche politische Akteure Amharas beanspruchen diese Gebiete mit der Begründung, sie seien „praktisch Amhara“ gewesen, bevor sie in den ersten Jahren der TPLF-geführten Regierung (ab 1991) Tigray zugewiesen wurden. Diese Akteure vertreten nun die Position, dass sie von Tigray gewaltsam annektiertes Land „zurückerobert“ hätten. Sie verlangen, dass die Regierung in Addis Abeba diese Gebiete dem Regionalstaat Amhara zuschlägt.

Tigray dagegen nimmt auf die aktuelle Definition der Regionalstaaten gemäß der Bundesverfassung Bezug und fordert die Wiederherstellung seiner Kontrolle über beide Gebiete. Bislang gibt es jedoch keine Bewegung in diese Richtung. West-Tigray ist besonders wichtig, nicht nur, weil es viel fruchtbares Agrarland hat. West-Tigray bietet angesichts der angespannten Beziehungen Tigrays zu Eritrea auch den einzigen nutzbaren und strategisch wichtigen Zugang zu einem Nachbarland, dem Sudan.

Die politischen Kräfte Amharas behaupten, die äthiopische Regierung habe heimlich mit der TPLF vereinbart, das Land an Tigray zurückzugeben. Auf eine Anfrage im Parlament antwortete Premierminister Abiy Ahmed einen Monat nach der Unterzeichnung des Abkommens, dass der Status der Gebiete nicht in den Zuständigkeitsbereich des Pretoria-Abkommens falle. Im Juli 2023 teilte er dem Parlament mit, dass ein Referendum organisiert werde, sobald die Binnenvertriebenen (Internally Displaced Persons - IDPs) der Region in ihre Herkunftsgebiete zurückgekehrt seien. Die Bundesregierung legte einen Plan vor, um die vom Regionalstaat Amhara in diesen Gebieten eingerichteten Verwaltungsstrukturen abzubauen, Binnenvertriebene umzusiedeln, im Konsens neue Verwaltungsstrukturen einzurichten und anschließend ein Referendum zu organisieren.

Amhara-Vertreter wehren sich vehement gegen die Rückkehr von Binnenvertriebenen. Gleichzeitig wirft Tigray den Amhara-Regionalbehörden vor, Tigrayer aus dem Gebiet zu vertreiben und an ihrer Stelle ethnische Amharas anzusiedeln, um das demografische Gleichgewicht zu verändern. Nach Angaben von Human Rights Watch werden ethnische Tigrayer von den Amhara-Behörden und der Fano-Miliz weiterhin willkürlich festgenommen und nach Zentral-Tigray vertrieben. Die Interimsregierung von Tigray wird angesichts der Situation zunehmend ungeduldig und drängt die äthiopische Regierung, die Rückkehr von Binnenvertriebenen und tigrayischen Flüchtlingen aus dem Sudan zu unterstützen. Offenbar aufgrund des weiteren bewaffneten Konflikts zwischen der Fano-Miliz und der ENDF in der Region Amhara und Umgebung ist es der überlasteten äthiopischen Armee bisher nicht gelungen, die regionalen Verwaltungsstrukturen Amharas in Tigray zu entfernen.

Solange der Status dieser umstrittenen Gebiete nicht geklärt ist, bleibt die Organisation von Wahlen für Tigray undenkbar. Wahlen nur in einem Teil des Regionalstaats Tigray würden so interpretiert, als akzeptiere Tigray den Status Quo. Die IRA fordert sowohl die Rückgabe des verfassungsmäßigen Territoriums als auch die Organisation von Wahlen so schnell wie möglich. Derzeit gibt es aus der Region Tigray keine Abgeordneten im äthiopischen Parlament. Allerdings stößt die äthiopische Regierung auf heftigen Widerstand aus Amhara, wenn es darum geht, Grundlagen für die Bestimmung des Status der umstrittenen Gebiete zu schaffen. Die Auseinandersetzung um dieses Land ist wohl der schwierigste Aspekt bei der nachhaltigen Umsetzung des Pretoria-Abkommens und könnte zu einer Stagnation, dem Aussetzen oder sogar Scheitern des Friedensprozesses führen.

Eritrea

Nachdem das nördliche Nachbarland Eritrea im Tigray-Krieg die äthiopische Regierung unterstützt hat, haben sich seine Streitkräfte nie vollständig aus den zuvor von Tigray kontrollierten nördlichen Gebieten zurückgezogen. Das Land am Roten Meer behauptet, dass ihm diese Gebiete im Jahr 2002 von der internationalen Grenzkommission nach dem zweijährigen Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea (1998–2000) zugesprochen wurden. Es gibt jedoch übereinstimmende Berichte, dass die eritreische Truppenpräsenz über diese Gebiete hinausreicht und dass Eritrea weiterhin Fano-Milizen ausbildet und ausrüstet. Diese operieren im westlichen Tigray und führen in der Region Amhara einen offenen Krieg mit der ENDF, was auch eine Bedrohung für Tigray darstellt.

Im Pretoria-Abkommen (Artikel 8) heißt es eindeutig, dass die Sicherstellung des Abzugs von Nicht-ENDF-Streitkräften aus Äthiopien und die Gewährleistung der territorialen Integrität des Landes in der Verantwortung der äthiopischen Bundesregierung liegt. ENDF sollte demnach entlang der äthiopischen Außengrenze Stellung beziehen, was nicht passiert ist. Darüber hinaus haben hetzerische Rhetorik und Truppenbewegungen in der Region in letzter Zeit Sorgen über die Möglichkeit einer weiteren bewaffneten Konfrontation zwischen Äthiopien und Eritrea geweckt.

Die dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten wurde nur zwischen der äthiopischen Regierung und Tigray vereinbart. Gleichzeitig haben Amhara und Eritrea lebenswichtige Sicherheitsinteressen in und um Tigray. Durch ihre erheblichen militärischen Fähigkeiten verfügen sie zudem über ein faktisches Vetorecht über Frieden in Tigray und der weiteren Region. Am Ende der Verhandlungen in Pretoria spielten Vertreter der äthiopischen Regierung Bedenken über diese Lücke im Abkommen herunter. Sie argumentierten, dass Äthiopien genug Einfluss auf ihre beiden Kriegsverbündeten ausüben könne, um Widerständen zu begegnen. Ein Jahr später, da die Beziehungen zu Eritrea gekippt sind und Addis darum ringt, Kontrolle über zehntausende Fano-Milizen zurückzugewinnen, haben sich diese beiden Kräfte zur größten Achillesferse des Pretoria-Abkommens entwickelt.

Ausblick

Ein Jahr nach der Unterzeichnung des Pretoria-Abkommens geben die bisher erzielten Fortschritte immer noch Anlass zu der Hoffnung, dass der Frieden im Laufe der Zeit ausgeweitet und vertieft werden kann. Es ist jedoch klar, dass die Bewältigung der anspruchsvollsten, noch ausstehenden Komponenten des Abkommens über die Unterzeichnenden von Pretoria hinausreicht. Dazu gehört der Status der umstrittenen Gebiete im westlichen und südlichen Tigray, die Rückkehr der Binnenvertriebenen, die vollständige Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und letztendlich die Organisation von Wahlen. Sie erfordern eine erweiterte Betrachtung, die die breitere Gruppe von Konfliktakteuren berücksichtigt. Diese Probleme können auch nicht auf unbestimmte Zeit verschoben werden – insbesondere nicht im größeren regionalen Kontext, der reichlich „Gelegenheiten“ für neue Konflikte und Eskalationen bietet. Verzögerungen und Stagnation führen bereits zu Frustrationen und Spannungen zwischen der TPLF, der tigrayischen Opposition und der Übergangsregierung von Tigray und gefährden so auch die bisher erzielten Fortschritte.

Selbst wenn diese großen Herausforderungen angegangen und gelöst werden, wird die Friedenskonsolidierung in Äthiopien, einschließlich Tigray, weiterhin von einem politischen Prozess zur Überwindung der Grundprobleme hinter den Konflikten im Land abhängen. Dazu zählt der grundlegende Gesellschaftsvertrag, das Spannungsverhältnis zwischen Individualrechten und ethnisch definierten Gruppenrechten, die Verwirklichung und der Schutz von Rechtsstaatlichkeit, die grundlegende Konfiguration des Staates, Mechanismen der Machtteilung und -verteilung sowie andere strukturelle Fragen. Solange diese nicht angegangen werden, ist die Fortsetzung zyklischer Konfliktgewalt nur allzu wahrscheinlich.

  • 1Die genaue Zahl der Kriegstoten wird wahrscheinlich nie festgestellt werden. Im Oktober 2023 erklärte die Interimsregierung des Tigray Regional State, dass sie über die genaue Zahl der Opfer informiert sei, es aber nicht der richtige Zeitpunkt sei, diese bekannt zu geben. ENDF, EDF und ASF haben nie Opferzahlen bekannt gegeben. Olusegun Obasanjo, der Hauptvermittler des Pretoria-Abkommens, spricht von 600.000 Toten infolge der Kämpfe und der humanitären Lage während des Krieges.
  • 2Der frühere Präsident der Tigray-Regierung, Dr. Debretsion Gebremikael, behielt seine Position als Vorsitzender der TPLF.
  • 3Grobe Unregelmäßigkeiten und Diebstahl von Hilfsressourcen durch verschiedene Parteien im Dezember 2022 führten zu einer Aussetzung der Hilfslieferungen
  • 4Der Endowment Fund for the Rehabilitation of Tigray (EFFORT) ist ein großes Unternehmenskonglomerat in der Region.