(Ver-)Erben – Vermögensungleichheit und der Anspruch auf gerechte Teilhabe

Veranstaltungsbericht

Die diesjährige Sommertagung der Grünen Akademie beschäftigte sich mit der gesellschaftlichen Praxis des (Ver-)Erbens: Im Blickpunkt waren vor allem die wachsende Ungleichverteilung von Vermögen und der Anspruch auf gerechte Teilhabechancen.

Mitarbeiter:innen sitzen in einem Kreis in einem Büroraum und diskutieren
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Die Sommertagung der Grünen Akademie am 22. September 2023.

Im Rahmen ihrer Sommertagung beleuchtete die Grüne Akademie umfassend die Erbschaftssituation in Deutschland und diskutierte mögliche Lösungsansätze zur Verringerung einer weiterhin zunehmenden ökonomischen Ungleichheit. Laut DIW (DIW Wochenbericht 2021) geht hierzulande die Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen an die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung. Menschen mit niedrigeren Einkommen, Menschen aus Ostdeutschland sowie Frauen erben insgesamt weniger. Vor diesem Hintergrund wurden mögliche Handlungsspielräume grüner Politik hin zu einer gerechteren Teilhabesituation diskutiert.

Eröffnet wurde die Tagung durch Stefan Gosepath (Philosophie, Freie Universität Berlin & Grüne Akademie), der normativ in die Debatte einführte, und Patrick Sachweh (Soziologie, Universität Bremen), der einen empirischen Einblick in die Gerechtigkeitswahrnehmung von Erbschaftsbesteuerungen gab.

Gosepath wies zunächst darauf hin, dass die Praxis des (Ver-)Erbens nicht ohne Weiteres mit den Gerechtigkeitsprinzipien einer nach dem Leistungsprinzip organisierten Demokratie vereinbar sei. Dies gelte es auch und gerade vor dem Hintergrund der Erbschaftswelle der letzten Jahrzehnte zu bedenken. Er argumentierte, dass intergenerationelle Vermögenstransfers gegen eine faire Chancengleichheit, gegen meritokratische Prinzipien, gegen demokratische und soziale Gleichheit sowie gegen die Prinzipien einer Verteilungsgerechtigkeit verstießen. Beispielsweise stünde dem Argument einer Begünstigung jüngerer Generationen innerhalb einer Familie entgegen, dass die meisten Menschen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren erben, zu einem Zeitpunkt also, zu dem sie in der Regel bereits stabile Lebensverhältnisse etabliert hätten. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen und ökonomischen Unsicherheit in Deutschland sprach sich Gosepath für progressive Lösungen aus, die insbesondere breite Individualförderung und generell Ausgaben im Bildungssektor priorisieren. Als konkretes Beispiel wurde die vor allem durch Thomas Piketty in den Diskurs eingeführte Idee eines beitragsgleichen „Grunderbes“ für alle jungen Menschen genannt, die es zu diskutieren lohne. Gleichzeitig müsste eine stärkere Kontrolle und Regulation im Bereich der nationalen und internationalen Stiftungsgründung erfolgen, da diese häufig als Umgehungsstrategie von Erbschaftsbesteuerung genutzt werde. Durch Maßnahmen dieser Art seien konkrete Schritte zu einem anderen gesellschaftlich-politischen Umgang mit der Praxis der (Ver-)Erbens möglich.

Patrick Sachwehs Vortrag fragte vor allem nach empirisch belegbaren Gründen für die allgemeine Akzeptanz von Erbschaften in der Bevölkerung. Des Weiteren stellte er die Korrelation zwischen Einkommenshöhe und Erbschaftsvolumen dar, durch die sich die Ungleichheiten in der Vermögensverteilung verstärkt hätten. Dazu hat Sachwehs Forschung gezeigt, dass ein erheblicher Bevölkerungsanteil die tatsächliche Vermögensungleichheit unterschätzt. Gleichzeitig werde die jeweils eigene Betroffenheit von entsprechenden Besteuerungen falsch eingeschätzt. Dabei dürfe jedoch eine in Teilen skeptische Haltung der Bevölkerung zu höheren Erbschaftssteuern nicht nur über mangelnde Informiertheit erklärt werden.
Erben sei in einem größeren Kontext von Gerechtigkeitsvorstellungen zu verorten: In Hinblick auf die Gerechtigkeitswahrnehmung von Erbschaften, Schenkungen und deren Besteuerung liege der zentrale Konflikt in einem Spannungsverhältnis zwischen der privaten Sphäre, die vielfach nach einem Prinzip familiärer Solidarität organisiert sei, und der Sphäre der Gesellschaft, die sich in der Regel an bestimmten Leistungsprinzipien orientiere.
Dabei illustrierten vor allem zwei Narrative diesen Konnex: einerseits das Narrativ eines ‚intergenerationalen Selbst‘, das sich als eingebettet in die erweiterte Familiengeschichte versteht. Innerhalb dieses Narrativs kann der intergenerationelle Vermögensaufbau als verdient empfunden werden, wenn zum Beispiel die eigenen Vorfahren mittels meritokratischen Strebens einen sozialen Aufstieg hin zu mittelständischen Verhältnissen vollzogen haben.
Ein zweites Narrativ eines „dynastischen Familieneigentums“ beschreibt die Beziehung zu Familienerbschaften am Beispiel von wohlhabenden finnischen Familien. In diesem Narrativ stellte sich die symbolische Bedeutung und der Verpflichtungscharakter des ererbten Vermögens als essentiell heraus, da es dieses an zukünftige Generationen weiterzugeben gelte.
Beiden Narrativen sei gemein, dass Erbschaften als Teil eines ‚kollektiven‘ familiären Besitzes gelten und somit bestimmten Regeln und Gebrauchsweisen unterliegen. Es würden beispielsweise Normen tradiert, das Ererbte zu erhalten oder gar zu mehren, beziehungsweise es zumindest für bestimmte Zwecke einzusetzen.

Vor diesem Hintergrund wurde der Gemeinwohlbeitrag von Erbschaften sowie die Rolle von Steuern als Beitrag zum demokratischen Gemeinwesen, die Rolle staatlicher Lenkung und spezifisch die Relevanz privaten Immobilienbesitzes angesichts steigender Immobilienpreise von den Mitgliedern diskutiert. Dabei vertraten viele Mitglieder die Ansicht, dass sich Besteuerungspläne dezidiert an sehr hohe Erbschafts- und Vermögensvolumen richten müssten.

In drei parallelen Themenforen diskutierten die Mitglieder anschließend vertiefend erstens die normativen Kriterien des (Ver-)Erbens aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive nach einem Impulsvortrag von Christian Neuhäuser (Philosoph, TU Dortmund). Das zweite Forum beleuchtete mit Marc Buggeln (Historiker, Universität Flensburg) die Sozialstrukturen von Erbschaftssteuern in historischer Perspektive seit der französischen Revolution und das dritte Forum nach einem Input von Julia Eckey (Geschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung der Grünen) die Gegenargumente und -narrative zur Erbschaftssteuer.
 
Im Rahmen der Abschlussdebatte gab Katharina Beck (MdB & finanzpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen) abschließend Einblick in die aktuelle Diskussionslage im Bundestag. Diskutiert wurden vor allem politische Instrumente, die progressive Ziele mit möglichen Änderungen im Steuerrecht kombinieren könnten. Insbesondere die Generierung von Chancen für jüngere Menschen, generell Investitionen im Bildungs- und Infrastrukturbereich sowie zur Umsetzung sozial-ökologischer Transformationsziele wurden in diesem Zuge benannt. In der Plenardiskussion mit Beck wurde wiederholt betont, dass sich Maßnahmen zu einer potentiell sozialeren Umverteilung und Steuerreformen maßgeblich an Prinzipien grüner Politik – an demokratischen Zielen, dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und einer Verbesserung von Chancengerechtigkeit – orientieren müssten.