«Ich fühle mich noch sicher in Deutschland»

Interview

Yotam ist 23 Jahre alt. Er ist Krankenpfleger und arbeitet in einem geschützten psychiatrischen Bereich in der Suchtabteilung.

Yotam

7. Oktober 2023 

Als ich die ersten Nachrichten erhielt, war das ein Schock. Meine Familie kommt aus Israel. Ich habe auch Freunde und Verwandte in Beersheba. Bisher kannte ich das nur als entfernten Konflikt. Aber dass jetzt Terroristen in die Dörfer und Kibbuze eingedrungen sind, das war ein Schlag in die Magengrube. Jetzt kamen Nachrichten von meiner Familie, dass sie in Sicherheit sind. Damit meinten sie nicht die Raketenangriffe, sondern die Angriffe der terroristischen Hamas auf ihre Häuser und Wohnungen.

In meiner Gemeinde haben wir sofort überlegt, wie wir uns solidarisieren und helfen können.  Außerhalb der Gemeinde war das etwas anders. Da taten sich viele schwer, sich mit den Menschen in Israel zu solidarisieren, obwohl sie in Deutschland vielleicht als links oder sehr offen gelten. Einige haben sich eher mit den Menschen in Gaza solidarisiert. Aber auch sehr undifferenziert, weil sie sich nicht von der Hamas oder überhaupt von der Führung abgegrenzt haben, sondern immer gesagt haben, wir müssen uns nicht erklären für das, was wir sagen. Wir sind nicht für die Terroristen, wir sind für den Frieden. Nur hätten sie auch sagen müssen, dass der 7. Oktober ein Völkermord an den Menschen in Israel war. Dass sie das nicht klar gesagt haben, hat mich schockiert. In diesem Konflikt scheint es nur ein Schwarz-Weiß-Denken zu geben. Man stellt sich auf eine Seite und bleibt dort. Aber das ist kein Fußballspiel. 

Viel Solidarität und Anteilnahme

Auf der Arbeit und in meinem nichtjüdischen Familien- und Freundeskreis gab es viel Solidarität und Anteilnahme. Auch wenn sie nicht pro-israelisch waren, waren sie sehr offen.

Ich habe eine Familie aus Kfar Asa kennen gelernt, sie waren auf Einladung von Borussia Dortmund hier, um den Kindern etwas Abwechslung zu bieten. Sie haben mir erzählt, dass sie 30 Stunden im Bunker waren, die Frau hat ihren Mann und ihren Bruder verloren. Sie waren mittendrin und haben einfach «funktioniert». Das war für mich das prägendste Erlebnis der letzten Wochen.

Es ist mehr Vorsicht geboten

Es ist richtig, ich erkläre meinen Namen weiterhin als alttestamentarisch und sage nur, dass es ein jüdischer Name ist, wenn ich mich sicher fühle. Daraus ergeben sich auch wunderbare Gespräche, weil die Leute sagen, okay, du bist Jude, lass mich meine Fragen stellen, und das finde ich auch toll.
Deswegen mache ich zum Beispiel auch bei dem Projekt «Meet The Jew» mit. Da gibt es Leute, die sind interessiert und ich kann ihnen einfach meine Sicht auf meine Religion, auf das Judentum erklären.

Ich bin etwas vorsichtiger geworden, wenn ich offen auf Hebräisch spreche. Ich spreche es nur in einem sicheren Umfeld. Denn es ist ein Teil der Resilienz zu sagen, wir sprechen es trotzdem, wir zeigen trotzdem unsere Identität. Wir schweigen in bestimmten Situationen, aber wir sprechen trotzdem frei.

Ein guter Freund kam während seines Wehrdiensturlaubs aus Israel zurück und wir trafen uns alle wieder. Es gab Leute, die nicht mit der Wahrheit antworten wollten, wenn man sie fragte, welche Sprache sie sprechen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir Maltesisch sagen, weil es eine Sprache ist, die auch eine semitische Sprache ist. Das war vorher nicht der Fall. Ich habe zum Beispiel ein Praktikum in Neukölln gemacht, im Rollberg-Kiez, und einer der Projektleiter war Israeli, da haben wir uns natürlich auf Hebräisch unterhalten. Na ja, mitten in Neukölln. Das ist ein bisschen paradox, weil man denkt, dass das genau der Bezirk ist, wo es Probleme geben könnte.

Jetzt wohne ich in dem Stadtteil Oberbilk in Düsseldorf, der auch sehr muslimisch geprägt ist.
Ich spreche vielleicht nicht mehr in jedem Laden hebräisch, das war früher etwas anders. Es hat sich schon etwas verändert. 
Aber ich bin ein bisschen zurückhaltend mit Verallgemeinerungen, dass es eine generelle Verunsicherung und Angst unter Jüdinnen und Juden gibt.  Trotz all dieser Erfahrungen in den letzten Wochen und der massiven antisemitischen Stimmung in Teilen des Landes würde ich sagen, dass sich in meinem Leben nicht so viel verändert hat.

Ich fühle mich sicher in Deutschland 

Wir hatten immer die Situation in der Familie, dass wir gesagt haben, wenn wir jetzt in den Laden gehen, sprechen wir kein Hebräisch. Das wird sich auch nicht so schnell ändern. Aber wir haben auch immer gute Erfahrungen gemacht. Ich fühle mich immer noch sehr sicher in Deutschland, als Jude, als Deutscher überhaupt. Wenn ich jetzt nach Israel schaue, würde ich sagen, da fühle ich mich im Moment nicht sicher und das war lange Zeit ein bisschen anders und für mich bisher auch der einzige Ort, den ich als «gefestigt» empfunden habe. Aber in den letzten Jahren hat sich in Israel sehr viel verändert, es hat sich politisch schwierig entwickelt und ist instabiler, als ich gedacht habe. 

Also: Ja, in Europa, in Deutschland fühle ich mich als Jude in der Diaspora noch sehr wohl auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Wir haben noch viel, woran wir festhalten können. Man muss unterscheiden, was ist berechtigte Kritik an Israel und was ist ganz klar antisemitisch, und da sind die Grenzen fließend.

Ich bin immer sehr offen auf Menschen zugegangen und habe immer gute Erfahrungen gemacht. Jeder hat schon mal vom Judentum gehört, jeder kennt irgendwie den Glauben, es gibt unzählige Verbindungen, aber die wenigsten kennen Juden persönlich. Es ist sicher auch eine gewisse Faszination zu sagen, okay, jetzt lerne ich endlich jemanden kennen, über die ich bislang nur gelesen oder die Serie «Unorthodox» gesehen habe. Das Judentum spielt eine besondere Rolle und ich würde mir wünschen, dass dieses Interesse auch auf andere Religionen und andere Gruppen überspringt. Das würde uns allen helfen.    

Religion ist eine private Angelegenheit

Ich wünsche mir die Freilassung der Geiseln und eine politische Lösung des Konflikts, der Menschen auf beiden Seiten das Leben kostet.
Ich wünsche mir auch, dass meine Gemeinde den Konflikt differenzierter betrachtet. Es sind viele Menschen betroffen: Beduinen, Gastarbeiter, Touristen, die Zivilisten in Gaza - wir haben nicht das Monopol auf die Opfer.  Es ist eben kein Fußballfeld mit Mannschaften, die nicht miteinander reden.

Etwas zurückhaltend blicke ich in die Zukunft. Ich will nicht zu schwarz sehen, aber der Zulauf zur AfD macht mir Sorgen. Hier im Westen habe ich noch eine gewisse Hoffnung, dass es eine stabile Mitte gibt. Aber das Abdriften der CDU in Richtung AfD sind Tabubrüche, durch die sich andere bestätigt fühlen. Ich habe auch Juden getroffen, die in der AfD sind. Eigentlich undenkbar.

Aber ich hoffe, dass sich alle progressiven Kräfte  für ein vielfältiges demokratisches Miteinander zusammenschließen. Sonst bekommt man ja gleich Depressionen. 

Das Gespräch führte Annette Maennel Mitte Dezember 2023.