Die Sprache des Antisemitismus: Judenfeindliche Rhetorik nach dem 7. Oktober 2023

Analyse

Die virulenten Parolen auf den Straßen, die ausufernde Hasssprache im Internet, die relativierenden Kontextualisierungen in der Ja-Aber-Rhetorik, das kommunikativ beredte Schweigen zum Pogrom. Dies ist seit dem 7. Oktober 2023 in aller Munde, doch für die Antisemitismusforschung kein neues Phänomen und daher auch keine Überraschung.

Das Wort Antisemitismus in einem Wörterbuch.

Seit vielen Jahren warnt die Antisemitismusforschung vor genau diesen Manifestationen, warnt vor Judenhass als breitem großflächigem Phänomen in der Mitte der Gesellschaft, vor allem in Form von Israelhass.  Denn israelbezogener Antisemitismus ist im 21. Jahrhundert die bei weitem häufigste und breit akzeptierte Form der Judenfeindschaft (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013 und Schwarz-Friesel 2019). Dieser Antisemitismus breitet sich gerade immer weiter aus, an den Universitäten, in den Stiftungen, in der Kultur; die geistigen Brandstifter, sie kommen aus der gebildeten linksorientierten Mitte, und sie affizieren mit ihrer toxischen Rhetorik die Gesellschaft. Dafür erhalten sie manchmal sogar Preise. So verstärkt sich die Normalisierung judenfeindlichen Gedankengutes rasant.

Israelhass ist kein autonomes, kein wirklich neues Phänomen, sondern untrennbar gekoppelt an die uralte Judenfeindschaft, deren Tradition auf diese Weise modern fortgeführt wird. Israelbezogener Antisemitismus weist daher alle Merkmale des klassischen Judenhasses und auch seine Obsession auf: Die Zuordnung von erfundenen negativen Eigenschaften (wie rachsüchtig, gierig, räuberisch) und kollektive Projektion (auf alle Juden, auf den gesamten Staat Israel), Ab- und Ausgrenzung mit einem unikalen Anspruch (größtes Übel in der Welt) sowie absolute Entwertung (hat keine Existenzberechtigung, ist ein Kolonialstaat). Und die moralische Überheblichkeit mit ihren Belehrungen, ihrer uralten Hybris gegenüber der jüdischen Lebensweise.

Dass Israel, als das wichtigste Symbol für jüdisches Leben in der Welt, im Fokus aller Antisemiten steht, folgt der Chamäleon-artigen Wandlungsdynamik von Judenhass: Im Laufe der Jahrhunderte hat sich Judenfeindschaft stets den Umgebungen und gesellschaftlichen Normen angepasst, um unter Beibehaltung des Ressentiments in der jeweils neuen Phase möglichst effektiv die Existenzform jüdischen Lebens zu attackieren. Diese opportune Adaption begleitet die ansonsten konstant bleibende Judenfeindschaft in ihrer Kontinuität, die sich im Sprachgebrauch in nahezu identischen Phrasen und Argumentationsmustern zeigt (vgl. Schwarz-Friesel 2019 und 2022).

Seit seiner Gründung ist der jüdische Staat für Antisemiten DIE Provokation. Nach 2000 Jahren Ausgrenzung, Benachteiligung und Verfolgung erlaubt Israel genuin jüdische Lebensweise: Daher ist Israel der Stachel im modernen antisemitischen Geist (vgl. Schwarz-Friesel 2021). Und Israelhass ist Judenhass, nichts Anderes. Statt auf Juden/Judentum wird auf Israel referiert. Eine einfache sprachliche Substitution. Durch diese Camouflage will man sich in der Post-Holocaust-Gesellschaft gegen den Vorwurf des Antisemitismus immunisieren. Der Nahostkonflikt fungiert für diese „Ich-bin-kein-Antisemit-Antisemiten“ lediglich als Vorwand und Katalysator. Abwehr und Leugnung gehören folglich untrennbar zum israelbezogenen Antisemitismus dazu. Gerade erlebt man diese Abwehr auch als dröhnendes Schweigen zu den Verbrechen der Hamas in Kreisen, die sich sonst stets medial als mahnende Stimmen für den Weltfrieden und gegen Rassismus aufschwingen. Oder als „Free Gaza“-De-Realisierungen.

Der für Judenhass typische Veränderungs-, Auslöschungs- und Erlösungswille wird auf Israel projiziert: Die eliminatorischen Forderungen verlangen je nach politischer Richtung entweder die Zerstörung oder Auflösung  bzw. die radikale Veränderung in einen multi-religiösen Staat. Und sie führen so die kulturhistorische Tradition fort, Juden als das Übel in der Welt zu sehen.  Die „Israelisierung der antisemitischen Semantik“ (Reinharz/Schwarz-Friesel) zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass klassische Stereotype (Kindermörder, Landräuber, Krankheitsauslöser) auf Israel projiziert werden, zum anderen, dass Juden überall auf der Welt kollektiv wegen des Konfliktes attackiert werden.

Doch vielen ist es auch jetzt – nach dem Massaker an über 1400 Juden - wichtiger, sich „ihre Kritik“ zu erlauben, als gegen Judenhass zu argumentieren. Ist eine nicht antisemitische Kritik problemlos möglich? Selbstverständlich. Wir sehen und hören sie jeden Tag regelmäßig in der Presse. Und gerade bei dieser Kritik sehen wir den Unterschied: Politisch verantwortungs- und geschichtsbewusste Kritiker benutzen keine Derealisierungen (Genozid, Holocaust an den Palästinensern), keine Hyperbeln (das schlimmste Unrecht), keine Dämonisierungen (Teufelsstaat) und NS- und Kolonialvergleiche (SS-Staat, Apartheidsstaat), keine Dehumanisierungsmetaphern (Unrat, Pack) und vor allem auch keine judenfeindlichen Stereotype (s. Schwarz-Friesel 2019 und 2022). Sie stellen Israel nicht an einen einzigartigen Pranger oder befürworten einen Boykott oder das Ende der Selbstverteidigung. Sie geben auch keine beschämenden Ratschläge und arroganten Ermahnungen. Sie kontextualisieren den Mord an Juden nicht und geben „Erklärungen“, die eine Täter-Opfer-Umkehr artikulieren und Judenhass kausal auf das Verhalten der israelischen Regierung zurückführen. Und sie verwenden auch keine den Vorwurf antizipierenden Leugnungsstrategien a la „Ich bin kein Antisemit, aber…“. Dieser Rechtfertigungs- und Selbstlegitimierungszwang findet sich ausschließlich bei Personen, die unter dem Deckmantel der Kritik antisemitische Inhalte artikulieren. Israelische Politik kritisieren, das kann man jederzeit frei tun. Öffentliche Medien und soziale Netzwerke sind voll von solchen Kommentaren. Wer dies jedoch unverhältnismäßig-obsessiv tut und dabei judenfeindliche Rhetorik benutzt, der artikuliert keine Kritik, sondern Antisemitismus - und dieser muss ohne Wenn und Aber als solcher benannt und zurückgewiesen werden.

Eine erste Version des Textes erschien 2023 beim jüdischen Magazin für Kultur und Politik Nu und auf HaGalil.

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Weiterführende Literatur

Schwarz-Friesel, M., 2022. Judenfeindschaft kam stets aus der gebildeten Mitte. Gedenkrede vor dem österreichischen Parlament zur Befreiung des KZ Mauthausen am nationalen Gedenktag in Wien

Schwarz-Friesel, M./Reinharz, J., 2013. Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin u.a.: De Gruyter (Europäisch-jüdische Studien – Beitrag 7).

Schwarz-Friesel, M. (Hg.), 2015a. Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft. Baden-Baden: Nomos.

Schwarz-Friesel, M. 2015b. Aktueller Antisemitismus. Konzeptuelle und verbale Charakteristika.

Schwarz-Friesel, M., 2015c. Antisemitische Hass-Metaphorik. Die emotionale Dimension aktueller Judenfeindschaft. In: Interventionen – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik 6 (2015a). S. 38–44.

Schwarz-Friesel, M., 2019. Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Leipzig: Hentrich & Hentrich. Siehe auch »

Schwarz-Friesel, M., 2021. Israelbezogener Antisemitismus und der lange Atem des Anti-Judaismus.

Schwarz-Friesel, M., 2022. Toxische Sprache und geistige Gewalt. Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen. Tübingen: Attempto.

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