Letzte DDR-Delegation in Israel: „Es gab großen Respekt vor der friedlichen Revolution“

Interview

Eine Abstimmung in der Volkskammer, ein Eklat in Jerusalem und ein KZ-Häftling, der für den ostdeutschen Besuch einen Schwur bricht. Aus den Erinnerungen von Konrad Weiß.

Aschefeld am Weissen Haus in Auschwitz-Birkenau.
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Aschefeld am Weißen Haus in Auschwitz-Birkenau: Das sogenannte Weiße Haus, ursprünglich ein Bauerngehöft, war die erste Vergasungsstätte in Auschwitz-Birkenau. Auf den Wiesen um das Gehöft herum ließ die SS später die Asche der ermordeten Menschen verstreuen. Die Grundmauern des Hauses wurden 1965 von Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen aus der DDR freigelegt und seither so konserviert.

Am 12. April 1990 kam es in Ost-Berlin zu einem Moment, der in den Turbulenzen der Wendezeit fast unterging. Die erste frei gewählte Volkskammer tagte im Palast der Republik und bat „die Juden in aller Welt“ um Verzeihung für „Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder“. Auch „das Volk in Israel“ wurde um Verzeihung gebeten „für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigungen jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande“. Weiter hieß es in der Resolution: „Wir erklären, uns um die Herstellung diplomatischer Beziehungen (…) zum Staat Israel bemühen zu wollen.“

Bei der Abstimmung gab es 21 Enthaltungen, keine Gegenstimmen. Einer nach dem anderen im Saal stand auf, einige schnell und entschieden, andere langsam, unsicher. Auf dem Video, das man sich auf der Website des Deutschen Bundestages ansehen kann, spürt man das Zögern, die Fragen, ob das richtig ist, was es zu bedeuten hat. 40 Jahre lang hatte die DDR sich der Anerkennung Israels verweigert und die PLO mit Waffenlieferungen unterstützt. Damit war jetzt Schluss, in jenem Moment im Palast der Republik, den es nicht mehr gibt, genauso wie die DDR.

Aber Konrad Weiß ist noch da, der Mann, der die Israel-Resolution kurz nach dem Mauerfall initiiert hat. Ein Interview mit dem Filmemacher Konrad Weiß, er war Ende 1989 Mitbegründer der Bürgerbewegung "Demokratie jetzt" in der DDR, arbeitete 1965 für die Aktion Sühnezeichen in Auschwitz und reiste im Juni 1990 mit den Präsidentinnen der Volkskammer und des Bundestages nach Israel. Die Fragen an ihn stellte Anja Reich aus der Redaktion der Berliner Zeitung.

Herr Weiß, Sie haben kurz vor dem Ende der DDR noch dafür gesorgt, dass Israel als Staat anerkannt wurde. Wie kam es dazu?

Anerkannt wurde Israel nicht mehr von der DDR, aber wir haben in der Volkskammer die Gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der wir nicht nur die Juden und Israel, sondern auch die von Hitler-Deutschland überfallenen Völker um Vergebung gebeten haben. Es war wichtig, dass dies eine Initiative des Parlaments, nicht der Regierung war.

Aber warum ausgerechnet Sie, als Katholik?

Das hat mit meinem Aufenthalt in Auschwitz 1965 zu tun.

Was meinen Sie mit Aufenthalt?

Ich gehörte damals zur ersten Gruppe, die mit der Aktion Sühnezeichen aus der DDR nach Auschwitz gepilgert ist. Wir wollten mit unserer Arbeit dort ein Zeichen der Versöhnung setzen. Beim ersten Versuch ein Jahr zuvor waren wir von den DDR-Behörden nicht über die Grenze gelassen worden.

Warum nicht?

Die SED war der Meinung, was wir in Auschwitz wollten, sei überflüssig. Es gebe ein Freundschaftsabkommen mit Polen, das reiche. Dass Versöhnung nur zwischen Menschen geschehen kann, nicht aber zwischen Staaten oder Institutionen, haben die Kommunisten nie begriffen. 1965 sind wir dann einzeln über die Grenze gefahren, von Görlitz aus, und haben uns erst in Polen als Gruppe zusammengetan.

Wir griffen in Asche, die zu Erde geworden war

Was haben Sie in Auschwitz gemacht?

Die Grundmauern des sogenannten Weißen Hauses freigelegt, der ersten Vergasungsstätte in Birkenau, ein ehemaliges Bauernhaus, das die SS umfunktioniert hatte.

Wie sah Auschwitz damals aus?

In Birkenau lagen die Betonklötze der von der SS gesprengten Vergasungsbunker und Krematorien. Es gab einen Wald aus Schornsteinen, die Überreste zahlloser Baracken. Wo die Asche der Ermordeten verstreut worden war, waren jetzt Wiese und Sträucher. Wenn wir Gras aushoben, griffen wir in Asche, die zu Erde geworden war. Wir fanden Knochenreste, Gebissteile, Spielzeug, Brillen. Es war schrecklich. Wir schliefen in ehemaligen SS-Baracken. Im Dachgeschoss gab es eine Kapelle, in der wir nachts abwechselnd Mahnwache hielten. Ich war Anfang 20 und habe damals begriffen, was Judenhass bewirkt hat.

Was wussten Sie zu diesem Zeitpunkt über Auschwitz und über den Nationalsozialismus? Was hatten Sie in der Schule gelernt?

In der 8. Klasse waren wir in Buchenwald, und ich erinnere mich, wie mein Mitschüler Detlef, der ein großes Maul hatte, sagte: „Dann lass uns mal reingehen, in die Folterbude.“ Und wie das den Häftling, der uns die Führung gab, aufgeregt hat. Zu diesem Zeitpunkt war das Gedenken der DDR bereits sehr formalisiert.

Was meinen Sie damit?

Die DDR hat sich als antifaschistischen Staat bezeichnet, in dem der Faschismus mit Stiel und Stumpf, wie es im Parteijargon hieß, ausgerottet war. Aber das war natürlich nicht der Fall. Männer, die 1945 aus dem Krieg kamen, wurden nicht von einem Tag auf den anderen zu Demokraten. Und wer gerade noch Juden die Schuld an allem gegeben hatte, änderte seine Meinung auch nicht so schnell. Die DDR schlug sich einfach auf die Seite der Sieger, wir hatten damit nichts zu tun, hieß es. Die Bösen sind die Kapitalisten im Westen, wo ja wirklich viele hochrangige Nazis unterkamen. Aber auch hier, bei uns, blieb vieles unbewältigt, wurden Schuld und Versagen verdrängt.

In der Ausstellung über Juden in der DDR, die im Jüdischen Museum war, wurden Ausschnitte von Defa-Filmen gezeigt, die die Judenverfolgung im Dritten Reich thematisiert haben: „Professor Mamlock“, „Jacob, der Lügner“, „Nackt unter Wölfen“ …

Ja, auch Bücher gab es. Heinz Knoblochs Buch „Herr Moses in Berlin“ beginnt mit dem wunderbaren Satz: „Misstraut den Grünanlagen“, und in der DDR gab es viele Grünanlagen, unter denen sich schwierige Geschichte verbarg. Knoblochs Buch hat vielen die Augen geöffnet. Aber das eigentlich Jüdische wurde verschleiert in der DDR. Und Juden wurden benachteiligt.

Kommunisten bekamen doppelt so viel Rente wie jüdische Opfer

Können Sie ein Beispiel nennen?

Meine Frau und ich haben einmal für eine Freundin, deren jüdischer Vater gestorben war, eine Trauerfeier ausgerichtet, hier an diesem Esstisch im Wohnzimmer. Um den herum saßen Menschen, die fast alle im KZ gesessen hatten, und plötzlich gerieten die sich in die Haare. Meine Frau und ich verstanden erst nicht warum, bis wir begriffen: In der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, bekamen die kommunistischen „Kämpfer“ doppelt so viel Rente wie die jüdischen „Opfer“. Davon wusste kaum jemand. Das war eines der ersten Dinge, um die ich mich als Abgeordneter gekümmert habe. Die Regierung de Maizière hat das dann sehr schnell verändert.

Sie selbst haben auch Filme über den Nationalsozialismus gedreht, über einen jüdischen Jungen zum Beispiel.

Ja, mit dem Schriftsteller Walther Petri zusammen, über das Tagebuch des Dawid Rubinowicz, der in Treblinka ermordet wurde. Das Buch war in der DDR erschienen. Um den Film aber mussten wir lange kämpfen und dreimal das Szenarium umschreiben. Einmal kam es aus irgendeiner Dienststelle zurück, und das Wort „Jude“ oder „jüdisch“ war jedes Mal, wenn es vorkam, rot angestrichen.

Warum das?

Die offizielle Sprachregelung war „Jüdischer Mitbürger“ oder „Bürger jüdischen Glaubens“. Ein anderer Einwand gegen den Film war, dass der Film zu starke Sympathien für das Judenkind Dawid wecken könnte – und damit für Israel. Für mich war klar: Das ist nicht mehr Antizionismus, sondern Antisemitismus. Denn Israel gibt es ohne Juden nicht.

Woher kam das in der DDR? Direkt nach dem UN-Beschluss 1947 gab es ja noch eine positive Haltung zu Israel.

Ja, und die Gründung Israels wurde ausdrücklich begrüßt, als Heimat für Tausende Menschen, denen der Hitlerfaschismus schwerstes Leid zugefügt hatte. Die neue Haltung kam mit dem Kalten Krieg, als klar war, Israel gehört zum kapitalistischen Lager, und aus der Sowjetunion, wo es starken Antisemitismus gab, kam sie auch. Der Jude als Vertreter des Großkapitals, die jüdische Bourgeoisie. Da vermischte sich vieles auf vielen Ebenen. Kurz vor dem Mauerfall war die DDR dann plötzlich um gute Beziehungen bemüht. Honecker wollte Kredite aus den USA, die jüdische Community dort stellte sich quer, weil es keinerlei Wiedergutmachungsbemühungen vonseiten der DDR gegeben hatte, nie. Die DDR hatte immer nur Palästina unterstützt.

Zurück zur Resolution in der Volkskammer. War es schwer, die neu gewählten Abgeordneten zu überzeugen, Israel um Vergebung zu bitten?

Ich wollte, dass gleich die erste Sitzung nach der Wahl damit beginnt. Aber das war nicht möglich.

Warum nicht?

Da waren viele Formalien zu erledigen. Aber bei der zweiten Sitzung ging es. Zu den Verfassern gehörten auch Vertreter anderer Parteien: Reinhard Höppner und Walter Romberg von der SPD, Lothar Klein von der DSU, Harald Schreiber von der CDU.

Gab es Widerspruch?

Die PDS hat sich enthalten, alle anderen waren dafür.

Warum hat sich die PDS enthalten?

Das hat mit der Vergangenheit zu tun, denke ich. Schuld zuzugeben, ist nach der marxistischen Denkweise wohl nicht möglich. Eine wichtige Aussage der Volkskammer-Erklärung war, dass künftig verfolgten Juden in der DDR Asyl gewährt werden solle; noch vor der Wiedervereinigung kamen die ersten aus der zerfallenden Sowjetunion.

Sind Sie, als sie die Erklärung verabschiedet haben, noch davon ausgegangen, dass es die DDR weiter geben wird?

Als Bürgerbewegung wollten wir die DDR reformieren und waren gegenüber der Wiedervereinigung zurückhaltend. Aber bei den Wahlen zeigte sich, der DDR-Bevölkerung war das zu umständlich, die wollten die schnelle Vereinigung.

Und so auf die Schnelle konnten keine diplomatischen Beziehungen zwischen der DDR und Israel mehr aufgenommen werden?

In der Diplomatie mahlen die Mühlen langsam, und es gab ja eine deutsche Vertretung in Israel. Aber eine Reise einer deutsch-deutschen Delegation gab es noch, im Juni 1990, mit den Präsidentinnen der Volkskammer und des Bundestages: Sabine Bergmann-Pohl und Rita Süßmuth.

Und Sie flogen mit?

Ja, weil ich mich in der DDR viel mit jüdischen Themen beschäftigt hatte, wahrscheinlich als Einziger in der Volkskammer. Wir flogen mit der Luftwaffe, von Bonn nach Tel Aviv.

Wie wurden Sie empfangen?

Sehr herzlich und mit großer Bereitschaft zur Versöhnung, obwohl die DDR Israel jahrzehntelang das Existenzrecht absprechen wollte. Nur beim Empfang in der Knesset gab es einen Eklat.

Was war passiert?

Dov Schilansky, der israelische Parlamentspräsident, weigerte sich, uns zu empfangen. Er hatte extra einen Tag Urlaub genommen, um uns nicht begegnen zu müssen.

Weil Sie Deutsche waren?

Ja. Schilansky war Überlebender der Shoah, war in mehreren Konzentrationslagern, fast seine ganze Familie war von Deutschen ermordet worden. Er hatte sich geschworen, niemals mehr ein Wort Deutsch zu sprechen oder einem Deutschen die Hand zu geben.

Und das hat er durchgehalten.

Erst ja, die Aufregung war groß, auch in Israel, aber noch am selben Abend hat Schilansky uns drei zu sich nach Hause eingeladen, zum Abendessen.

Frau Süßmuth, Frau Bergmann-Pohl und Sie?

Ja, und ein Dolmetscher war dabei. Zum Anfang sprach Schilansky noch Hebräisch. Aber dann wechselte er ins Deutsche, zum ersten Mal seit Ende des Krieges, erzählte uns unter Tränen, was er und seine Familie erlitten hatten. Und die Geschichte seines Schwurs.

Warum hat er den ausgerechnet für Sie gebrochen?

Er sagte, er habe großen Respekt vor der friedlichen Revolution der Ostdeutschen. Er sehe, dass es ein Umdenken gebe. Das war unglaublich bewegend. Und ich habe es immer wieder gespürt in Israel, die Offenheit, die uns gegenüber plötzlich da war. Weil wir das System gestürzt hatten, aus eigener Kraft. Schilansky sagte dann noch, er hoffe, dass auch zwischen Israelis und Palästinensern die Mauer fallen könne, so wie in Deutschland.

Können Sie sich das vorstellen?

Nein. Das ist hoffnungslos, aber das war es damals eigentlich auch schon. Im Januar 1991 war ich das nächste Mal in Israel, als der Irak Israel mit Giftgas angreifen wollte. Ich wusste, dass die DDR Spezialisten nach Bagdad geschickt und Material zur Verfügung gestellt hatte. Auch die Bundesrepublik war beteiligt, wie wir heute wissen.

Und deshalb sind Sie nach Israel geflogen? In den Krieg? Als ein weiteres Zeichen der Sühne?

Ja, weil es mich so empört hat, dass deutsches Giftgas wieder auf Juden abgefeuert werden sollte. Ich flog mit der letzten Maschine vor Ablauf des Ultimatums, übernachtete im Hotel Laromme, ganz allein mit einem amerikanischen, einem deutschen Journalisten und zwei Familien, die dorthin geflohen waren. Wir wohnten alle in der obersten Etage, weil sich Gas vor allem unten ausbreitet, hatten, wie damals alle in Israel, die Gasmaske immer dabei. Ich lernte bei diesem Aufenthalt Dan Tichon, den stellvertretenden Parlamentspräsidenten, kennen und auch den späteren Generalkonsul für die ostdeutschen Bundesländer, Mordechay Lewy.

Es gab einen Konsul, extra für den Osten?

Ja, von 1991 bis 1994. Im Krieg in Israel musste er mich betreuen, bis er selbst zur Armee eingezogen wurde und seine Frau meine Betreuung übernahm. Ich habe ihm dafür später in Deutschland geholfen.

Wie schätzen Sie die Situation jetzt ein?

Hoffnungslos. Aber sie überrascht mich nicht. Als ich mit meiner Frau Mitte der 1990er-Jahre Urlaub in Israel machte, sind wir durchs ganze Land gefahren, durch die Wüste gewandert und auch durch Hebron gekommen, hatten Kontakt zu jungen Palästinensern. Die waren begeistert, als sie hörten, dass wir Deutsche waren und begrüßten uns mit „Heil Hitler“. An den Wänden hingen Bilder von Hamas-Führern und von Hitler, den Holocaust habe es nie gegeben. Wir haben uns auf keine Diskussion eingelassen, das war uns zu brenzlig.

Und wie erklären Sie sich die antisemitischen Vorfälle in Berlin?

Latenten Antisemitismus gab es immer schon, da kommt viel Unverarbeitetes aus den eigenen Familien hoch, schlechtes Gewissen, Minderwertigkeitsgefühle und was weiß ich alles. Wenn bei Vorträgen diese Sprüche kamen, machte ich von dem Recht des Veranstalters Gebrauch und warf die Leute raus. Diskutieren bringt da nichts. Selbst im christlichen Milieu, das ja eher ein Refugium war in der DDR, habe ich das erlebt. Israelische Freunde von uns haben in der Gemeinde meiner Frau mit Jugendlichen gesprochen und sich die typischen Vorurteile anhören müssen. Sie waren völlig erschüttert. Diese Haltungen sind so tief verankert, auch eine friedliche Revolution kann daran nicht so schnell etwas ändern.


Konrad Weiß ist Regisseur und Bürgerrechtler. Er ist als Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung "Demokratie Jetzt" während der friedlichen Revolution in der DDR bekannt. Im Wiedervereinten Deutschland ist er für Bündnis 90/GRÜNE politisch aktiv und setzt sich für die Aufarbeitung von DDR-Unrecht ein.

Die Fragen stellte Anja Reich


Erstveröffentlichung in der Berliner Zeitung vom 04. November 2023. Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Zeitung.