Türkei: Wenn die Arbeit mit der Frucht keine Früchte trägt

Reportage

Am 6. Februar und am 20. Februar 2023 fiel der Schatten des Erdbebens auf Samandağ. Die Situation vor Ort bleibt sehr schwierig. Über Mandarinen und die Untätigkeit des Staates in der schwerstbetroffenen Provinz Hatay.

Verschimmelte Mandarinen
Dieser Artikel gehört zu einer kleinen Reihe von Artikeln des Büros Istanbul der Heinrich-Böll-Stiftung zum ersten Jahrestag des Erdbebens in der Türkei und Syrien vom 6. Februar 2023 in Zusammenarbeit mit Bianet.

Samandağ ist ein Landkreis und auch eine Stadt in der Provinz Hatay. Sie liegt an der Stelle, an der die Berge Musa, Kel und Simon aufeinandertreffen und wo der Fluss Orontes in das Mittelmeer mündet. Ihr arabischer Name ist Suveydiye, abgeleitet vom Wort "aswad", was schwarz bedeutet. Der Grund dafür ist, dass die Schatten der drei Berge auf die Stadt fallen.

Am 6. Februar und am 20. Februar 2023 fiel der Schatten des Erdbebens auf Samandağ. Hatay gehört zu den am schwersten getroffenen Gebieten des Erdbebens. Mehr als 10.000 Gebäude stürzten ein oder wurden schwer beschädigt. Noch immer sind lange nicht alle Trümmer beseitigt.

Blick auf Samandağ vom Berg Simon.
Blick auf Samandağ vom Berg Simon.

Vergessene Dörfer, die Obdachlose Städter aufgenommen haben

Aus Samandağ und dem gleichfalls zerstörten Antakya zogen viele Menschen in die Dörfer, die verschont blieben. Die Region ist bekannt für ihre Zitrusfrüchte. Ihr Anbau ist normalerweise die Haupteinnahmequelle in der Region. Tatsächlich schuf sie auch für die Zuwanderer aus den zerstörten Städten Einkommen und half ihnen, das furchtbare Erlebte für einen Moment zu vergessen. Die Früchte gediehen, doch am Ende des Jahres, als die Ernte anstand, trug die monatelange Arbeit keine Frucht: Die Mandarinen blieben an den Bäumen hängen und verfaulten.

Yeşilyazı ist ein kleines Dorf, das etwa sechs Kilometer vom Stadtzentrum von Samandağ und 26 km von Antakya entfernt liegt, eingebettet in das Tal, durch das der Fluss Asi fließt.  Es blieb vom Erdbeben verschont, und so kamen nach dem Beben aus den zerstörten Gebieten viele Menschen hierher. Doch schon vor dem Beben hatten sich staatliche Stellen nicht um das Dorf gekümmert. So reichen weder die Infrastruktur noch die vorhandenen Gebäude aus, um den Bedürfnissen dieser Bevölkerung gerecht zu werden.

Unbefestigte Dorfstraße mit Schlaglöchern - kaum befahrbar

Wir fahren auf Yeşilyazı zu, nahezu im Zickzack, den Schlaglöchern ausweichend. Die Luft ist erfüllt von Mandarinenduft. Auf beiden Seiten der Straße liegen dıe orangenen Früchte  zu Hunderten unter den Bäumen. Fliegen surren darüber in Schwärmen. Vor dem Ortseingang holt uns Ali Malik Kar ab und bringt uns zu einem Platz, auf dem die Männer des Dorfes Karten spielen. Das Spiel ist hitzig, die Begrüßung entsprechend flüchtig. Doch als wir die Frage stellen "Was hat sich seit dem 6. Februar geändert?" beginnen sie schneller zu sprechen, als wir die Aufnahmetaste drücken können.

Die Mandarinen-Katastrophe

"Sie haben es in fünf Jahren nicht geschafft, die Dorfstraße zu asphaltieren", sagt ein Bürger. Ein anderer fügt hinzu: "Man hat uns schon vor dem Erdbeben vergessen. Und nach dem Erdbeben kam auch niemand, um nach uns zu sehen", sagt der 72-jährige Sami Dede. Ali Malik wirft ein: "Sowohl die Zentralregierung als auch die lokale Regierung hätten Maßnahmen ergreifen können. Sie haben es nicht getan. Jetzt können die Dorfbewohner die Früchte nicht mehr sammeln und verschicken. Sie verrotten. Wären die Behörden nur irgendwie aktiv geworden, hätten die Dorfbewohner das Produkt unter Preis verkauft, sogar für ein bis zwei Lira das Kilo, um nur etwas Geld zu erhalten. Wären die Behörden rechtzeitig gekommen, hätten sie das Obst von den Bauern für fünf bis sechs Lira kaufen können. Den günstigen Preis hätten sie an die Käufer in den Städten weitergeben können. Mandarinen dieser Qualität gibt es jetzt in İstanbul sicher nicht, und gäbe es sie, würden sie 30-40 Lira kosten." Derzeit steht der Euro bei etwa 32,50 Lira.

verschimmelte Mandarinen am Wegesrand

Die Türkei verdient normalerweise viel Geld mit dem Export von Obst und Gemüse. Die Region Samandağ ein wichtiges Zentrum der türkischen Mandarinenproduktion und exportiert in viele Länder, insbesondere nach Russland und Rumänien.

Sami Dede erlebte das Erdbeben vom 6. Februar zuhause in Antakya. Als sein Haus zusammenbrach, zog er mit seiner Familie zu Verwandten in sein Dorf Yeşilyazı. Wir gehen gemeinsam zu dem Ort, an dem sich die Häuser und Mandarinenplantagen befinden. Sami Dede erklärt, dass auf dem von seinem Vater geerbten Land seine beiden Brüder, sein Sohn und seine Tochter jetzt Container haben. Sohn und Tochter sind beide Lehrer. Dede weist auf die Container: "Wir haben sie mit unserem eigenen Geld gekauft. Der Staat tut hier nichts. Niemand hat uns etwas gegeben."

Sami Dede steht auf einer Mandarinenplantage

Direkt vor den Häusern stehen Tausende von Mandarinenbäumen. Die Bäume, die in dieser Jahreszeit nur noch grünes Laub tragen sollten, sind so orange, wie sie nur sein können. Die Mandarinen befinden sich entweder auf den Bäumen oder auf dem Boden. Sami Dede sagt: "Ihr seht es. Ich brauche nichts zu erklären. Die Erzeuger sind dieses Jahr in einer schlechten Situation. Sie hätten im November oder Dezember ernten müssen. Auf vier Hektar Land sind ungefähr 30 Tonnen Früchte verdorben. Fragt man die Männer hier nach anderen Einkommensquellen, hört man die Antwort von Millionen von Bürgern in diesem Land, die sich in der gleichen Situation befinden: "Ich bin im Ruhestand. Bis letzten Monat habe ich 7.500 Lira (etwa 230 Euro) erhalten. Dank ihnen wurde es jetzt auf 10.000 (307 Euro) erhöht. Ich habe sonst nichts."

„Mein Mann ist in Rente, wir haben sonst nichts“

Auf unserem Rückweg treffen wir Frauen die im Lehmofen Brot backen Sie reichen uns ein warmes Stück Brot.. Eine von ihnen ist Hayat, die Frau von Sami Dede. Sie bekräftigt, was ihr Mann gesagt hat: "Wir hatten drei Häuser in Antakya, die sind alle weg. Wir sind hierher gekommen. Die Mandarinen hier sind alle verrottet. Mein Mann ist in Rente, wir haben nichts anderes."

zwei Frauen die im Lehmofen Brot backen

Als wir Yeşilyazı verlassen, begegnen wir einem Bürger, der am Straßenrand Mandarinenbäume beschneidet. Wir erkundigen uns nach seinen Mandarinen. "Ich hatte Glück", berichtet der alte Mann. Er hatte die Ernte vorab an einen Großabnehmer verkauft und der Käufer hat sie selbst geerntet. „Aber die Mandarinen vieler anderer blieben am Baum hängen und sie konnten sie nicht verkaufen. Denn die Lagerhäuser der Händler in Samandağ waren beim Erdbeben verbrannt. Kühlhäuser gebe es nicht und damit auch keine Möglichkeit, die Früchte zu lagern. Das Ergebnis, so der alte Mann: “Niemand hat gekauft und niemand hat sich bei uns erkundigt."

Wir sind in der Nähe im Dorf Vakıflı unterwegs, dem letzten armenischen Dorf der Türkei. Am Dorfeingang fällt uns ein größeres zweigeschossiges Gebäude auf. Drei Männer an der Seite laden gerade Kisten mit Mandarinen von einem großen Lastwagen ab. Wir halten an und fragen nach. Wir sind auf einen Mandarinenverarbeitungsbetrieb gestoßen. Ursprünglich war der Betrieb in einem dreistöckigen Gebäude im Zentrum von Samandağ untergebracht. Doch das Gebäude stürzte bei dem Erdbeben ein. Was im Keller gelagert war, wurde unter den Trümmern begraben. Der Besitzer, Edip Kılınç ist eigentlich Bauer. Nach dem Erdbeben ging er das Risiko ein und gründete seine eigene Verpackungsanlage, die etwa 200 Menschen Beschäftigung bietet. Ursprünglich ein Sommerhaus, dient der Bau nun als Wohnung, Büro, Esszimmer, Lager und Verpackungsanlage gleichzeitig.

Der Staat wird nicht tätig

Auf die Kommunalverwaltung ist Edip Kılınç nicht gut zu sprechen, ebenso wenig auf die Zentralregierung in Ankara. "Wenn Lagerflächen geschaffen worden wären, für die Erzeuger, für die verarbeitenden Betriebe, hätten wir diese Misere heute nicht. Doch das geschah nicht, also war es zwecklos die Früchte zu ernten und sie blieben an den Bäumen hängen. Man kann sagen, für uns folge nach dem Erdbeben ein zweites, wirtschaftliches Beben."

Im abgelaufenen Jahr 2023 verloren nicht nur die Mandarinenbauern, sondern auch Landwirte mit anderen Erzeugnissen ihr Geld, wie Ahmet Sever, der Präsident der Kammer der Landwirtschaftsingenieure der Union der Kammern der türkischen Ingenieure und Architekten (TMMOB), Zweigstelle Hatay, erläutert. Der Grund dafür ist laut Sever das Fehlen einer angemessenen Produktionsplanung. Die Behörden hätten berechnen müssen, was, wie viel und in welcher Menge produziert werden sollte, und die Landwirte hätten entsprechend unterstützt werden müssen. Das passierte nicht, und damit wurden die Verluste unvermeidlich. Staatliche Hilfe hätte die Not der Landwirte mildern können. Doch auch die kam nicht, so Sever: "Als Landwirtschaftsingenieurkammer haben wir vorgeschlagen, dass der Staat die Mandarinen zu subventionierten Preisen ankauft und an große Supermärkte weiterverkauft sowie kurzfristig Fruchtsaftfabriken errichtet. Weiter haben wir vorgeschlagen, jedem Kind in den Grundschulen täglich zwei bis drei der vitaminhaltigen Mandarinen zu geben, analog zu der Milch, die die Kinder jeden Morgen erhalten. Wir haben diese Vorschläge seit September 2023 unterbreitet und Gespräche angeboten. Denn wir wussten ja, was sonst mit den Mandarinen passieren würde. Aber nichts geschah."

Die Erdbeben vom Februar 2023

Am 6. Februar 2023 führten Erdbeben mit Epizentren in den Bezirken Pazarcık und Elbistan in der Provinz Kahramanmaraş mit einer Stärke von 7,8 bzw. 7,5 zu Zerstörungen in elf Provinzen im östlichen Mittelmeerraum, in Südostanatolien und Ostanatolien. Das Erdbeben verursachte auch in Syrien erhebliche Schäden und forderte  auch dort viele Menschenleben. Die Erschütterungen waren in fast der gesamten Türkei sowie in verschiedenen Teilen des Nahen Ostens und Europas zu spüren.

Kahramanmaraş, Hatay und Adıyaman erlitten die schwersten Zerstörungen. Neben diesen Städten wurde auch in Adana, Antep, Elazığ, Diyarbakır, Kilis, Malatya, Osmaniye und Urfa der dreimonatige Ausnahmezustand verhängt.

Offiziellen Angaben zufolge kamen in der Türkei 50.783 Menschen ums Leben, mehr als 100 000 Menschen wurden verletzt, und 7.248 Gebäude stürzten während des Erdbebens ein. Ungefähr 14 Millionen Menschen waren von der Katastrophe betroffen. Mehr als zwei Millionen Menschen sahen sich mit Wohnungsproblemen konfrontiert, mindestens fünf Millionen Menschen wanderten in andere Regionen aus.

Am 20. Februar 2023 wurde Hatay von zwei weiteren Erdbeben der Stärke 6,4 und 5,8 heimgesucht, deren Epizentren in den Bezirken Defne und Samandağ lagen. Einige der am 6. Februar stark beschädigten Gebäude stürzten aufgrund dieser Erdbeben ein.

Deutsche Übersetzung des Originaltextes - zuerst auf Englisch veröffentlicht auf bianet.org.