Lehren aus dem Kosovo-Krieg: Keine Zeit für europäische Gleichgültigkeit

Analyse

Der Kosovo-Krieg vor 25 Jahren zeigt uns: Eingefrorene Konflikte und bilaterale Streitigkeiten lassen sich nicht lange unter den Teppich kehren. Im aktuellen geopolitischen Umfeld werden sie Europa um die Ohren fliegen.

The Newborn Monument in Pristina
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Das "Newborn"-Denkmal in Pristina, Kosovo.

Westeuropa befindet sich derzeit inmitten der längsten Friedensperiode der Geschichte. Mehrere Generationen von Europäer:innen sind in Friedenszeiten unter dem Dach der NATO und der EU geboren und aufgewachsen, das lässt Kriege in Europa unwahrscheinlich und irrational erscheinen - wie Dinge, die an weit entfernten, fragilen Orten passieren. Dies hat leider den Westen gefährlich behäbig gemacht und unvorbereitet, um Kriege vorherzusagen, zu verhindern und auf sie zu reagieren.

Zurück in die Zukunft der gewaltsamen Konflikte

Das ist besorgniserregend, da Frieden und Ordnung in Osteuropa oder im Nahen Osten auf wackligen Beinen zu stehen scheinen. Selbst in Regionen, die als instabil gelten oder in ethnische Konflikte verstrickt sind, schienen größere Kriege bis vor kurzem unwahrscheinlich - bis sie tatsächlich ausbrachen.

Vor zwei Jahren, in den Tagen vor der russischen Invasion der Ukraine, herrschte in Kyjiw eine ungläubige Stimmung, trotz der Tatsache, dass Russland bereits 2014 die Krim annektiert und der US-Geheimdienst Hunderttausende von Soldaten und schwere Waffen an der Grenze ausgemacht hatte. Vor etwas mehr als drei Jahren hatten die Armenier von Berg-Karabach, inzwischen zu Flüchtlingen in Armenien geworden, dieses Gebiet, das international als Aserbaidschan anerkannt ist, fest in ihrer Hand. Noch vor wenigen Monaten gab sich Israel der Illusion hin, seine stark befestigte Grenze zum Gazastreifen sei so undurchdringlich und die Hamas so unfähig, dass es sich nicht die Mühe machte, genügend Truppen zu stationieren um sie zu schützen.

Die Art und Weise, wie sich hinter diesen scheinbar stabilen Verhältnissen tiefe innere Zerrissenheit verbarg, die sich in gewaltsamen Konflikten entlud, kam uns, die wir vom Balkan sind, unheimlich bekannt vor. Vor mehr als drei Jahrzehnten wurde das Ausmaß der Gewalt, das zur Auflösung Jugoslawiens führte, von den meisten Bürger:innen nicht erwartet, selbst als die ersten Kugeln abgefeuert wurden. Doch im Nachhinein sind die Signale für solche gefährlichen Spiralen fast immer da, für diejenigen, die sie sehen wollen. Die fehlgeleiteten Handlungen und Versäumnisse des Westens in den Jugoslawienkriegen können einige Anhaltspunkte dafür liefern, wie man auf die heutigen Herausforderungen reagieren sollte.

Nie wieder Auschwitz

Nehmen wir zum Beispiel den Kosovo-Krieg (1998-1999), der vor allem dann internationale Aufmerksamkeit erhielt, als die NATO eine beispiellose Luftbombardierung gegen die Überreste von Jugoslawien (im Grunde Serbien) startete, um eine ethnische Säuberungsaktion gegen die mehrheitlich albanischstämmigen Bewohner:innen des Kosovo zu verhindern.
Kosovo war, nach der jugoslawischen Verfassung von 1974, eine autonome Teilrepublik innerhalb von Titos Jugoslawien und genoss de facto den Status einer den anderen Republiken gleichgestellten verfassungsmäßigen Entität. Als Ende der 1980er Jahre der nationalistische und hegemoniale Führer Serbiens, Slobodan Milosevic, eine revisionistische Agenda verfolgte, die darauf abzielte, Jugoslawien der serbischen Vorherrschaft zu unterwerfen, bestand einer seiner ersten Schritte darin, die Autonomie des Kosovo aufzuheben. Dieser Schritt war einer der Auslöser, der die Sezessionsbestrebungen in anderen Republiken beschleunigte. Serbien reagierte mit Gewalt - zunächst in Slowenien, dann in Kroatien und schließlich in Bosnien und Herzegowina - und verübte Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung sowie den ersten international als solchen eingestuften Völkermord in Europa nach 1945, in Srebrenica.
Zu Beginn der Jugoslawienkriege wählten die Albaner im Kosovo unter der Führung des Sacharow-Preisträgers Ibrahim Rugova einen anderen Weg als die anderen Republiken. Im Jahr 1990 erklärte das Kosovo in einem Referendum seine Unabhängigkeit und begann eine jahrzehntelange gewaltfreie Widerstandsbewegung. Hunderttausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die sich weigerten, der serbischen Regierung die Treue zu schwören, wurden entlassen, was praktisch zu einer Art Apartheidsstaat führte. Eine Exilregierung errichtete ein paralleles Regierungssystem, das Schulen in Behelfsheimen unterhielt und um westliche Unterstützung warb.

Europas Ansatz gegenüber der serbischen Aggression in Jugoslawien war, ähnlich wie die Reaktion auf Putins Invasion der Krim im Jahr 2014, gleichgültig und mickrig. Durch die Verhängung von Waffenembargos gegen alle Seiten und die Entsendung einer machtlosen UN-Friedensmission nach Bosnien wurden die besser bewaffneten Serben unverhältnismäßig stark begünstigt, während gegen sie wirkungslose wirtschaftliche und politische Sanktionen verhängt wurden. Erst als der menschliche Tribut des Völkermords in Bosnien deutlich wurde, schlug der Westen - vor allem auf Betreiben der USA - mit militärischen Drohungen ernsthafter zu und zwang Milosevic, das Friedensabkommen von Dayton zu unterzeichnen, wofür er dann auch noch mit einem aus dem Völkermord resultierenden ethnisch homogenen Gebiet belohnt wurde.

Die Auswirkungen von Dayton auf das Kosovo waren gravierend. Das Versäumnis des Westens, sich mit der Notlage des Kosovo parallel zu den anderen jugoslawischen Kriegen zu befassen, war ein weiterer Beweis für ein grundlegendes Unverständnis für die Region. Vor allem aber wurde dadurch Rugovas gewaltloser Widerstand unter den Albaner:innen delegitimiert. Am Rande des Überlebens stehend, griffen viele zu den Waffen und schlossen sich dem Aufstand der Kosovo-Befreiungsarmee gegen serbische Polizei- und Militärziele an. Milosevic, der die Gelegenheit witterte, die albanische Bevölkerung im Kosovo zu eliminieren, durch frühere Beschwichtigungsversuche des Westens ermutigt, reagierte mit brutalen Massenmorden an der Zivilbevölkerung, was nur zu einem stärkeren bewaffneten Widerstand im Kosovo führte.
Der Westen, der sich vor einem neuen Völkermord fürchtete, nachdem Bosnien und Ruanda die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen hatten, unternahm bei den Friedensgesprächen in Rambuillet einen letzten verzweifelten diplomatischen Versuch, einen größeren Krieg zu verhindern. Die Albaner im Kosovo stimmten widerwillig einem Abkommen zu, das formal die Souveränität Jugoslawiens wahrte, aber die jugoslawischen Streitkräfte durch NATO-Truppen ersetzte. Belgrad lehnte ab und wurde daraufhin bombardiert. Aus Rache vertrieb es mehr als eine Million Albaner:innen in die Nachbarländer und tötete Tausende von Zivilisten.

Als Joschka Fischer 1999 die NATO-Intervention leidenschaftlich verteidigte, erklärte er: „In Deutschland haben wir die Lektion ‚Nie wieder Krieg‘, aber auch "Nie wieder Auschwitz" gelernt. " Diese endete im Juni desselben Jahres erfolgreich mit der militärischen Niederlage Serbiens und der Einsetzung einer UN-Verwaltung und einer NATO-Friedenstruppe (die immer noch im Einsatz ist).

Russland nutzt die unvollendeten Aufgaben des Westens für sich

Die nachfolgende Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 - das Ergebnis eines von den Vereinten Nationen vermittelten Prozesses unter Marti Ahtisaari und vorbehaltlich strenger Garantien für den Schutz ethnischer Minderheiten - war die logische Schlussfolgerung aus dem Gedanken, dass Serbien aufgrund seiner historischen Herrschaft im Kosovo weder ein moralisches noch ein rechtliches Anrecht auf das Gebiet hat (die Albaner:innen würden sagen, dass es nie eines hatte). Über hundert Länder, zumeist westliche, teilten diese Ansicht, als sie die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannten. Nicht aber Serbien und - was vielleicht noch wichtiger ist - nicht Russland, das seitdem den Beitritt des Kosovo zur UNO verhindert hat. Ebenso wenig wie fünf andere EU-Länder (vier NATO-Länder), was die Aussichten des Kosovo auf eine Mitgliedschaft in diesen Organisationen beeinträchtigt hat.

Kosovos Kampf um internationale Anerkennung hat im Laufe der Jahre an Bedeutung gewonnen, da Russlands Macht gewachsen ist und seine revisionistische Agenda gegen die westliche Sicherheitsordnung - die sich direkt in der Ukraine manifestiert hat - global geworden ist. Besonderes Augenmerk richtete Russland auf Regionen wie den Westbalkan, dort hatte und hat es ein großes Interesse daran, neue Fronten zu eröffnen, um von den Hauptkriegsanstrengungen in der Ukraine abzulenken, und wo es ein verbündetes revanchistisches und nationalistisches Serbien vorfindet, das ebenfalls daran interessiert ist, die westlichen Lösungen der 90er Jahre in Bosnien und im Kosovo zu revidieren.

Aufgrund des geopolitischen Kontextes ist das Kosovo in den letzten Jahren wieder ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gerückt, nachdem es in seinem mehrheitlich serbischen Norden zu erheblichen Spannungen gekommen war, darunter Angriffe serbischer Demonstranten auf NATO-Soldaten im Mai 2023, im Oktober desselben Jahres ein bewaffneter Aufstand von Extremisten, die von Belgrad unterstützt werden, und ein massiver Einsatz serbischer Streitkräfte in der Nähe der Grenzen des Kosovo.

Während die NATO (KFOR) weiterhin zur Abschreckung einer umfassenderen Eskalation beiträgt, war der von der EU vermittelte Dialog über die Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern in den letzten zehn Jahren das wichtigste politische Instrument des Westens zur Beilegung des Konflikts und ist in letzter Zeit zum wichtigsten außenpolitischen Instrument der EU geworden. Zwar konnten einige technische Fragen wie das Management der Grenzübergänge oder die Bezahlung der Energierechnungen gelöst werden, doch die heikelsten politischen Fragen sind nach wie vor unerreichbar und weit entfernt von beiden Seiten umgesetzt zu werden, obwohl die EU und die USA darauf beharren, dass im vergangenen Frühjahr in Ohrid eine rechtsverbindliche mündliche Vereinbarung erzielt wurde.

Die wichtigsten Streitpunkte sind insbesondere die Anerkennung des Kosovo durch Serbien, die dem Kosovo den Beitritt zu internationalen Organisationen ermöglichen würde, und das Errichten der serbischen Gemeindeverbände, die die verbleibenden Serb:innen im Norden des Kosovo in das Regierungssystem des Kosovo integrieren würde. Der Grund für das Scheitern der Verhandlungen ist, dass keine der beiden Seiten darauf vertraut, dass der Westen die Vereinbarungen garantieren kann; und auch keine wirklichen Anreize zu bieten hat.

Infolgedessen schienen die Vereinbarungen den gegenteiligen Effekt zu haben, indem sie eine Eskalation der Spannungen vorantrieben, während beide Seiten versuchten, neue Fakten vor Ort zu schaffen. Infolge dieses ungewissen Zustands ist der Norden des Kosovo zum wohl verwundbarsten Sicherheits-Hotspot in Europa außerhalb der Ukraine geworden.

Zeit ist entscheidend

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Krieg hat sich die Lage im Kosovo selbst politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich deutlich verbessert und kann als westliche Erfolgsgeschichte des Staatsaufbaus betrachtet werden. Dennoch ist im Kontext der allgemeinen Entwicklungen in Europa die Aussicht auf einen Konflikt aufgrund der durch die Situation im Norden verursachten Fragilität und des internationalen Schwebezustands des Kosovo nicht sehr weit entfernt. Die Beilegung des Streits zwischen dem Kosovo und Serbien sollte eine dringende Aufgabe für die EU bleiben, wobei eine signifikante Beteiligung der USA an diesem Prozess zentral bleibt.

Die ständigen geopolitischen Veränderungen erfordern eine transatlantische Einigkeit, damit der von der EU geförderte Dialog vorankommt, der vorzugsweise mit einem rechtsverbindlichen Abkommen und westlichen Garantien für dessen vollständige Umsetzung abgeschlossen werden sollte.    

Die Lektion aus den Jugoslawien-Kriegen und Russlands jahrzehntelanger Aggression in der unmittelbaren Nachbarschaft, wie in Georgien (2008) und in der Ukraine (seit 2014), ist, dass der Westen alles daransetzen muss, solche Schwachstellen zu beseitigen, bevor sie zu einem größeren Konflikt ausbrechen. Dazu muss er aus einer Position der Stärke heraus handeln und darf nicht beschwichtigen - denn das ist die einzige Sprache, die Autoritäre wie Putin, Milosevic und Vucic verstehen. 

Auch die Zeit ist von entscheidender Bedeutung. Eine mögliche neue Trump-Administration in den USA mit einem schwachen Bekenntnis zur NATO würde die Fähigkeit Europas, sich gegen eine unabwendbare und umfassendere russische Aggression zu verteidigen, ernsthaft auf die Probe stellen. Der Balkan wäre in diesem Szenario sicherlich das Hauptziel.


Der Text ist eine bearbeitete deepl.com Übersetzung aus dem Englischen.