„Der Gedanke von Selbstbestimmung leitet eure Projekte auch im Krieg“

Laudatio

Yuliya Sporysh hat es sich in Friedenszeiten zur Aufgabe gemacht, junge Frauen zu stärken, sie darin zu bestärken, dass alles möglich ist, was man sich vornimmt. An dieser Aufgabe ist sie seit dem 24. Februar 2022 gewachsen, so Jamila Schäfer in ihrer Laudatio.

Jamila Schäfer, MdB - gives her laudatory speech at the Anne Klein Women's Award ceremony

Ich glaube, viele von uns können sich gar nicht vorstellen, wie es überhaupt ist, wenn Krieg herrscht. Wenn alle Pläne plötzlich über den Haufen geworfen sind, weil jeder Moment existentiell sein kann.

Wie mag es sein, im Frieden einzuschlafen und im Krieg aufzuwachen? Ich habe es mich ganz persönlich gefragt, als ich mit meinem Kollegen Robin Wagener im Sommer 2022 das erste Mal in den Nachtzug nach Kyiv gestiegen bin.
Der Vergleich ist natürlich vermessen, denn für mich war es nicht mein Zuhause, in dem ich im Krieg aufgewacht bin, und ich habe auch nur ein paar Tage in der Ukraine verbracht, und allein schon deshalb kann es nur eine leise Ahnung sein, was es seit über zwei Jahren für die Menschen in der Ukraine bedeutet, im Krieg aufzuwachen.

Ich war seit dem 24. Februar 2022 zweimal in der Ukraine. Und bei beiden Besuchen hatte ich Gespräche und Erlebnisse, die ich so schnell nicht vergessen werde.

Im März 2023 zum Beispiel war ich an einer Universität und habe mit Schüler*innen und Studierenden über ihre Lage seit dem Krieg gesprochen. Ein Student sagte mir: „Bis zum 24. Februar ´22 war ich ein ganz normaler Politikwissenschafts-Student, der sich auf sein Auslandssemester freut. Seit dem 24. Februar bin ich Soldat und denke jeden Tag, dass es gut ist, wieder einen Tag überlebt zu haben.“

Eine Schülerin erzählte uns: „Auch seit Kriegsbeginn gehen wir manchmal noch feiern. Aber die Leichtigkeit ist verloren gegangen. Man plant in viel kürzeren Zeiträumen, weil der Kampf ums Überleben immer da ist. Wir sammeln ja mit den Partys dann auch wieder Geld, um unsere Freunde an der Front zu unterstützen.“

Ähnlich ging es den Jugendorganisationen, die ich dort getroffen habe. Sie alle hatten viele aktive Mitglieder verloren, weil sie in die Armee gegangen sind. Und sie haben viele Aktivitäten und Veranstaltungen auch auf die Hilfe für die Soldaten ausgerichtet. Gleichzeitig wollen sie aber auch über den Krieg hinausdenken.

Und das habe ich auch bei anderen Begegnungen gesehen, dass die Ukrainer*innen immer auch gleichzeitig an ein Leben nach dem Krieg denken. Aleksandre, ein Soldat, hat mir auf der Münchner Sicherheitskonferenz erzählt: „Als ich sechs Stunden schwerverletzt in Bachmut im Schützengraben lag, haben mich zwei Dinge am Leben gehalten: die Liebe zu meiner Frau und der Glaube an den Frieden. Die Hoffnung, dass meine Kinder niemals eine Waffe in die Hand nehmen müssen, um ihre Freiheit zu verteidigen, weil wir das jetzt durchstehen.“

Dieses nach vorne Schauen hat mich auch sehr beeindruckt bei meinem Besuch im Dorf Kozarovychi in der Nähe von Kyiv. Hier wurden mehrere Häuser von Raketen getroffen und sind unbewohnbar. Doch die ganze Nachbarschaft hat während meines Besuchs dort nach den Raketen-Einschlägen mitangepackt, alte wie junge Menschen, Frauen wie Männer haben die Trümmer weggeräumt und die Häuser wieder aufgebaut. Die meisten machen das ehrenamtlich, damit sich die Leute den Wiederaufbau ihrer Häuser auch leisten können.

Bis zu meinen Reisen in die Ukraine war mein Bild von dem Krieg vor allem geprägt von Bildern von Selenskyj in seinem olivgrünen Shirt, von Soldaten an der Front. Es waren vor allem männliche Heldenbilder, die in den Medien in der Berichterstattung vorherrschend waren und es natürlich bis heute sind. Und ich glaube, diese männliche Ikonographie liegt in der Natur des Krieges.
Es ist auch fast in jedem Krieg so, dass sexuelle Gewalt zu einer Waffe wird. Eine Waffe, die den weiblichen Körper selbst zum Schlachtfeld macht, auf dem Männer ihre Macht demonstrieren. Leider sind auch in diesem Krieg schon sehr viele ukrainische Frauen, aber auch Männer Opfer sexueller Gewalt geworden. Es sind Traumata und Verletzungen, unter denen viele Überlebende und ihre Familien für immer leiden werden. Auch wenn der Krieg zu Ende ist.

Aber ich habe auf meinen Reisen gesehen, dass Frauen in diesem Krieg nicht nur Opfer, sondern gleichzeitig auch Heldinnen sind.

Heldinnen, die als Mütter ihre Familien in Sicherheit bringen, als Studentinnen Benefiz-Partys für die Menschen an der Front organisieren, als Politikerinnen die notwendige diplomatische Unterstützung organisieren, als humanitäre Helferinnen, Pflegerinnen, Ärztinnen und Psychologinnen das Leid mildern, als Soldatinnen kämpfen und als Nachbarinnen ihre Häuser gegenseitig wieder aufbauen.

Heldinnen, die verletzlich und mutig sind. Und über eine von ihnen will ich jetzt genauer sprechen.

Liebe Yuliya Sporysh,
ich freue mich ganz besonders, dass du hier heute geehrt wirst für deine herausragende Arbeit.

Ich möchte dich kurz vorstellen. Du hast 2016, als du dein Kind bekamst, in der Entbindungsklinik die Not vieler junger alleinstehender Mütter erlebt. Und damals hast du den Entschluss gefasst, dich für mehr Sexualaufklärung und Aufklärung gegen geschlechtsspezifische Gewalt in der Ukraine zu engagieren. Du hast dich dabei leiten lassen von deiner eigenen Biografie, plötzlich alleinerziehende Mutter, mit dem Wunsch, nicht zurückgeworfen zu sein auf traditionelle Rollenbilder.

Drei Jahre später hast du dann Investoren für deine Arbeit gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Sexualaufklärung gefunden und deinen Job in einem Finanztechnologie-Unternehmen an den Nagel gehängt, um eine NGO aufzubauen. Damit war die Organisation GIRLS gegründet.

Du hast mit deiner NGO seitdem jungen Frauen vermittelt, dass sie das Recht haben, über ihren Körper und ihre Sexualität zu bestimmen. Dass sie einen selbstbestimmten Lebensweg gehen können.
Aus diesem Projekt ist heute ein großes Netzwerk geworden, das in vielfältigen Projekten Hilfe für Frauen und Kinder leistet. Seit dem 24. Februar 2022 hat sich dein Netzwerk zu einem der wichtigsten Akteure für humanitäre Hilfe für die am stärksten gefährdeten Gruppen Frauen, Kinder, ältere Menschen entwickelt.

Der Gedanke von Selbstbestimmung leitet eure Projekte auch im Krieg. Ihr schafft sichere Orte für die Opfer sexueller Gewalt, baut Kindergärten auf, um Frauen im Kriegsalltag zu entlasten und leistet auch psychologische Unterstützung für traumatisierte Kinder, Mädchen und Frauen und leistet rechtliche Unterstützung, damit die Täter bestraft werden.

Du zeigst, dass es möglich ist, in der eigenen Arbeit wandelbar und flexibel zu sein, mit den Projekten für mentale Gesundheit, die ihr für Frauen anbietet in einer Gesellschaft, die unter ständigem Druck und Stress steht, weil sie permanent angegriffen wird.

Man kann nicht alles aufzählen, was du und ihr jeden Tag leistet oder in Worte fassen, was deine und eure Arbeit für die Menschen in der Ukraine bedeutet. Aber ich denke, man kann sagen: Ohne euch wären viele Wunden dieses Krieges noch tiefer.

Liebe Yuliya, du hast es dir in Friedenszeiten zur Aufgabe gemacht, junge Frauen zu stärken, sie darin zu bestärken, dass alles möglich ist, was man sich vornimmt. Und du bist im Erfüllen dieser Aufgabe seit dem 24. Februar 2022 über dich hinausgewachsen.

Deine Arbeit stärkt und bestärkt Frauen darin, mutig zu sein, für sich und für andere, auch in herausfordernden Zeiten. Das ist doppelt schwierig in Zeiten des Krieges, in denen die Bilder der Helden in den allermeisten Fällen männlich sind. Ihr zeigt: Frauen sind die Heldinnen dieses Alltags im Ausnahmezustand.

Uns alle hier verbindet die Kühnheit der Hoffnung, dass wir an einem nicht allzu fernen Tag in Berlin in den Nachtzug nach Kyiv steigen und im Frieden einschlafen und im Frieden aufwachen. Dass wir in Kyiv und anderswo in der Ukraine vielen souveränen Frauen begegnen werden, die immer an das Danach und an sich selbst geglaubt haben.

Liebe Yuliya Sporysh,
du bekommst heute wohlverdient den Anne-Klein-Frauenpreis für deine großartige und so notwendige Arbeit. Du sagst von dir selbst, du seist manchmal stur. Andere würden sagen: beharrlich. Du bekommst heute einen Preis für deine Beharrlichkeit, für deinen Heldinnenmut in schweren Zeiten, für deine Menschlichkeit in Zeiten der Gewalt und Entmenschlichung.

Deine Arbeit und dein persönlicher Einsatz verdienen, auch stellvertretend für viele mutige und beherzte Frauen und Männer in der Ukraine, unseren Dank und unsere Hochachtung. Vor allem aber verdienen sie unsere unbedingte Unterstützung und Solidarität, jetzt und in Zukunft.

Denn wir wissen: einen umfassenden Wiederaufbau und ein schnelles Ende dieses Krieges wird es nur geben, wenn wir den Menschen in der Ukraine alles geben, was sie brauchen, um sich erfolgreich zu verteidigen.

Ich möchte enden mit einem Zitat einer bekannten ukrainischen Dichterin Lessja Ukrajinka, weil es sehr gut zu dir passt, liebe Yuliya: "Ich werde auf meinem Weg nicht wanken; ich werde mein Schicksal nicht beklagen, sondern es fest in beide Hände nehmen."

Slava Ukraini und herzlichen Glückwunsch!