Die Frauen in der Ukraine sind wichtige Akteurinnen des Wandels

Rede

Die ukrainischen Frauen haben bewiesen, dass sie sich nicht auf die Opferrolle reduzieren lassen, sondern bereit sind, eine aktive Position einzunehmen, sagt Dr. Imme Scholz, Juryvorsitzende und Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, in ihrer Begründung für die Verleihung des Anne-Klein-Frauenpreises 2024.

Imme Scholz steht hinter einem Redepult. Der Hintergrund ist grün und blau. Vor ihr steht der Anne-Klein-Frauenpreis.

Seit nun mehr über zwei Jahren wütet in der Ukraine ein brutaler Angriffskrieg, der das Land auf Jahrzehnte verändern wird. Große Teile des Landes wurden zerstört, zehntausende Zivilist*innen und Soldat*innen getötet oder verletzt. Die materiellen, körperlichen und seelischen Schäden werden das Land auch nach dem Ende des Krieges noch über Generationen hinweg prägen. Die heutige Preisverleihung ist für uns daher auch ein Anlass, der Opfer zu gedenken und uns die anhaltend dramatische Situation der Ukraine bewusst zu machen.

Es sind jedoch nicht nur die Gewalt und Zerstörung, die das Land nachhaltig verändern werden. Es sind auch Menschen wie Yuliya Sporysh, die sich unter dem Motto „Build Back Better“ für eine bessere Zukunft einsetzen, auf Basis von Demokratie, Menschenrechten und Gleichberechtigung. Menschen wie sie, die den Mut und die Kraft finden, über sich hinauszuwachsen und den gesellschaftlichen Widerstand und den Wiederaufbau der Ukraine in die Hand zu nehmen. Dafür gebührt ihnen, gebührt dir, liebe Yuliya, unser größter Respekt.

Wir verleihen Yuliya Sporysh heute den Anne-Klein-Frauenpreis, weil sie sich in herausragender Weise für die Rechte ukrainischer Frauen und Mädchen einsetzt und damit wichtige Grundsteine für die Demokratie und einen nachhaltigen Frieden in ganz Europa legt. 2019 gründete Yuliya Sporysh in Kyiv die NGO „Girls“, zunächst mit dem Ziel, sich für Sexualaufklärung und gegen Gewalt an Frauen einzusetzen. Mit dem russischen Überfall auf ihr Land haben sich ihre Aufgaben vervielfältigt – eine Herausforderung, der sie und ihre Kolleginnen mit einem bewundernswerten Engagement begegnen.

Als Jury hat uns die Arbeit von Yuliya und ihrer Organisation in vielerlei Hinsicht beeindruckt:

Yuliya und ihre Mitstreiterinnen setzen sich auch in Kriegszeiten für die Sichtbarkeit und Eigenständigkeit von Frauen und ihre Führungsrolle in der ukrainischen Gesellschaft ein. Das ist nicht trivial, denn spätestens in Kriegssituationen fallen Fragen nach Macht und Repräsentanz von Frauen oft unter den Tisch. Yuliya hingegen sieht in der aktuellen Situation sogar eine Chance: Viele Männer sind an der Front, verwundet oder gefallen – Frauen können und müssen nun ihre Führungsqualitäten beweisen.

In Kriegssituationen erleben wir oft gegenläufige Entwicklungen: Einerseits gibt es den Rückfall in traditionelle Rollen und Frauen übernehmen noch mehr Sorgearbeit. Andererseits haben sie die – aus der Not geborene – Chance, Männer in traditionell männlichen Berufen, und dort auch in Führungspositionen, zu ersetzen. Auch in der Ukraine hat der Krieg die Geschlechterverhältnisse verändert und die gesellschaftlich tief verankerten Rollenbilder zumindest vorrübergehend auf den Kopf gestellt. Jetzt kommt es darauf an, diese positiven Veränderungen, auch mit Blick auf die Zeit nach dem Krieg, zu verfestigen und die Repräsentanz von Frauen nachhaltig zu verteidigen.

Ein Beispiel dafür ist der Energiesektor. Unser Kyiver Büro unterstützt bereits seit 2019 Projekte zur Stärkung von Frauen im Energiesektor – seit Kriegsbeginn hat diese Arbeit an Bedeutung gewonnen. Besonders in technischen und leitenden Positionen sind Frauen traditionell unterrepräsentiert, die kriegsbedingte Abwesenheit der Männer ist für sie jedoch noch lange keine Aufstiegsgarantie. Deshalb ist es richtig, sie jetzt durch Vernetzung und Fortbildungen als Führungskräfte zu stärken, und damit auch Frauen aus Energieberufen zu unterstützen, die aus dem Osten der Ukraine geflohen sind.

Yuliya ermöglicht durch Aus- und Fortbildungsangebote vielen Frauen, deren Partner an der Front stehen oder gefallen sind, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften und ihre Familie zu ernähren. Auch durch die Mitarbeit in der eigenen Organisation, bei der Unterstützung von Binnengeflüchteten oder in Dnipro im Osten der Ukraine können viele Frauen ihren Lebensunterhalt verdienen.

Yuliya legt auch Wert darauf, andere Frauenorganisationen zu unterstützen, die sich für die Bewältigung der Kriegssituation einsetzen. Ihre Organisation ist auch für LGBTIQ offen und sie arbeitet mit NGOs zusammen, die deren Interessen und Bedarfe vertreten. Yuliyas NGO hat die Erlaubnis, Sexualkunde in den Schulen zu unterrichten und nutzt ihn, um der Ausgrenzung und Stigmatisierung von LGBTIQ entgegenzuwirken.   

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat eindeutig geschlechtsspezifische Auswirkungen. Während Männer in größerer Zahl durch den Kriegsdienst gefährdet sind (der Anteil von Frauen in der ukrainischen Armee beträgt 22 Prozent), leiden Frauen unter anderem vermehrt unter sexualisierter und häuslicher Gewalt, unter Flucht und Vertreibung. Russland setzt in den besetzten Gebieten bereits seit 2014 sexualisierte Gewalt als strategisches Kriegsmittel ein; darauf deuten unter anderem Berichte über mit Viagra ausgerüstete Soldaten. Und auch von Flucht und Vertreibung sind Frauen besonders betroffen: sie machen 60 Prozent der fünf Millionen Binnenvertriebenen aus und - nach verschiedenen Quellen - 70 oder gar 80 Prozent der Erwachsenen unter den sechs Millionen Menschen, die in die EU geflüchtet sind.

Yuliya setzt sich mit ihrer Organisation auch für die juristische Verfolgung von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe ein; und in diesem Zusammenhang ist sie auch Joumana Seif, unserer Preisträgerin 2023, begegnet.

Die ukrainischen Frauen haben bewiesen, dass sie sich nicht auf die Opferrolle reduzieren lassen, sondern bereit sind, eine aktive Position einzunehmen und echte Akteurinnen des Wandels zu sein. Frauen stehen an der Spitze der Freiwilligenbewegung, sie retten Leben in Operationssälen und evakuieren Kinder von der Front, sie sind das Gesicht der ukrainischen Diplomatie, kämpfen für internationale Unterstützung und als Soldatinnen an der Front – und sie spielen für die Zukunft der Ukraine eine entscheidende Rolle: als Ingenieurinnen, Juristinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Unternehmerinnen oder Politikerinnen. Dafür gebührt ihnen Anerkennung und vor allem eine gleichberechtigte Repräsentanz.
Für eine stabile und sichere Zukunft müssen Frauen in Entscheidungsprozesse über den Wiederaufbau der Ukraine gleichberechtigt einbezogen werden. Auch das ist ein Bereich, in dem sich Yuliya Sporysh bereits mit Weitsicht engagiert.

Im Dezember hat unser Kyiver Büro in Lwiw eine Konferenz zur Rolle der Frauen beim Wieder- und Neuaufbau organisiert. Auch Yuliya war eingeladen. Bei der Konferenz wurde deutlich, dass die ukrainischen Frauen eine wichtige Rolle im Widerstand und für die Resilienz der Ukraine spielen; daher muss unbedingt sichergestellt werden, dass sie nicht nur vom Wiederaufbau profitieren, sondern ihn auch mitgestalten. Dafür sollten sie als Entscheidungsträgerinnen auf allen Ebenen zu mindestens 50 Prozent repräsentiert sein. So können sie ihre Perspektiven einbringen, die nicht nur aus ihrer Fachexpertise rühren, sondern sowohl aus ihren geschlechtsspezifischen Rollen und Erfahrungen als auch aus ihren neuen Verantwortungsbereichen im Krieg.

Eine Chance dafür bietet die Ukraine Recovery Conference, die im Juni hier in Berlin gemeinsam von der Ukraine und Deutschland ausgerichtet wird. Ein geschlechtersensibler und geschlechtergerechter Wiederaufbau ist für das Land von fundamentaler Bedeutung. Die über 40 Millionen zerstörten Quadratmeter Wohnraum müssen so wiederaufgebaut werden, dass sie die Bedürfnisse von Kriegsversehrten, von Frauen mit Kindern und anderen Angehörigen, für die sie verantwortlich sind, berücksichtigen. Und es braucht einen raschen Wiederaufbau der sozialen Infrastruktur – Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Altersheime – das ist die Voraussetzung, um Frauen von der Last unbezahlter Pflegearbeit zu befreien und einen Rückfall in traditionelle Geschlechterrollen zu vermeiden.

Oleksandra Matwijtschuk, die Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten und Friedensnobelpreisträgerin 2022, sagte dazu: „Die Frauen stehen in diesem Krieg an vorderster Front. Mut hat kein Geschlecht. In der ‚russischen Welt‘ dominiert der Mann, und die Frau erfüllt nur bestimmte Rollen. Das ist es, was das autoritäre Russland von Europa unterscheidet. Unsere Töchter dürfen nicht in eine Situation kommen, in der sie beweisen müssen, dass sie auch Menschen sind.“

Wir wissen, dass Frieden und Sicherheit nachhaltiger sind, wenn sicherheitspolitische Entscheidungsprozesse inklusiv gestaltet werden. Als Heinrich-Böll-Stiftung setzen wir uns daher nicht nur in der Ukraine für Frauen in Friedensprozessen ein. Frauen, Mädchen und LGBTIQ werden in Kriegen und Konflikten weltweit in hoher Zahl Opfer von sexualisierter Gewalt und Vertreibung und übernehmen gleichzeitig Verantwortung – für ihre Familien und ihre Gesellschaften. Trotzdem haben sie geringe Mitspracherechte. Frauen gehören bei der Suche nach Konfliktlösungen mit an den Verhandlungstisch, ihr Transformationspotenzial muss besser genutzt werden, um nachhaltigen Frieden zu erreichen.

1990 fand hier in Berlin die erste Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa statt, bei der 350 Frauen aus 38 Ländern über ihre Rolle im europäischen Friedensprozess diskutierten. Anne Klein, in deren Namen wir diesen Preis heute vergeben und die morgen ihren 74. Geburtstag gefeiert hätte, sagte damals in ihrer Eröffnungsrede:

„Uns eint weiter der Wunsch, endlich weibliche Sichtweisen in der Politik zur Geltung zu bringen und eine neue Bewertung und Neuverteilung der gesellschaftlichen Aufgaben von Frauen und Männern im Produktions- wie im Reproduktionsbereich zu erreichen. Bislang bauen ausschließlich Männer an dem, was sie „Gemeinsames Haus“ nennen. Frauen sind in der Bauleitung nicht präsent. Sie ahnen zu Recht, dass sie wieder einmal für Küche und Besenkammer vorgesehen sind.“

Auch wenn sich die Welt dank Vorkämpferinnen wie Anne Klein verändert hat und Frauen längst ihren Anspruch wahrnehmen, an der Konstruktion unseres gemeinsamen Hauses Europa beteiligt zu sei – dieser Wunsch nach Teilhabe und Repräsentanz eint uns auch noch 34 Jahre später. Und ich bin sicher, Anne Klein wäre heute stolz, dass wir in ihrem Namen eine Ingenieurin des Friedens in Europa auszeichnen.

Liebe Yuliya, vielen Dank für dein Engagement und herzlichen Glückwunsch zum Anne-Klein-Frauenpreis!