Die Bundesregierung muss in der EU führen

Vorstandskolumne

Mit ihrer Blockadehaltung bei zahlreichen EU-Gesetzgebungsprozessen hat die Ampelregierung viel Porzellan auf europäischer Ebene zerschlagen. Mit Blick auf die unsicheren Mehrheitsverhältnisse im neuen Europäischen Parlament und die Präsidentschaftswahl in den USA ist klar: Es braucht eine Kehrtwende in der deutschen EU-Politik.

Jan Philipp Albrecht

Dass wir uns in einer „Polykrise“ befinden, also mehreren Krisen gleichzeitig gegenüberstehen, liegt nicht nur an jüngeren Entwicklungen (geopolitisch verschieben sich die Kräfte, der Klimawandel beschleunigt sich, demokratiefeindliche Trends in vielen Ländern nehmen zu). Grund für diese Polykrise ist auch eine jahrzehntelange Lähmung der Politik.

Viel zu lang wurden die notwendigen Anstrengungen aufgeschoben. Marode Infrastrukturen etwa wurden genauso wenig erneuert wie dysfunktionale und auch technisch veraltete Entscheidungsstrukturen in Politik und Verwaltung. Der große Umbau von Industrie, Wirtschaft, Energieversorgung und Mobilität hin zu 100 Prozent Erneuerbaren Energien blieb sowieso aus. Die Kosten dieses Nicht-Handelns in der Vergangenheit zeigen sich umso deutlicher in der Gegenwart, wo externe Schocks wie die Corona-Pandemie und der russische Krieg gegen die Ukraine die Schwachstellen des Systems offenlegen: Enttäuschung und Vertrauensverlust in die Problemlösungsfähigkeit von Politik.

In den USA hat dies bis zur Wahl eines Demagogen geführt, der trotz seiner zahlreichen Vergehen gegen Rechtsstaat und Demokratie derzeit in vielen Umfragen vor dem aktuellen Präsidenten Joe Biden liegt. Dabei hatte dieser zuletzt wirkliche Veränderung zum Positiven, einen Umbau im ganz großen Stil herbeigeführt: Der Inflation Reduction Act (IRA) leitet Investitionen vor allem in die vom Strukturwandel hart getroffenen Regionen des Landes, erreicht dort, über Steuernachlässe, auch kleine und mittelständische Unternehmen und schafft durch eine starke Bindung an die Gewerkschaften viele gute neue Jobs. Und überhaupt verbindet der IRA wirtschaftliche, industrielle, soziale und ökologische Ziele sehr geschickt und wird nicht so leicht zu demontieren sein.  Es ist bitter, dass diese action Bidens vielleicht zu spät kommt.

Doch unabhängig davon, wie die die US-Präsidentschaftswahl ausgehen wird: Europa wird sich nicht mehr darauf verlassen können, dass die USA Rücksicht nehmen auf die Interessen der Europäer*innen und die Erneuerung des „alten Kontinents“ mitdenken. Denn mit dem IRA hat sich das Land vom Freihandel abgewandt; die aktuellen Debatten zur finanziellen Unterstützung der Ukraine und Israels lassen darüber hinaus einen Rückzug aus dem Engagement außerhalb des eigenen Landes befürchten. Auch wenn die USA die NATO nicht verlässt, muss sich die EU auf dieses Szenario vorbereiten.

Doch die Lage in der Europäischen Union ist, gelinde gesagt, verfahren. Das immer härter ausgenutzte Veto eines Viktor Orbán etwa stellt die Handlungsfähigkeit des Europäischen Rates infrage. Und auch der deutsch-französische Motor läuft alles andere als geölt. Jüngst etwa äußerten sich der deutsche Kanzler und der französische Präsident in beeindruckender Weise komplett gegensätzlich zur Frage der militärischen Unterstützung für die Ukraine. Und die Bundesregierung blockierte zuletzt gleich mehrere EU-Gesetzgebungsprozesse.  Neue gemeinsame Investitionen aller EU-Staaten erscheinen immer unwahrscheinlicher. Und große Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Frankreich scheinen mit Freibriefen von den gemeinsamen Beihilfe- und Wettbewerbsregeln eine vermeintliche Abwanderung der eigenen Industrie vermeiden zu wollen, während kleinere Mitgliedsstaaten tatenlos zuschauen.

Dabei verlangt die Realität des Klimawandels von der EU eigentlich gerade ein maximal effektiv koordiniertes Vorgehen. Es braucht schnell eine kraftvolle Implementierung des Green Deal und ein ambitioniertes Folgeprogramm im Sinne eines Green Industrial Deals, um der Dimension des Problems gerecht zu werden. Die Dimension des Problems: Aktuelle Klimawandel-Daten legen nahe, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen ist und sogar die 2-Grad-Zielmarke wackelt.

Eigentlich wäre die EU derzeit noch stark genug, eine Antwort auf das US-amerikanische Super-Investitionsprogramm IRA auf den Weg zu bringen. Doch dafür bräuchte es vor allem eines: eine aktive Führungsrolle der deutschen Bundesregierung in der EU. Doch noch immer blickt Deutschland selbstreferenziell auf die Herausforderungen seiner eigenen Volkswirtschaft, während deren Schicksal untrennbar mit dem europäischen Binnenmarkt und dem regulatorischen Handeln der EU verbunden ist.

Es ist dringend notwendig, dass die Bundesregierung ihre Politik jetzt aktiv in die Europäische Union trägt und Reform- wie Investitionsnotwendigkeiten – vor allem mit Blick auf den Umbau der Wirtschaft, die Erreichung der Klimaziele, den sozialen Zusammenhalt und die Stärkung der Sicherheitsarchitektur – „selbstverständlich europäisch“ denkt. Die Mehrheiten in der Bevölkerung dafür gibt es, wie unsere gleichnamige Europa-Studie zeigt, die am 21. März erscheint.

Imme und Jan Philipp

Einmischen - die Vorstandskolumne

Einmischen! Als einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben. So hat es Heinrich Böll formuliert und diese Ermutigung inspiriert uns bis heute. Mit dieser Kolumne mischen wir uns als Vorstand der Stiftung in den aktuellen politisch-gesellschaftlichen Diskurs ein. Jeden Monat schreiben hier im Wechsel: Jan Philipp Albrecht und Imme Scholz.

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