Blick von außen: Wie schaut die Welt auf die EU?

Die Europawahl ist nicht nur für EU-Bürger*innen relevant. Auch andere Länder in der Welt erwarten mit großem Interesse den Juni dieses Jahres. Sie haben konkrete Vorstellungen und Erwartungen an die Rolle der EU in der Welt und die Zusammenarbeit mit anderen Ländern und Regionen. Schließlich sind viele Entscheidungen, die in Brüssel und in den natio­nalen Hauptstädten getroffen werden, auch für viele andere von Bedeutung. Fünf Beiträge aus Argentinien, Indien, dem Vereinigten Königreich, Südafrika und den USA geben Einblicke, wie Expert*innen aus diesen Ländern auf die EU schauen und welche Empfehlungen sie geben möchten.


Inhalt


ARGENTINIEN

«Neue Allianzen für die Demokratie»

Lateinamerika und die EU sollten sich bei ihrer Zusammenarbeit darauf konzentrieren, gemein­same Strategien gegen den weitreichenden Einfluss rechter Kräfte auf ihre Gesellschaften zu entwickeln. 

Text: Gabriela Mitidieri und Robert Grosse

Gabriela Mitidieri und Robert Grosse

Am 19. November 2023 gewann die ex­treme Rechte in der Stichwahl die Präsidentschaftswahlen in Argentinien, unterstützt vom konservativen Bündnis Juntos por el Cambio. Das Ergebnis schockierte viele, obwohl ähnliche Muster bereits in Brasilien, den Vereinigten Staaten, Ungarn oder den Philippinen zu beobachten waren oder sind. Daher dürfen wir uns nicht nur mit den regionalen Auswirkungen dieser Regierung befassen, die das Staatswesen zerstören, Aktivist*innen verfolgen oder den Klimawandel leugnen möchte. Wir müssen uns nun vor allem auch kritisch damit auseinandersetzen, wie wir in diesem globalen Gefährdungsszenario für Demokratien und Menschenrechte neue inter­nationale Allianzen bilden können, ins­besondere mit Europa.

Seit der Rückkehr vieler lateinameri­kanischer Staaten zur Demokratie konzentrierten sich in den vergangenen 40 Jahren die «strategischen Allianzen» der Europäischen Union mit diesen Ländern vor allem darauf, sich eigene Vorteile zu sichern: durch den Austausch von Waren und Dienstleistungen und die Fortführung des Extraktivismus im Rahmen sogenannter Umwelt- oder Energiepakte. Fraglich ist, ob diese Bündnisse tatsächlich eine nachhaltige, integrative und gerechte Entwicklung bewirken können oder ob sie nicht eher die Lebensqualität der lateinamerikanischen Gesellschaften beeinträchtigen und Umwelt und Demokratien schaden.

Wir sind der Meinung, dass wir die Grundlinien der Zusammenarbeit dringend neu formulieren müssen, um eine wirklich emanzipatorische Allianz mit Lateinamerika aufbauen zu können. Kein Handelsabkommen kann wichtiger sein als der Schutz der demokratischen Grundrechte, die in unserer Region und weltweit erneut bedroht sind. Auch Europa mit seiner langen Geschichte demokratischer Staaten- und Gesellschaftsbildung sieht seine Demokratien durch den Vormarsch rechter Parteien gefährdet. Wir müssen die historischen Asymmetrien zwischen unseren Regionen überwinden und uns diesen bedrohlichen Prozessen gemeinsam entgegenstellen. 

Entwickeln wir Leitfragen und einen gemeinsamen Fahrplan gegen die extreme Rechte

Die neuen Erscheinungsformen rechts­extremer Bewegungen erreichen mit ihren disruptiven Strategien vor allem im digitalen Raum junge Menschen und schlagen so die Brücke zur traditionellen Rechten. Wie in anderen historischen Momenten gelingt es ihnen, aus weitverbreiteter sozialer und wirtschaftlicher Unzufriedenheit Kapital zu schlagen – insofern kein neues Phänomen. Wir im progressiven Lager müssen jedoch begreifen, dass wir unsere eigenen Strategien neu denken müssen. Einige Leitfragen könnten uns zur Entwicklung eines gemeinsamen Fahrplans dienen. Dort, wo sich der Vormarsch der extremen Rechten erfolgreich eindämmen ließ: Welche internationalen Bündnisse waren ausschlag­gebend? Wie kann eine Zusammenarbeit der Demokratien die Zivilgesellschaften stärken, wenn antidemokratische Akteur*innen bereits die Macht übernommen haben? Wie können wir unsere Bemühungen koordinieren, um Regierungen geschlossen und kritisch entgegenzutreten, die sich mit autoritären Akteur*innen verbünden? Was kann eine internationale Allianz demokratischer Akteur*innen der Zusammen­arbeit zwischen rechtsextremen Regierungen entgegensetzen? 

Gabriela Mitidieri ist Historikerin und Expertin für Arbeit und Gender am Instituto de Investigaciones de Estudios de Género (Universität von Buenos Aires). Sie ist Mitglied im Team für Mobilisierung/Überwachung gegen Rechts am Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS).

Robert Grosse ist Soziologe und Experte für internationale Entwicklungszusammenarbeit. Aktuell ist er für die internationale Arbeitsgruppe am CELS tätig. Er lebt und arbeitet in Lateinamerika und Europa.


INDIEN

«Das Bild von Europa verändert sich»

Optimismus über neue Synergien: Die Dynamik der strategischen Partnerschaft zwischen Indien und der EU hat in den vergangenen Jahren Auftrieb erhalten.

Text: Jagannath Panda

Jagannath Panda

Indien hat ein starkes Interesse daran, die Beziehungen zur Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten zu stärken – von Wirtschaft und Technologie über Klima und Energiesicherheit bis hin zur multilateralen Zusammenarbeit. Dies zeigt sich daran, dass der indische Premierminister Narendra Modi in den vergangenen zwei Jahren großen Wert auf persönliche Diplomatie mit europäischen Staats- und Regierungschefs gelegt hat. Zweifellos hat die Dynamik der strategischen Partnerschaft zwischen Indien und der EU in den vergangenen Jahren neuen Auftrieb erhalten – ironischerweise nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, den beide Seiten unterschiedlich einordnen und bewerten. Auch wenn sich die jeweiligen Standpunkte unterscheiden, entwickeln sich die Beziehungen ähnlich dem Verhältnis Indiens zu den USA, insbesondere in Bezug auf wirtschaftliche, technologische und regionale Sicherheitsbelange. Indien hat die EU als wertvolle Mittelmacht schätzen gelernt, und, wichtiger noch, als ausgleichende Macht im komplizierten, fragilen Gefüge der indo-pazifischen Angelegenheiten, die vom Vormachtstreben der USA und Chinas beherrscht werden. 

Im Mittelpunkt des Verhältnisses zwischen Indien und der EU stehen die Wirtschaftsbeziehungen, wobei auch Technologie zu einem Schwerpunkt der Zusammenarbeit geworden ist. Verstärkt wurde dies durch die Einrichtung des Handels- und Technologierates (TTC) und die unter Hochdruck laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen (FTA). In Indien herrscht großer Optimismus über diese neuen Synergien. 

Gemeinsame Innovationen und Hilfe beim Aufbau einer klima­resistenten Infrastruktur 

Aus Sicht vieler Expert*innen in Indien ist der Klimaschutz äußerst wichtig für die Zusammenarbeit mit der EU und ganz Europa. Die EU als Vorreiterin könnte Indien nicht nur beim Aufbau einer klimaresistenten Infrastruktur unterstützen, sondern sich auch durch Wissensaustausch und gemeinsame Innovationen einbringen, zum Beispiel im Bereich erneuerbare Energien.

Die multilaterale Arena erwartet von der EU ein verstärktes Engagement für wirksamen Multilateralismus und Global Governance. Indien blickt auf die EU nicht nur als Verfechterin der Grundsätze von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, sondern erwartet auch, dass sie Reformen in internationalen Foren wie den Vereinten Nationen unterstützt. 

Zugleich ist das Bild Europas in der indischen Bevölkerung, auch in gewissen zivilgesellschaftlichen und strategischen Kreisen, immer noch von seiner kolonialen Vergangenheit geprägt: eine reiche, entwickelte Region, die anderen Ländern, insbesondere Entwicklungsländern oder dem sogenannten Globalen Süden, scheinheilig Normen vorgibt. Auch dies ist keine neue oder für Indien spezifische Perspektive: Neben anderen Themen machen Überfischung (z. B. «neokoloniales Plündern» von Thunfisch) und Europas Energie-Heuchelei (etwa Doppelstandards bei fossilen Brennstoffen) schon lange weltweit Schlagzeilen.

Dennoch gilt die EU als verlässlicher Partner in Fragen wie demokratische Solidarität, Menschenrechte, Konfliktverhütung, Friedenskonsolidierung, Zusammenarbeit mit Drittländern und menschenzentrierten Regelungen für neue Technologien. Diese Partnerschaft zu stärken, das wird als zwingend notwendig angesehen. 

Dr. Jagannath Panda ist Leiter des Stockholmer Zentrums für südasiatische und indo-pazifische Angelegen­heiten am Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik in Schweden. 


VEREINIGTES KÖNIGREICH

«Ein besseres Abkommen für beide Seiten ist möglich»

Die Mehrheit der Menschen im Land hat verstanden, dass der Brexit mehr Probleme als Lösungen geschaffen hat. Noch haben die EU und das Vereinigte König­reich eine letzte Chance, neu aufeinander zuzugehen.

Text: Naomi Smith

Naomi Smith

Im Jahr 2026 wird das Handels- und Kooperationsabkommen (TCA) zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zum ersten Mal überprüft. Dies ist die letzte sinnvolle Chance, die Beziehung neu zu gestalten, und damit die letzte Gelegenheit, ein besseres Abkommen für beide Seiten zu erreichen.

Der Brexit ist für das Vereinigte Königreich ein absolutes Desaster. Das zeigt sich, wohin man auch blickt: steigende Lebensmittelpreise, schlechtere Chancen für junge Menschen, ein kränkelndes Gesundheitswesen, schleppendes Wirtschaftswachstum, geringe Produktivität und entzweite Familien.

Die Mehrheit der Menschen im Land hat diese Realität verstanden, auch viele, die beim Referendum 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt haben und ihr Votum nun bereuen. Laut einer von «Best for Britain» im Mai dieses Jahres durchgeführten Umfrage meinen 63 Prozent der Brit*innen, der Brexit habe mehr Probleme geschaffen als gelöst. Nur 21 Prozent waren der gegenteiligen Ansicht.

Viele Brit*innen sind sich einig, dass die derzeitige Vereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union nicht funktioniert und verbessert werden muss. Eine Mehrheit der britischen Wähler*innen wünscht sich jetzt eine engere Beziehung zum Nachbarn. Dazu gehört auch die Labour Party.

Wir können unsere Gesellschaften nach dem Brexit einander wieder näherbringen

Unter der Führung von Keir Starmer hat die Partei gute Chancen, die Parlamentswahlen im nächsten Jahr zu gewinnen. Für die Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wäre das von großer Bedeutung, denn dann hätte es die EU bei der anstehenden TCA-Überprüfung nicht mit einem antagonistisch gesinnten Gegenüber zu tun, sondern mit einem Verhandlungspartner, der Annäherung sucht.

Diese Absicht hat Keir Starmer bereits geäußert. Er ist sich dabei bewusst, dass ein Wiedereintritt in den EU-Binnenmarkt, in die Zollunion oder gar als EU-Vollmitglied noch keine Option ist. Falls er zum Premierminister gewählt wird, will er die TCA-Überprüfung nutzen, um eine engere Handelsbeziehung mit der EU anzustreben. Diese Meinung teilen auch andere führende Labour-Abgeordnete im Parlament.

Es ist enorm wichtig, dass der Europäische Rat, die Kommission und das neue Europäische Parlament die Chance erkennen, die die TCA-Überprüfung nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern auch für die EU darstellt. Anstatt uns weiter auseinanderzutreiben, kann und muss es bei der Überprüfung darum gehen, unsere Gesellschaften nach dem Brexit einander wieder näher zu bringen und eine dauerhafte Einigung zu erzielen, die beiden Seiten zugutekommt.

Die EU sollte sich deshalb auf eine Zusammenarbeit mit einem völlig anderen Vereinigten Königreich einstellen, das offen und bereit ist, die TCA-Überprüfung mit guten Absichten anzugehen. Diese Gelegenheit bietet sich vielleicht nicht noch einmal. Wird sie nicht genutzt, besteht die ernste Gefahr, dass unser zerrüttetes Verhältnis endgültig zementiert wird – zum Nachteil für beide Seiten. Solange die Chance noch besteht, muss die EU sie ergreifen. Das Vereinigte Königreich wird es bestimmt versuchen.

Naomi Smith ist Geschäftsführerin von «Best for Britain», einer über­parteilichen Kampagnengruppe im Vereinigten Königreich. Diese versucht, die Probleme zu lösen, mit denen Großbritannien nach dem Brexit konfrontiert ist 


SÜDAFRIKA

«Wachsamer Blick Richtung Europa»

Beobachter*innen und Akteur*innen aus ganz Afrika und dem Globalen Süden versuchen derzeit einzuschätzen, wie sich die zunehmend fragmentierte geopolitische Landschaft und ein möglicher Rechtsruck Europas auf die weiteren Beziehungen zwischen Europa und dem afrikanischen Kontinent auswirken könnten.

Text: Philani Mthembu

Philani Mthembu

Bei den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 sah die Welt noch anders aus. An eine Covid-19-Pandemie hatte niemand gedacht. Der Konflikt in der Ukraine war gegenwärtig, aber noch nicht eskaliert. Diese Ereignisse aber haben sich deutlich auf die Rolle Europas in der Welt ausgewirkt. In Afrika und Teilen des Globalen Südens wurden im Zuge der Pandemie Vorwürfe laut, die europäischen Länder verfolgten nationalistische Ansätze: Sie horteten Impfstoffe und verhängten einseitige Reiseverbote, die sich negativ auf die Wirtschaft von Handels- und Entwicklungspartnern in Afrika auswirkten. Zudem unterstützten sie Südafrika, Indien und viele Länder des Globalen Südens viel zu wenig bei ihrer Forderung, geistige Eigentumsrechte vorübergehend auszusetzen, um die Impfstoffproduktion und -verteilung im Globalen Süden voranzutreiben.

Welche Rolle kann Europa bei Frie­den­serhalt und Stabilität spielen?

Beobachter*innen und Akteur*innen aus ganz Afrika und dem Globalen Süden versuchen derzeit einzuschätzen, wie sich die zunehmend fragmentierte geopolitische Landschaft und ein möglicher Rechtsruck Europas auf die weiteren Beziehungen zwischen Europa und dem afrikanischen Kontinent auswirken könnten, insbesondere in Bezug auf Themen wie Einwanderung, Klimawandel, Wirtschaftspartnerschaften mit Afrika und die EU-Erweiterung. Genau beobachtet wird auch, inwieweit die EU ihre Verteidigungskapazitäten ausbauen kann, um bei der Erhaltung von Frieden und Stabilität in Europa, Afrika und im Globalen Süden eine größere Rolle zu spielen. Der Krieg in der Ukraine eskaliert und die Vereinigten Staaten scheinen proaktiver zu sein als die EU – und das, obwohl der Krieg in Europa stattfindet, mit weitreichenden Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der EU und die europäische Sicherheitsarchitektur. 

Die afrikanischen Stakeholder werden besonders daran interessiert sein, die EU-Handelspolitik in Afrika besser mit den eigenen Bemühungen des Kontinents um eine stärkere regionale Integration und den innerafrikanischen Handel durch die Afrikanische Kontinentale Freihandelszone (AFCFTA) abzustimmen. Die EU wird sich dabei mit Kritik an ihrer Vorgehensweise bei Wirtschafts­partnerschaftsabkommen auseinandersetzen müssen. Wichtige afrikanische Stakeholder werfen der EU vor, den Kontinent weiter zu fragmentieren, indem sie nicht über die bestehenden regionalen Wirtschaftsgemeinschaften verhandelt. Die EU wird auch weniger Gewicht darauf legen müssen, China und Russland in Afrika entgegenzutreten. Stattdessen sollte sie ihre Versprechen im Blick behalten, den Kontinent nachhaltig zu stärken: durch bessere Finanzierung der Infrastruktur, weitere Entwicklungszusammenarbeit und Unterstützung der institutionellen Kapazitäten der panafrikanischen Institutionen. 

Bei der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen auf dem gesamten Kontinent wäre der EU eine zweigleisige Strategie zu empfehlen: Sie sollte ihnen helfen, ihre Kapazitäten und Kompetenzen aufzubauen, indem sie sie unter anderem finanziell unterstützt. Gleichzeitig darf sie die staatlichen Institutionen nicht aus den Augen verlieren. Schwache Staaten sind keine starken Partner, wenn es darum geht, Entwicklung und Wachstum zu fördern, und demokratische Errungenschaften laufen Gefahr, untergraben zu werden.

Dr. Philani Mthembu ist promo­vierter Politikwissenschaftler und geschäfts­führender Direktor am Institute for Global Dialogue (IGD), einem unab­hängigen Thinktank für Außenpolitik mit Sitz in Tshwane (Pretoria), Südafrika. Davor absolvierte er ein gemeinsames Promotionsprogramm der Graduate School of Global Politics an der Freien Universität Berlin und der School of International Studies an der Renmin University in Peking. 


USA

«Raus aus der Komfort­zone»

In den zahlreichen Krisen, die es gibt und immer geben wird, muss sich die EU als handlungsfähige Instanz erweisen, und nicht als ein Ort, an dem politische Ideen verkümmern oder vergessen werden. 

Text: Rachel Rizzo

Rachel Rizzo

Auf amerikanische Entscheidungs­trä­ger*innen, Thinktanks und die Zivil­gesellschaft wirkt die globale Rolle der Europäischen Union kompliziert und undurchschaubar. Das europäische Staatswesen gilt als mächtiges, aber esoterisches Geflecht von Institutionen, komplexen Beziehungen und wichtigen globalen Akteur*innen. Zwar hat die EU im vergangenen Jahrzehnt zahlreiche Stürme erfolgreich überstanden – von der griechischen Staatsschuldenkrise bis hin zum Brexit-Debakel 2016 –, doch stagniert ihre Fähigkeit, das Weltgeschehen wirklich mitzugestalten oder zu beeinflussen. Die EU hat sich von Anfang an als «normative Macht» verstanden, wie es Ian Manners erstmals 2002 ausdrückte. Gemeint ist damit die Fähigkeit der EU, «das Verhalten anderer durch den Export ihrer Werte zu beeinflussen». Außerdem repräsentiert die Gründung der EU «eine neue und besondere Art von Akteurin innerhalb des internationalen Systems [...] über das anarchische und eigennützige Verhalten von Einzel­staaten hinaus».

Die Idee Europas als Wertegemeinschaft reicht jedoch vielleicht nicht mehr aus, damit die EU auch künftig relevant bleibt. Gideon Rachman von der Financial Times hat dies vor ein paar Monaten erörtert. So waren die Volkswirtschaften der USA und der EU im Jahr 2008 etwa gleich stark, während die US-Wirtschaft heute um fast ein Drittel größer ist als die der EU ohne das Vereinigte Königreich. Europa wird von US-Tech-Unternehmen wie Microsoft, Amazon und Apple beherrscht. China und die USA dominieren die Entwicklung Künstlicher Intelligenz. 
Außerdem ist der europäische Kontinent immer noch in hohem Maße von den Sicherheitsgarantien der USA abhängig. Und obwohl die EU versucht, ihre eigene Verteidigungsindustrie zu entwickeln und besser zu integrieren, führen nationale Interessen und gegenseitiges Misstrauen zwischen den Mitgliedstaaten dazu, dass die meisten einfach amerikanische Rüstungserzeugnisse kaufen. 

Die EU muss neue Wege finden, um sich auf der Weltbühne zu behaupten

Den USA kann das nur recht sein, weil es ihnen ein stetes, lukratives europäisches Rüstungsgeschäft sichert, wie etwa für den mehrere Milliarden teuren Kampfjet F-35. In Sachen Außenpolitik ist die EU einfach nicht in der Lage, sich auf der internationalen Bühne zu behaupten. Wer auf der Plattform X (früher Twitter) unterwegs ist, kennt wahrscheinlich den Account «Is EU concerned?» (Ist die EU besorgt?), der spöttisch jedes Mal verfolgt, wenn die Staats- und Regierungschefs der EU auf internationale Ereignisse mit Floskeln wie «bestürzt», «entsetzt», «besorgt» und «beunruhigt» reagieren statt mit tatsächlichen politischen Inhalten.
Vielen in den USA (vor allem, wenn sie sich mit der EU beschäftigen) ist bewusst, dass die Beziehungen zwischen den USA und der EU zu den wichtigsten Beziehungen der Welt gehören. Aber die EU muss neue Wege finden, um sich auf der Weltbühne zu behaupten. In den zahlreichen Krisen, die es gibt und immer geben wird, muss sich die EU als handlungsfähige Instanz erweisen, und nicht als ein Ort, an dem politische Ideen verkümmern oder vergessen werden. 

Es gibt hier viele Handlungsfelder: von der Neuverschuldung zur Finanzierung gemeinsamer Verteidigungsprojekte über die Ausweitung qualifizierter Mehrheitsbeschlüsse anstelle von Einstimmigkeit in der Gemeinsamen EU-Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zur EU-Erweiterung als ernstzunehmende Möglichkeit. Zwar war die EU in der Lage, auf Krisen mit Veränderung und Anpassung zu reagieren, doch jetzt muss sie sich aus ihrer Komfortzone wagen und sich auch proaktiv verändern und anpassen, um relevant zu bleiben. 


Rachel Rizzo ist Senior Fellow am Europe Center des Atlantic Council. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Europäische Union, die NATO und die transatlantische Beziehung.

This article is licensed under Creative Commons License