Isabel Kienzle, FAU Erlangen-Nürnberg

Das Forschungsvorhaben widmet sich der Frage, ob und inwieweit materielle Menschenrechte erfordern, dass die von internationalen Menschenrechtsinstitutionen angewandten Beweisgrundsätze faktische Unsicherheiten in Fällen besonderer Machtasymmetrie, namentlich in Pushback-Fällen, kompensieren. Es beleuchtet dabei das Beweisrecht internationaler Menschenrechtsinstitutionen (hier: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowie die UN-Ausschüsse) in Pushback-Fällen und widmet sich damit einer menschenrechtlichen Fragestellung in migrationsrechtlichem Kontext aus prozessrechtlicher Perspektive.

Durch Individualbeschwerden rufen Betroffene Menschenrechtsinstitutionen an, um feststellen zu lassen, ob ein Staat Menschenrechte verletzt hat, beispielsweise durch Pushbacks, d.h. die Rückweisung von Menschen an Grenzen ohne individuelle Prüfung etwaiger Schutzansprüche. Die im Verfahren vorzunehmende rechtliche
Beurteilung stützt sich auf einen konkreten Sachverhalt, der zunächst festzustellen ist. Hierfür bringen die Parteien Beweise vor. Welche Tatsachen von welcher Partei und zu welchem Wahrscheinlichkeitsgrad bewiesen werden müssen, wird dabei von beweisrechtlichen Grundsätzen determiniert. Diese sind vor menschenrechtlichen Institutionen flexibel und kontextualisiert ausgestaltet. Die Praxis informeller Pushbacks an den EU-Außengrenzen bedingt aber besondere  beweisschwierigkeiten für die Betroffenen, denn sie verhindert gezielt das Erlangen von Beweismitteln, etwa durch das Einbehalten von Smartphones. Das begründet
ein Hindernis für den Rechtsschutz vor menschenrechtlichen Institutionen, die ihrerseits die Einhaltung der Menschenrechte durch Staaten zu überprüfen haben.

Das Dissertationsprojekt geht der Hypothese nach, dass materielle Menschenrechte auch auf die prozessuale Ebene der Verfahren vor internationalen menschenrechtlichen Institutionen selbst einwirken und dadurch beweisrechtliche Maßstäbe bedingen, die faktische Unsicherheiten, die aus der besonderen Machtasymmetrie in Pushback-Fällen folgen, zu kompensieren vermögen. Die zweigeteilte Untersuchung analysiert zunächst die Rechtsprechung zu Pushbacks des EGMR und der UN-Ausschüsse auf zugrundeliegende Beweisgrundsätze. Der vergleichende Ansatz hilft dabei, die innere Logik des Prozessrechts zu überwinden und das von den Institutionen geprägte kontextualisierte Verständnis des
Beweisrechts mit Fokus auf Pushback-Fälle zu erhalten. Anschließend werden
menschenrechtliche Maßstäbe für diese Grundsätze herausgearbeitet. Dabei zeigt das Projekt nicht nur die generellen Maßstäbe aus den Verfahrensvorschriften oder den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts auf, sondern rekurriert für präzisere beweisrechtliche Maßstäbe auf die kodifizierten Menschenrechte.

Keywords: pushbacks; border violence; evidence; human rights adjudication