Jahr des Aufbruchs 2004 – welche Hoffnungen richten sich heute auf die Zukunft?

Am 1. Mai 2004 wurde in vielen mittel- und osteuropäischen Hauptstädten gefeiert. Mit der in der Geschichte der Europäischen Union größten Erweiterungsrunde wurde die Teilung Europas überwunden. Groß waren die Euphorie und Freude, endlich Mitglied der europäischen Familie zu sein, die sich von 15 auf 25 Mitglieder vergrößerte. 

Wie blickt man in der Region auf die vergangenen zwei Jahrzehnte zurück? Was kann aus den Erfahrungen für zukünftige Beitrittsprozesse gelernt werden? Und welche Hoffnungen verbinden Menschen in unserer Nachbarschaft heute mit dem Wunsch, Teil der EU zu werden?


Inhalt


POLEN

«Die östliche Perspektive wird dringend gebraucht.»

Polen muss sich für Reformen in der EU engagieren. Ein seit mehreren Jahren ruhendes, deutsch-französisch-polnisches Kooperations­format, das Weimarer Dreieck, könnte zum Vehikel für Verän­derungen werden.

Text: Marek Prawda

Marek Prawda

Polen ist zu einem Beispiel für die Wirksamkeit der «europäischen Konvergenzmaschine» geworden. Bis auf einen Teil Asiens ist es wohl nirgends gelungen, einen so kohärenten Raum wirtschaftlicher Entwicklung wie in der Europäischen Union zu schaffen. Dank der Integration in die EU war Polen, gemessen am anfänglichen Entwicklungsstand, eines der sich am schnellsten entwickelnden Länder der Welt. Entscheidend dafür waren drei Prozesse: die Integration in den Binnenmarkt und die rechtliche Absicherung, die Abfederung der sozialen Kosten der Transformation sowie die Einbindung in internationale Lieferketten. Ebenso wichtig war es, den Staat in den westlichen Strukturen der liberalen Demokratie zu verankern. Aus polnischer Sicht half die EU-Mitgliedschaft auch, die fatale geopolitische Lage und damit das Sicherheitsvakuum zu überwinden.

Für derzeitige Beitrittskandidaten empfiehlt es sich, die Vorbeitrittsphase möglichst effektiv zu nutzen. In ihr können bereits Verfahren angewendet und Mittel eingesetzt werden, die dem Kandidatenstaat enorm helfen können. Sich an das EU-Recht anzupassen ist eine Aufgabe, die es im eigenen Interesse bestmöglich zu bewältigen gilt. Wir betrachten den Zeitraum von 1990 bis zu unserem offiziellen EU-Beitritt im Jahr 2004 bereits als einen Prozess der realen Annäherung an die EU. Beispielsweise dauerte es in Japan (1950-1980) genauso lange wie in Polen, um von 33 Prozent auf 60 Prozent des Pro-Kopf-BIP im Verhältnis zu Deutschland zu wachsen. In Polen geschah dies im Zeitraum von 1990 bis 2018, das heißt sowohl in der Vorbeitritts- als auch in der Mitgliedschaftsphase. 

Der Sicherheitsaspekt wird auch in der EU immer wichtiger 

Bei zukünftigen Erweiterungen wird es stärker darauf ankommen, die «Sicherheitsgrauzonen» in Europa zu reduzieren. Zumal wir in einer EU leben, die sich nun weniger als Regelfabrik und mehr als Schicksalsgemeinschaft versteht. In der Welt der neuen Bedrohungen wird der Sicherheitsaspekt – auch in der EU – immer wichtiger. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt deshalb zu Recht, dass uns die EU-Erweiterung allemal weniger kosten würde als eine Nichterweiterung. Unter dem Einfluss der Kriegserfahrung in der Ukraine werden die Stimmen Osteuropas zu einer unverzichtbaren Ergänzung der europäischen Identität. Ihre Expertise wird dringend gebraucht, um der Herausforderung des imperialen Russlands zu begegnen. 

Daraus ergeben sich für Polen neue Aufgaben in der EU. Polen sollte seine neue «Unentbehrlichkeit» im Zusammenhang mit dem Erweiterungsprozess definieren. Es muss sich für Reformen der EU einsetzen, damit sich diese erweitern kann. Polen könnte auch Deutschland näher an die Länder im Norden und Osten Europas heranführen, die Sicherheit und Erweiterung als ihre Priorität ansehen. Ein seit mehreren Jahren ruhendes, deutsch-französisch-polnisches Kooperationsformat, das Weimarer Dreieck, sollte zum Vehikel für die oben genannten Veränderungen in der EU werden. Dafür sprechen sowohl die in Deutschland verkündete Zeitenwende als auch Pariser Initiativen im militärischen Bereich sowie die Neuausrichtung hinsichtlich zukünftiger Erweiterungsrunden. Währenddessen hat Polen als Frontland der NATO eine deutliche Erhöhung der Militärausgaben angekündigt.

Marek Prawda ist Vizeminister für auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen. Von 2016 bis 2021 war er der Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Polen und von 2012 bis 2016 Ständiger Vertreter Polens bei der Europäischen Union. Als Botschafter Polens war er in Schweden und Deutschland und hatte leitende Positionen im Außenminis­terium inne. In den 1980er Jahren war er in der Solidarność-Bewegung aktiv.


SLOWAKEI

«Hin zu aktiver euro­­­päischer Bürgerschaft»

Die slowakische Öffentlichkeit nimmt vor allem die materiellen Vorteile der EU wahr. Und in den populistischen Ansprachen vieler Politiker*innen ist das «böse, bürokratische Brüssel» ein beliebter Sündenbock. Es wäre wichtig, die Trennung zwischen «uns» und «den anderen» zu überwinden. 

Text: Oľga Gyárfášová 

Oľga Gyárfášová 

Im Jahr 1989 verfolgten viele meiner Generation, die auf der «falschen Seite» des Eisernen Vorhangs aufgewachsen waren und studiert hatten, hoffnungsvoll die Gespräche der polnischen Oppositionsbewegung Solidarność mit der kommunistischen Partei am ikonischen Runden Tisch, das Durchschneiden der Stacheldrahtzäune an der ungarisch-österreichischen Grenze und schließlich den Fall der Berliner Mauer. Wenig später erfolgte der schnelle Fall des Regimes auch in der damaligen Tschechoslowakei. Václav Havel wurde Präsident und das Freiheitswunder begann. Ein wichtiger Meilenstein auf dem kurvenreichen Weg der Slowakei zur Demokratie war der europäische Integrationsprozess. Der EU-Beitritt am 1. Mai 2004 bleibt die Sternstunde in der jüngeren Geschichte der Slowakischen Republik. 

Die Slowakei war und ist ein reines Empfängerland von Mitteln aus europäischen Fonds. Mit EU-Geldern wurden Straßen, Eisenbahnen, Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser gebaut und renoviert, Plätze erneuert und Wissenschaftsparks errichtet. Hunderte Projekte zur Förderung der regionalen Entwicklung, Forschung, Gesundheit und des Umweltschutzes umgesetzt. Insgesamt werden aus den europäischen Struktur- und Investitionsfonds mehr öffentliche Investitionen getätigt als über den Staatshaushalt. 

Nach dem Beitritt zum Schengen-Raum im Jahr 2007 entfielen die meisten innereuropäischen Grenzkontrollen. Die Bürger*innen der Slowakei nutzen die europäischen Grundfreiheiten intensiv – sie reisen, studieren, arbeiten und gründen Unternehmen in der gesamten EU. Die Mitgliedschaft in der Eurozone fördert seit 2009 zudem den Handel und senkt die Transaktionskosten. All dies sind unbestreitbare Vorteile. 

Für viele ist die EU eher ein «Geld­automat» als eine Gemeinschaft geteilter Werte 

Die Bevölkerung der Slowakei ist sich dessen bewusst. Laut dem Eurobarometer im vergangenen Herbst 2023 glauben 83 Prozent der Befragten, dass unser Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert (der Durchschnitt für die EU-27 beträgt 72 Prozent). Umso erstaunlicher ist es, dass in derselben Umfrage nur 44 Prozent die EU positiv wahrnehmen, 38 Prozent äußern sich neutral, 18 Prozent sogar negativ. 

Umfragen zeigen immer wieder, dass die Öffentlichkeit die materiellen Vorteile der Mitgliedschaft betont, allerdings weniger die Werte, auf denen die EU basiert – Demokratie, Frieden, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität. Für viele ist die EU eher ein «Geldautomat» als eine Gemeinschaft geteilter Werte. 

Es besteht sicherlich nicht die Gefahr, dass die Slowakei aus der EU austritt, aber das «böse, bürokratische Brüssel» ist in den populistischen Reden vieler Politiker ein beliebter Sündenbock. Im öffentlichen Diskurs fehlt der Appell an die Werte, die keinen Preis haben, aber von unschätzbarem Wert sind. Solidarität erwarten wir von anderen. Um aktive europäische Bürgerschaft zu fördern, wäre es wichtig, die Trennung zwischen «uns» und «den anderen» zu überwinden. 

In Zukunft wird die EU voraussichtlich um weitere Länder erweitert werden, die unsere Solidarität benötigen. Die Slowakei wird sich von einer Nettoempfängerin zu einer Nettozahlerin entwickeln. Daher ist es wichtig, dass sich die Wahrnehmung der EU-Mitgliedschaft in der slowakischen Öffentlichkeit in den kommenden Jahren von materiellen Vorteilen hin zur Wertschätzung der EU als Gemeinschaft von Werten verschiebt, die uns verbinden.

Oľga Gyárfášová ist Soziologin und Professorin am Institut für Europa­studien und Internationale Bezie­hungen der Comenius-Universität in Bratislava. Sie ist auch Gründungs­mitglied des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (IVO), einem unab­hängigen Thinktank. In ihrer Arbeit konzentriert sie sich auf die öffentliche Meinung, Wahlforschung, europäische Integration und politische Kultur.


UNGARN 

«20 Jahre später: gebrochene Versprechen und ungebrochene Hoffnung»

Text: Márta Pardavi

Márta Pardavi

Am 1. Mai 2004 feierte ich als eine von Tausenden auf einem Festival Ungarns neue Chancen für wirtschaftliches Wachstum, sozialen Fortschritt und eine tiefere Einbindung in die europäische Familie, die für uns Ungar*innen damals ein Sehnsuchtsort war. Untermauert wurde der Prozess der politischen und gesetzgeberischen Angleichung an EU-Standards durch die Verpflichtung, die Werte der Kopenhagener Kriterien zu wahren: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.

Uns war damals nicht hinreichend bewusst, dass in unserer neu gegründeten demokratischen Gemeinschaft keine regelmäßigen «Gesundheitschecks» verankert waren und der Zivilgesellschaft nur eine marginale Rolle zuerkannt wurde. Heute sehen wir, dass die in Kopenhagen festgelegten Grundwerte nicht eingehalten werden.

Das von Ungarn 2004 abgelegte Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten ist heute kaum noch zu erkennen. In Ungarn läuten seit 2010 unentwegt die Alarmglocken wegen einer Regierung, die unabhängige Institutionen und Rechtsstaatlichkeit missachtet, fairen Wettbewerb und Medienfreiheit mit Füßen tritt, ohne Unterlass populistische Kampagnen führt und eine fremdenfeindliche sowie homophobe Politik betreibt. 

Ein klares Signal gegen Angriffe auf Journalist*innen, Richter*innen und Aktivist*innen 

Die EU-Institutionen, die bisweilen nur zögerlich reagiert haben, setzen sich nun mit der Bedrohung auseinander, die Ministerpräsident Orbán für das Gefüge der EU darstellt, indem er das Prinzip demokratischer Regierungsführung und die Rechte von Bürger*innen und Unternehmen untergräbt. Korruption und Angriffe gegen die Rechtsstaatlichkeit durch rechtliche Schritte und die Aussetzung von EU-Mitteln zu bekämpfen kann zwar allein keinen demokratischen Wandel in Ungarn herbeiführen, aber dennoch unterstützen diese wertvollen Maßnahmen die Unabhängigkeit der Justiz. Sie senden zudem ein klares Signal, Frontalangriffe auf Journalist*innen, Richter*innen und Menschenrechtsaktivist*innen andernorts zu unterlassen. 

Auch wenn die Feierstimmung am 20. Jahrestag des EU-Beitritts der Enttäuschung über die Politik meines Landes gewichen ist, glaube ich nach wie vor fest an die transformative Kraft der Demokratie, der Menschenrechte und des europäischen Projekts. Genau wie viele Menschen in anderen europäischen Ländern stehen die meisten Ungar*innen zu diesen Werten. Nach wie vor befürworten über 70 Prozent die EU-Mitgliedschaft ihres Landes. Viele EU-Bürger*innen glauben immer noch an das ursprüngliche Projekt der EU, nämlich Frieden, Wohlstand und das Wohlergehen ihrer Bürger*innen.

Heute verfügt die EU über einige Strategien und Instrumente zum Schutz der Grundrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Viele fehlen aber noch. Wir werden auf diesem Weg nur vorankommen, wenn wir intensiv in unser Projekt der Demokratie und Grundrechte investieren, bevor Ungarns Beispiel in anderen europäischen Ländern ein beunruhigend vertrautes Phänomen wird. Starke EU-Werte sind unser gemeinsames Interesse und unsere Verantwortung – in jedem derzeitigen und künftigen Mitgliedstaat. Um sie zu pflegen, müssen wir unabhängige Institutionen, eine freie Zivilgesellschaft und die Medien unterstützen und in die Lage versetzen, sich über Grenzen hinweg den Sirenengesängen autoritärer Führer mit ihren falschen Versprechungen zu widersetzen.

Márta Pardavi ist Ko-Vorsitzende des Ungarischen Helsinki-Komitees, einer führenden Menschenrechts-NGO in Budapest. Als ausgebildete Juristin fokussiert sie sich in ihrer Arbeit auf die Bedrohungen für den Rechts­staat und den Raum der Zivilgesell­schaft in Ungarn und in der EU sowie auf die Stärkung von Allianzen zwischen Menschenrechts­verteidiger*innen in der EU.


ROM*NJA IN EUROPA

«Europa als Raum und Zuhause für alle Bürger*innen» 

Rom*nja müssen in alle politischen Entscheidungs­­prozesse einbezogen werden. Das gilt besonders für Länder, die von politischen Krisen betroffen sind. Aber auch für alle anderen.

Text: Gabriela Hrabaňová 

Gabriela Hrabaňová 

Wir erleben gerade eine multiple Krise – Covid-19, die Energie­krise, den Krieg in der Ukraine. Gerade in solchen Zeiten ist es umso wichtiger, demokratische Werte zu verteidigen und die Rechte von Minderheiten zu schützen. Kurzfristige, stückwerkhafte Lösungsversuche können die Folgen jahrhundertelanger Diskriminierung wie der unserer Minderheit nicht beseitigen. 

Klar ist, dass die Zivilgesellschaft unabhängig sein und über ausreichende finanzielle Mittel verfügen muss, um ihre Watchdog-­Funktion zu erfüllen und nationale wie lokale Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen. Derzeit aber erleben wir, wie ihre Spielräume an vielen Orten eingeschränkt werden, es gibt keine Verpflichtungen, ein sicheres Umfeld für sie zu schaffen. Dazu würde zum Beispiel der Zugang zu zivilen Dialogen gehören – im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsstandards für Vereinigungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. 

Was die Beteiligung von Rom*nja an politischen Prozessen betrifft, so haben der Vierte Statusbericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die "Roma Civil Monitoring"-Berichte festgestellt, dass sie nur unzureichend konsultiert werden. Ebenso, dass es nur sehr wenige partizipative und integrative Mechanismen gibt, um die Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene zu beteiligen. Vor allem aber fehlt es in diesem Kontext an Empowerment-Maßnahmen. 

Klar ist, dass Rom*nja in alle politischen Maßnahmen einbezogen werden müssen, die unsere Zukunft gestalten wollen und müssen – und zwar nicht nur bei jenen Belangen, die ihre Minderheit betreffen. Sie sind zu konsultieren und beteiligen bei allen politischen Prozessen und dies in allen Staaten. Das gilt besonders für die Länder, die am stärksten von Krisen betroffen sind. Für die Zukunft der Ukraine ist es zum Beispiel äußerst wichtig, dass Minderheiten, einschließlich der Rom*nja, am Wiederaufbau des Landes beteiligt werden. 

Auf Antiziganismus reagieren und Gesellschaft und Behörden sensibilisieren

Das ERGO-Netzwerk ist eine starke Kraft im Kampf gegen Antiziganismus. Über unsere Mitglieder verfolgen wir genau, was die Mitgliedstaaten tun, um unsere Teilhabe zu ermöglichen. Wir sind der Überzeugung, dass positive Veränderungen für die Roma möglich sind, wenn der Antiziganismus als die Wurzel der Ungleichheit und Ausgrenzung erkannt und bekämpft wird und wenn die Roma als gleichberechtigte Stakeholder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Dazu müssten die Länder sich dazu verpflichten, wirksam auf Antiziganismus zu reagieren, in all seinen Erscheinungsformen. Außerdem müssten sie Ressourcen bereit­stellen, um die Gesellschaft und die Behörden zu sensibilisieren.

Mit Blick auf die bevorstehende Europawahl und angesichts erstarkender rechtsextremer Parteien trägt Europa eine große Verantwortung. Sie besteht unter anderem darin, die Menschenrechte durchzusetzen und Europa als einen sicheren Raum und ein Zuhause für alle Bürger*innen zu wahren. Dazu müssen die Wahlverfahren unter anderem integrative Prozesse gewährleisten und zum Beispiel Listen aufstellen, die unsere diversen Gesellschaften realistisch abbilden.

Zusagen wurden zwar gemacht, doch es fehlen Taten. Wir werden in der Bekämpfung von Antiziganismus nur erfolgreich sein, wenn wir alle Aspekte von Inklusion angehen. 

Gabriela Hrabaňová ist ­Menschen­rechts­aktivistin aus Tschechien. Sie verfügt über lang­jährige Erfahrungen im Schutz, in der Förderung und im Einsatz für die Rechte von Rom*nja. Sie ist seit 2011 Mitglied des European Roma Grassroots Organizations Network (ERGO Network), deren Leiterin sie aktuell ist.


TÜRKEI

«Die Perspektive auf einen Beitritt nicht aufgeben»

Zwischen der EU und der Türkei könnte wieder eine positive Dynamik in Gang kommen, wenn neue Akteur*innen und Faktoren ineinandergreifen. Beide Seiten sollten auf jeden Fall im Dialog über die poli­tischen Normen und Standards der EU bleiben und so einen Prozess der fortschreitenden Annäherung fördern.

Text: Senem Aydın-Düzgit

Senem Aydın-Düzgit

Die Türkei ist ein fester Bestandteil der jahrhundertelangen Geschichte Europas. Fast seit Gründung der EU unterhält das Land auch strukturierte Beziehungen zu ihr. Beide Seiten haben sich in der Vergangenheit erfolgreich um engere Beziehungen bemüht, wie die gewachsenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Verbindungen eindeutig zeigen. 

Dennoch sieht es derzeit für die weiteren Beziehungen zwischen der EU und der Türkei recht düster aus. Ein EU-Beitritt der Türkei ist kurz- bis mittelfristig keine realistische Option. Seit Beginn der Beitrittsgespräche im Jahr 2005 sind die Verhandlungen nur äußerst zäh vorangekommen. Sechzehn Kapitel wurden eröffnet und nur eines davon vorläufig abgeschlossen. Seit Juni 2016 wurde kein neues Kapitel mehr aufgeschlagen. 

Die Entwicklung der Türkei weg von einer Demokratie hin zu einem hochautoritären, hierarchischen und zentralisierten Regime ließ die ohnehin schon festgefahrenen Beitrittsverhandlungen einfrieren – mit der Folge, dass die EU nur noch wenig Einfluss auf die Entwicklung der türkischen Demokratie nehmen konnte. Auch wurden die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU immer transaktionaler und der zumindest zum Teil wertebasierte Aspekt der Beitritts­agenda ging verloren. Die Enteuropäisierung und Entdemokratisierung der Türkei, gepaart mit einer unilateralen, fordernd auftretenden Außenpolitik, haben zudem eine Spirale von Antagonismus und Distanzierung auf beiden Seiten in Bewegung gesetzt. Und so hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Verhältnis der Türkei zur EU deutlich verändert: vom Kandidatenland auf dem Weg zum Vollbeitritt hin zu einem Nachbarn und schließlich sogar hin zu einem Gegner. 

Die große Mehrheit der türkischen Öffentlichkeit unterstützt den EU-Beitritt

Bis zum Zeitpunkt dieses Beitrags im Dezember 2023 hat sich diese Dynamik kaum verändert. Allerdings gibt uns die Geschichte der Beziehungen Hinweise darauf, dass sich in Zukunft auch wieder etwas bewegen könnte. Wenn in der EU und der Türkei eine andere Konstellation von Akteur*innen und Faktoren ineinandergreift und zusammenwirkt, kann wieder eine positive Dynamik in Gang kommen. Jüngste Meinungsumfragen und Studien in der Türkei deuten darauf hin, dass die große Mehrheit der türkischen Öffentlichkeit den EU-Beitritt unterstützt und der EU gegenüber positiv eingestellt ist. Falls die Türkei zur Demokratie zurückkehrt, ist eine vertiefte Zusammenarbeit in verschiedenen Politikbereichen, die über Migration hinaus auch eine Zollunion sowie Wirtschaft, grüne Transformation, Sicherheit und Energie umfassen könnte, durchaus möglich. Geschehen könnte dies in Form einer differenzierten Integration der Türkei in die EU. Dabei würde die Beitrittsperspektive nicht aufgegeben, sondern durch einen Prozess der fortschreitenden Übereinstimmung mit den politischen Normen und Standards der EU ergänzt werden. Deshalb ist es wichtig, die derzeit eingefrorene Beitrittsperspektive für die Türkei nicht aufzugeben. Sie könnte das einzige Instrument sein, mit dem die EU im Rahmen der neuen Erweiterungsarchitektur nach Russlands Krieg gegen die Ukraine eine sinnvolle und kooperative Beziehung zu einer künftigen, sich wieder demokratisierenden Türkei aufbauen kann.

Senem Aydın-Düzgit ist Professorin für Internationale Beziehungen an der Fakultät für Geistes- und Sozial­wissen­schaften der Sabanci-Universität in Istanbul sowie leitende Wissen­schaftlerin und Koordinatorin für akademische Angelegenheiten am Istanbul Policy Center. Derzeit ist sie Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin. 


WESTBALKAN

«Die ‹Erweiterungs­müdigkeit› über­winden – hin zu einem Neuanfang»

Die Zusammenarbeit der EU mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und verlässlichen, demokratischen Kräften könnte zur Stabilität in der gesamten Region beitragen.

Lejla Gačanica

Text: Lejla Gačanica

Als der Europäische Rat im Jahr 2003 verkündete, die Zukunft der westlichen Balkanstaaten liege in der Europäischen Union, erschien diese Perspektive zwar herausfordernd, aber durchaus möglich. Zwanzig Jahre später ist der Optimismus geschwunden. Obwohl die aktuelle geopolitische Lage sogar noch stärker für die Erweiterung spricht, steht der Prozess vor mehr Hindernissen als noch im Jahr 2003. Die Instabilität in Europa hat zugenommen. Der EU-Beitrittsprozess stagniert. 

Die kurze Geschichte der EU-Erweiterung um sechs Länder im Westbalkan verlief holprig und war von Rückschlägen geprägt. Ungerechtfertigte Verzögerungen, Hindernisse und Vetos haben die Glaubwürdigkeit des EU-Integrationsprozesses und seinen Einfluss auf den politischen Wandel im Westbalkan untergraben. Auf der anderen Seite haben die Länder des Westbalkans in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und Korruptionsbekämpfung Rückschritte gemacht. Reformen kommen nicht voran oder sind intransparent. Die Spannungen im Westbalkan nehmen zu. Russland und China machen sich diese politische und sicherheitspolitische Instabilität zunutze und üben immer stärkeren Einfluss aus. 

Dennoch kann ein EU-Beitritt immer noch eine echte, treibende Kraft im Westbalkan sein, auch in Bezug auf die notwendigen Reformen. Wir müssen uns die transformative Kraft der Erweiterungspolitik wieder vergegenwärtigen, um aus dem Kreislauf der Unsicherheit auszubrechen, in dem die EU und der Westbalkan feststecken. Die Voraussetzungen für einen wirksamen Beitrittsprozess sind bereits gegeben. Was wir nun brauchen, ist ein strategischer Ansatz der EU gegenüber dem Westbalkan anstelle von spontanen Aktionen ohne langfristige Ergebnisse. Wir müssen die Transparenz und die Rechenschaftspflicht der EU-Verhandlungsführenden stärken; die EU muss endlich ihren Ansatz der «Stabilokratie» aufgeben, da sich diese Strategie bei den politischen Vertreter*innen des Westbalkans als nicht zielführend erwiesen hat.

Die Länder des Westbalkans sollten sich verpflichten, die nötigen Reformen umzusetzen

Auch wenn sich der Optimismus aktuell in Grenzen hält, ist die EU der richtige Weg für den Westbalkan – und umgekehrt. Die Stabilität der Region und Europas ist unbestreitbar sehr wichtig und die Beitrittsverhandlungen sollten daher niemals aufgegeben werden. Dazu sind mehrere Maßnahmen erforderlich, angefangen mit einer stärker und entschlossen handelnden EU, die einen ehrlichen, glaubwürdigen und wertebasierten Erweiterungsprozess im Westbalkan gewährleistet.

Der EU-Beitritt sollte in erster Linie darauf beruhen, dass die Beitrittsbedingungen erfüllt werden. Die Staaten des Westbalkans sollten nicht darauf zählen, dass die Erweiterungskriterien angesichts der aktuellen geopolitischen Dynamik aufgeweicht werden, sondern sich vielmehr dazu verpflichten, die nötigen Reformen umzusetzen. Und die EU sollte von den Ländern des Westbalkans diese Pflicht einfordern. 

Die EU muss bilaterale Streitigkeiten der EU-Mitgliedstaaten mit den Beitrittskandidaten wirksam angehen. Fragen, die nicht unter die Beitrittskriterien fallen, sollten getrennt vom eigentlichen Beitrittsprozess behandelt werden. 

Die Rolle der Zivilgesellschaft ist für die Erweiterung von größter Bedeutung. Die EU sollte mit (oft oppositionellen) zivilgesellschaftlichen Organisationen und verlässlichen demokratischen Kräften zusammenarbeiten, die tatsächlich zu einer demokratischen politischen Kultur in der gesamten Region beitragen werden.

Lejla Gačanica arbeitet derzeit als unabhängige Forscherin und politi­sche Analystin. Sie verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Zusammenarbeit mit internationalen und zivilgesellschaftlichen Organi­sationen in Bosnien und Herzegowina sowie in der Region Westbalkan. 

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