Aminata mit einem Cover von James Brown: «Über all die Gegenstände von uns haben wir einen ganz neuen Weg zueinander gefunden.»

Narrative hinter­fragen: Auf der Suche nach den Menschen dahinter

Ein geheimnisvoller Karton, eine Polaroidkamera und eine Vision: Junge Europäer*innen lassen sich ein Jahr im Kampagnenwesen schulen, um 2024 in den sozialen Medien und im Netz für eine offene, europäische Gesellschaft zu werben. Ihre Leitfrage in diesem Projekt: Wie baut man rassistische Einstellungen ab, die in Europa weitverbreitet sind? Ein Blick hinter die Kulissen der Narrative Change Academy der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa.

Das Mikrofon sitzt noch nicht richtig. «Wo soll ich es anstecken?», fragt Lejla. Sie tastet ihr Kopftuch ab und sucht eine geeignete Position. Ein Techniker geht zum Tisch und hilft ihr, das kleine Mikrofon zu befestigen. Auf den Stühlen neben ihr sitzen Kübra und Yasmine. Die drei sind aufgeregt. Das Licht des Scheinwerfers an der Decke strahlt grell auf einen Karton, der vor ihnen in der Mitte des Tisches steht. Gleich geht es los, der letzte und spannendste Teil ihrer nun fast einjährigen Arbeit beginnt: der Dreh ihrer selbst entwickelten Kampagne.

Lejla, Kübra und Yasmine sind drei von insgesamt zwölf Teilnehmenden der Narrative Change Academy (NCA), die im Mai 2023 begonnen hat. Sie haben sich erfolgreich für das Projekt beworben, das die Austauschplattform «Junge Islam Konferenz» der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa in diesem Jahr zum ersten Mal ins Leben gerufen hat. In insgesamt vier Workshops in Berlin werden junge Europäer*innen aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland im Alter zwischen 18 und 27 Jahren im Kampagnenwesen geschult. Im September 2024 wird der zweite Jahrgang der Akademie starten, die Workshops werden dann in Brüssel stattfinden. Er wird offen sein für junge Menschen aus allen europäischen Ländern.

Wie baut man rassistische Einstellungen ab, die in Europa weitverbreitet sind? 

Die Gruppe des ersten Jahrgangs ist denkbar vielfältig: gläubige Muslim*innen, Menschen jüdischen Glaubens und Menschen ohne Religionszugehörigkeit; europäische Staatsbürger*innen und Menschen, die in Europa leben und arbeiten, aber keine Staatsbürgerschaft in einem der drei Länder haben. Was sie alle eint: Sie haben einen akademischen Hintergrund und wollen sich für ein gemeinsames, vielfältiges und offenes Europa einsetzen. 

Die Leitfrage des Bildungsprojekts lautet: Wie begegnet man diskriminierenden, rassistischen und islamfeindlichen Einstellungen, die in Europa weitverbreitet sind? Die Antwort von Lejla, Kübra, Yasmine und den anderen Teilnehmenden liegt vor ihnen, in dem verschlossenen Karton auf dem Tisch, in einem Studio in Berlin-Neukölln. Er ist Teil der Kampagne, die sie bei ihren Workshops entwickelt haben. Im Karton befinden sich persönliche Gegenstände von Teilnehmenden, die etwas über ihre Vorlieben, Hobbys und ihre Wesenszüge erzählen. Lejla, Kübra und Yasmine werden gleich beginnen zu erraten, von wem die Gegenstände sein könnten. Die Kamera filmt sie dabei. Die Videos werden später auf Social Media veröffentlicht. Die Raterunden sollen auf spielerische Weise Vorurteile hinterfragen und die Menschen als vielfältige Individuen und als Teil unserer Gesellschaft erkennbar machen. Sie sollen dem verbreiteten Bild der gefährlichen und bedrohlichen Muslim*innen etwas Eindrückliches entgegensetzen. 

Es ist Anfang November 2023, der vierte und letzte Workshop hat begonnen. Im ersten Stockwerk sind die Kameras aufgebaut. «Hello everybody», sagt Lejla und strahlt. «Wir haben eine geheimnisvolle Box hier», fügt sie an. «Und die werden wir jetzt auspacken!» Sie öffnet die Kartonkiste, es raschelt und knistert, dann holt Lejla einen Gegenstand heraus, der in rosa Papier eingehüllt ist: eine Polaroidkamera. «Die ist schwer!», ruft sie überrascht. Funktioniert sie überhaupt noch? Sie versucht ein Foto zu machen. Dreht die Kamera in ihren Händen hin und her. Begutachtet sie. Und rätselt: Wem könnte sie gehören? Was fotografiert sie oder er gerne? Warum liebt die Person Sofortbildabzüge? 

Was erzählen uns Gegenstände über die Menschen, denen sie gehören – ganz unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit oder ihrer Herkunft?

So lautet der Leitgedanke der gesamten Kampagne, die die Narrative Change Leaders unter professioneller Anleitung entwickelt haben und die sie nun selbst in den Auspack-Videos umsetzen: die Menschen sehen hinter all den Vorurteilen, die unsere Gesellschaften in Europa in Bezug auf den Islam dominieren. Die Botschaft klingt einfach. Sie zu finden, war jedoch alles andere als leicht.

Narrative zu verändern, ohne Vorurteile zu reproduzieren – gar nicht so einfach

«Wir wollen die Erzählung ändern, die wir kritisieren, aber man tappt so schnell in die Falle, genau die Worte dieser Erzählung wieder zu benutzen», sagt Aminata. Zum Beispiel beim Slogan «Kein Mensch ist illegal». Auch die Verneinung bestätigt den Rahmen der Erzählung, also die Annahme, dass Menschen illegal sein könnten. Hängen bleibe in den Köpfen weniger das «kein» als vielmehr die Wörter «Mensch» und «illegal». Aus dem gleichen Grund wollten die Kampagnenmacher*innen auch nicht die beliebte Geschichte von guten Migrant*innen erzählen, die hart arbeiteten, um sich zu integrieren. Und das meist in Berufen, die der Mehrheitsgesellschaft einen Nutzen bringen: als Ärzt*innen oder Polizist*innen. Auch das impliziere, dass es schlechte Migrant*innen gebe, die diesem Bild nicht entsprechen, beispielsweise Mütter, die sich ausschließlich um ihre Kinder kümmerten.

Ein Ziel der Workshops war es, eine eigene Erzählung zu finden. Aminata beginnt ihren Workshop-­Tag im zweiten Stock, auf der Etage über dem Studio. Hier arbeiten die Organisationseinheiten für die Kampagne, die Teams sind nach Länderzugehörigkeiten aufgestellt, um die Verbreitung der digitalen Kampagne zu steuern, die von Januar 2024 an auf Instagram zu sehen ist. Welche Influencer*innen könnten sie ansprechen? Welche Medien sollen kontaktiert werden? Auf dem Tisch der 28-jährigen Französin kleben grüne Post-its, auf denen sie ihre Ideen notiert hat. Freunde, Influencer, Medien, Partner der Junge Islam Konferenz wie zum Beispiel die Allianz Foundation.

Erreichen wollen sie vor allem die sogenannte bewegliche Mitte der Gesellschaft. Als Zielgruppe haben die Kampagnenmacher*innen die Pragmatischen gewählt, so bezeichnet die Soziologie jene jüngeren Menschen, die politisch schlechter eingebunden und gesellschaftlich desorientiert sind und meist unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit bleiben. Wie spricht man sie am besten an?

Auf dem Weg zu einer Lösung habe es viele Diskussionen gegeben, erzählt Aminata. «Wir haben uns bis in die kleinsten Details sehr lange ausgetauscht, zum Beispiel, welche Formulierungen wir benutzen. Wir haben alle die gleiche Vision, wir wollen gemeinsam in einer gerechten, sicheren und solidarischen Gesellschaft leben», sagt Aminata. Aber wie kann man diese Vision so formulieren, dass sie auch jene Leute teilen, die anfällig sind für populistische Erzählungen und Vorurteile?

Mit dieser Frage beschäftigt sich auch der Ansatz der hoffnungsbasierten Kommunikation. Sie beruht auf dem Grundsatz, das in den Fokus zu nehmen, was Menschen aufgrund ihrer gemeinsamen Werte erreichen könnten. Daran zu glauben, dass Veränderung möglich ist. Nicht gegen das Negative zu arbeiten, sondern für das Positive. Und sich der Sprache bewusst zu werden, die man beim Reden über andere benutzt, um einander näherzukommen. 

«Mit der Kampagne, mit den Gegenständen aus der Box und den persönlichen Geschichten dazu schaffen wir Raum für Gegennarrative», sagt die Leiterin der NCA, Jasemin Seven. Die Videos sollen Geschichten von jungen Menschen und jungen Muslim*innen erzählen, die in der Öffentlichkeit bisher zu wenig Platz fänden. «Gute Dinge passieren, wenn wir uns öffnen», fügt Seven an. Daher richtet sich an alle, die die Online-Kampagne sehen, auch die Frage: «Was ist in deiner Box?» Im Idealfall nehmen sie die Frage auf, packen ebenfalls drei Gegenstände in einen Karton und teilen auf diesem Weg ihre Geschichte. 

Welche Vorannahmen über andere Menschen leiten uns? Welche Sprache nutzen wir?

Unterstützt und angeleitet haben die NCA-­Mitglieder bei der Entwicklung der Kampagne die drei Narrativ- und Kampagnen­expert*innen Thomas Coombes von Hope-based Communications sowie Gesine Schmidt-Schmiedbauer und Philip Doyle von der Agentur One Step Beyond. Doyles Resümee der zurückliegenden Workshops fällt sehr positiv aus. Es sei für alle nicht einfach gewesen, sich in die Zielgruppe einzudenken. «Aber wichtig ist, dass sich die jungen Menschen zutrauen, etwas zu verändern.» Das Ziel der Akademie, junge Menschen dabei zu begleiten, sogenannte Narrative Leader zu werden, ist für ihn erreicht. 

Die Leiterin der NCA, Jasemin Seven, hat vor allem die Gruppendynamik zwischen den Teilnehmenden sehr berührt. «Sie haben respektvoll und meinungsreich miteinander debattiert und dabei einander Raum gegeben, an den Diskursen zu wachsen.»

David kann das bestätigen, er ist Fellow der Narrative Change Academy und hat das Konzept und eine Strategie für die Akademie mitentwickelt. In Deutschland geboren und jüdischen Glaubens weiß David um die Brisanz von Diskriminierung und Vorurteilen, aber auch um die eigenen Privilegien. 

Er hat bei der Kampagne mitgemacht und ist beeindruckt: «Man betrachtet Gegenstände von Menschen und äußert sich dazu, gibt Einschätzungen ab, assoziiert – und dann offenbart sich dieser Mensch, und ich dachte nur: Wow, das hätte ich nicht gedacht.» 

David hat ein Kinderbild mitgebracht: «Man betrachtet Lieblingsstücke anderer Menschen, assoziert — und dann erlebt man, wie sehr man sich getäuscht hat.»
David hat ein Kinderbild mitgebracht: «Man betrachtet Lieblingsstücke anderer Menschen, assoziiert — und dann erlebt man, wie sehr man sich getäuscht hat.»

Dieser Prozess soll auch bei den Zu­schauer*innen der Kampagnen-Videos ausgelöst werden: Nachdenken und sich bewusst machen, welche Vorannahmen über andere Menschen einen leiten. Und sich nicht zuletzt der Sprache bewusst werden, die man beim Reden über andere benutzt. Auch das kann Menschen einander näherbringen. «Über die Gegenstände und die Gespräche haben wir einen ganz neuen Weg gefunden, uns kennenzulernen», sagt Aminata. Das schafft eine Verbindung, über Grenzen hinweg. 

Die Polaroidkamera übrigens, die gehört Lejla selbst. Sie liebt das Fotografieren. Sie liebt es, Erinnerungen und Gefühle festzuhalten, die sie mit anderen Menschen teilt. Und die sie mit ihnen verbindet.


Susanne Lang lebt als freie Redakteurin und Journalistin in Berlin.

This article is licensed under Creative Commons License