Demonstration zum Unabhängigkeitstag der Ukraine am 24. August 2023 am Brandenburger Tor in Berlin.

Russlands Überfall auf die Ukraine: eine Zäsur für die Außen- und Sicherheits­politik der EU

Der Angriffskrieg Russlands hat unerwartete Einigkeit unter den Ländern der Europäischen Union geschaffen. Gleichzeitig hat er gezeigt, wie defizitär die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist und wie schlecht es um Europas Verteidigungsfähigkeit steht. Ihr Potenzial als «Möglichmacherin» hat die EU bisher zu wenig genutzt.

Durch den militärischen Einmarsch am 24. Februar 2022 hat Russlands Präsident Wladimir Putin endgültig deutlich gemacht, dass er an einer kooperativen europäischen Sicherheitsordnung auf Basis der Charta von Paris nicht mehr interessiert ist. Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union geht es deshalb auf absehbare Zeit darum, Sicherheit vor Russland, statt Sicherheit mit Russland herzustellen. In den vergangenen Monaten wurden so die Weichen in Europa auf Eindämmung und Abschreckung der Aggression Russlands gestellt.

Die EU-Mitgliedstaaten haben in der Erklärung von Versailles vom März 2022 beschlossen, ihre Verteidigungsfähigkeiten grundlegend zu stärken und ihre Ausgaben dafür deutlich zu erhöhen. Dänemark hat ein erfolgreiches Referendum über einen Beitritt zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU abgehalten, Finnland ist bereits NATO-Mitglied geworden und Schweden hofft auf einen baldigen Beitritt. Die NATO hat ihre Präsenz an der Ostflanke gestärkt und neue Verteidigungspläne für das gesamte Bündnisterritorium entwickelt. Durch den Angriffskrieg Russlands hat die Bedeutung des Militärischen für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik massiv zugenommen. Auch wenn noch offen ist, wann und unter welchen Bedingungen der Krieg in der Ukraine endet: Es wird keinen Weg zurück zum Status quo ante mit Russland geben, zumindest nicht, solange Putin im Amt ist.

Weniger «win-win», mehr Nullsummenspiel

Eine weitere Konsequenz des russischen Angriffskriegs ist ein verändertes europäisches «Mindset» mit Blick auf auswärtiges Handeln. Viele Politikbereiche, wie Handel, Wettbewerb sowie Forschung und Technologie, haben sich unter der Prämisse entwickelt, dass internationale Zusammenarbeit im Allgemeinen vorteilhaft für alle Beteiligten ist. Schon vor der russischen Invasion in die Ukraine hatte sich in der EU diesbezüglich Ernüchterung eingestellt, nicht zuletzt durch die «Masken­diplomatie» Chinas während der Covid-Pandemie oder die Sekundär­sanktionen Amerikas gegen europäische Firmen während der Präsidentschaft von Donald Trump. Die Erfahrung, dass die eigene Energiesicherheit fundamental von Russland abhängt, einem Land, das die Abhängigkeit ausnutzt und instrumentalisiert für eine hybride Kriegsführung, hat die europäischen Staats- und Regierungschefs noch einmal aufgerüttelt. Mehr als zuvor gibt es in Europa jetzt ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer unabhängigen europäischen Handlungsfähigkeit zum Schutz der eigenen Interessen und Werte. Die Europäische Kommission hat es sich zum Ziel gesetzt, asymmetrische Abhängigkeiten zu verringern, Kapazitäten in strategischen Sektoren aufzubauen und die EU vor äußerem Zwang zu schützen.

Einheit trotz Vielfalt angesichts russischer Aggression

Der Krieg hat aber auch ungewohnte Einigkeit unter den Ländern der Europäischen Union erzeugt. Trotz früherer Schwierigkeiten, in außenpolitischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen, reagierten die EU-Mitglieder diesmal entschlossen, prompt und flexibel. Sie verhängten umfangreiche Sanktionen gegen Russland, schnürten große finanzielle Hilfspakete und schafften unbürokratische Aufnahmemöglichkeiten für ukrainische Kriegsflüchtlinge. Dinge, die vorher undenkbar erschienen, wurden plötzlich möglich. Durch die Finanzierung von Waffen und Ausrüstung für die Ukraine im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität brach die EU mit dem jahrzehntelangen Tabu, keine Waffen in Krisengebiete zu senden. Mit der Entscheidung, der Ukraine und Moldau erst den Status von Beitrittskandidaten zu verleihen und dann im Dezember 2023 die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, wurde die zweite große EU-Osterweiterung initiiert und vorangetrieben.

Weiterentwicklung von GASP und GSVP

Gleichzeitig zeigt die entschiedene Opposition des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gegen einen EU-Beitritt der Ukraine, wie defizitär die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) noch immer ist. Denn in der europäischen Außenpolitik gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Obwohl die Mitgliedstaaten durch den Vertrag von Lissabon zum Prinzip der loyalen Kooperation verpflichtet sind, um ein höchstes Maß an Kohärenz in der europäischen Außenpolitik zu erreichen, ist dieses Prinzip de facto nicht durchsetzbar. Das Einstimmigkeitsprinzip lädt Staaten stattdessen dazu ein, ihr Veto als Druckmittel zu benutzen, um Zugeständnisse in Bereichen zu erzwingen, die mit dem eigentlich zur Abstimmung stehenden Thema gar nichts zu tun haben. So instrumentalisierte Orbán im Dezember 2023 sein Vetorecht, um zehn Milliarden Euro an eingefrorenen EU-Geldern für Ungarn freizupressen, bevor er einwilligte, den Raum im entscheidenden Moment der Abstimmung über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen kurz zu verlassen.

Richtigerweise liegt der Fokus der Reformdebatte deshalb darauf, wie man eine totale Blockade der GASP zukünftig verhindern kann. Dabei ist der Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen ein sinnvoller Vorschlag, für den es allerdings den politischen Willen aller Mitgliedstaaten bedarf. Und der ist momentan leider nicht zu erkennen. Neben der Konzentration auf die volle Ausschöpfung der nicht oder zu wenig genutzten Poten­ziale des Lissabon-Vertrags (man denke auch an «konstruktive Enthaltung» und «verstärkte Zusammenarbeit») sollte das Nachdenken über eine handlungsfähigere GASP deshalb auch vor den Möglichkeiten außerhalb des formalen EU-Rahmens nicht haltmachen.

Informeller Zusammenschluss von EU-Mitgliedstaaten

Statt zum Beispiel Orbáns finanziellen Forderungen weiter nachzugeben, um neue Finanzhilfen für die Ukraine im EU-Rahmen zu mobilisieren, sollten die EU26 einen Weg finden, das Orbán-Veto zu umgehen – zum Beispiel, indem sie die Summe im Rahmen eines außerbudgetären Finanzpakets bereitstellen. Ein informeller Zusammenschluss von EU-­Mitgliedstaaten war in der Vergangenheit oft die einzige Möglichkeit, außenpolitisch zumindest in Teilen gemeinsam zu handeln, zum Beispiel bei den E3+3 Verhandlungen der sechs Staaten mit dem Iran in Bezug auf sein Atomentwicklungsprogramm. Die Herausforderung ist, solche Kooperationen so zu gestalten, dass sie den EU-Rahmen stärken und nicht unterwandern. Dies kann zum Beispiel gewährleistet werden, wenn die Vertretung einer EU-Institution an den entsprechenden Formaten teilnimmt. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat außerdem deutlich gemacht, wie schlecht es um Europas Verteidigungsfähigkeit bestellt ist. Die europäischen Fähigkeitslücken sind enorm. Kapazitäten der europäischen Verteidigungsindustrie wurden in den letzten Dekaden heruntergefahren und die Europäerinnen und Europäer arbeiten kaum zusammen. Die Bemühungen um eine Koordinierung des europäischen Beschaffungswesens funktionieren nicht, da viele Länder ihre eigenen Wege gehen, auch wenn die nationalen Budgets gestiegen sind. Weil europäische Fähigkeiten oft nicht zeitnah verfügbar sind, aber Lücken schnell geschlossen werden müssen, greifen viele europäische Staaten zudem auf außereuropäische Lösungen aus den USA oder Südkorea zurück, was Abhängigkeiten verstärkt. Die Rolle der USA in Europa ist durch den Krieg noch zentraler geworden. Das ist mit Blick auf die unklare innenpolitische Entwicklung in den USA und die erwartbare strategische Priorisierung von Asien jedweder US-Administration keine nachhaltige Strategie.

Lenkung der europäischen Rüstungsanstrengungen

Deshalb gilt es, die Europäerinnen und Europäer mit Hochgeschwindigkeit in die Lage zu versetzen, ihre Sicherheit stärker selbst zu gewährleisten. Die pathologische Fragmentierung der europäischen Verteidigungsindustrie muss endlich überwunden werden. Durch eine Lenkung der europäischen Rüstungsanstrengungen und die Schaffung von Anreizen könnte die EU sicherstellen, dass die Länder interoperable Systeme beschaffen und europäische Rüstungsunternehmen nicht zugunsten von Lieferanten aus Drittländern benachteiligt werden. Doch trotz der von der EU eingeleiteten lobenswerten Initiativen – wie der Verordnung zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (EDIRPA) und der zur Förderung der Munitionsproduktion (ASAP) – mangelt es an der notwendigen Finanzkraft und an politischem Rückhalt in den Mitgliedstaaten, um signifikante Veränderungen zu bewirken. Das Potenzial der EU als «Möglichmacherin» einer verstärkten europäischen Verteidigungsfähigkeit durch die Bereitstellung von Anreizen für die Entwicklung europäischer Kapazitäten, die dann auch im Rahmen der NATO genutzt werden können, bleibt so weiter ungenutzt. 


Dr. Jana Puglierin leitet seit 2020 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations und ist dort auch Senior Policy Fellow. Zuvor leitete sie vier Jahre das Europa­programm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sie arbeitete u.a. als Wissenschaftliche Mitarbei­terin im Deutschen Bundestag und am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.

This article is licensed under Creative Commons License