«Wir müssen liefern»

Kann die EU die dringend notwendige Agrarwende schaffen? Der Agrarexperte und Vorsitzende der Agricultural and Rural Convention, Hannes Lorenzen, über die Ursachen der Bauernproteste, Planlosigkeit und Fehlentscheidungen der EU und warum ein gründlicher Neustart der Gemeinsamen Agrarpolitik unumgänglich ist.

Menschen auf einer Demonstration mit einem Schild, auf dem steht: Bunte Felder für bunte Teller.

Das Interview führte Eva van de Rakt Ende Januar 2024.

Eva van de Rakt: Seit Jahrzehnten arbeitest du als Experte, politischer Berater und Vertreter der Zivilgesellschaft zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU. Was sind die größten Baustellen in diesem für die EU so zentralen Politikbereich?

Hannes Lorenzen: Die Gemeinsame Agrar­politik (GAP) ist seit Jahrzehnten eine einzige nicht enden wollende Baustelle. Das Beunruhigende ist: Es gibt keinen erkennbaren Bauplan. Seit den 1980er Jahren stehen überall Gerüste für Renovierungsprojekte, die viel Geld kosten, aber über kurz oder lang wieder in sich zusammenfallen. Umwelt-, Tier- und Klimaschutz zum Beispiel sind Baustellen ohne wesentlichen Fortschritt, weil sie als Verzierung in nicht mehr zeitgemäßen agrarpolitischen Strukturen verbaut werden.

Was bedeuten diese unzeitgemäßen Strukturen in der Praxis?

Bäuerinnen und Bauern werden weiterhin in die falsche Richtung getrieben: Ohne Rücksicht auf Verluste sollen sie immer weiter wachsen und immer mehr produzieren. Dabei geht die Umwelt kaputt, die Böden, das Wasser, die Vielfalt und das Klima. Immer mehr Bäuerinnen und Bauern bleiben dabei auf der Strecke, immer mehr Lebensmittel werden verschwendet, immer mehr Fleisch wird exportiert – und die Gülle bleibt hier. Die GAP war einst ein Pfeiler der Kooperation und Integration für Europa. Jetzt ist sie ein Mahnmal der Unfähigkeit der Mitgliedstaaten und der Kommission, unsere Ernährung in Einklang zu bringen mit den großen Herausforderungen der Zeit: dem Umbau der Landwirtschaft in eine menschen-, klima- und naturgerechte Kultur.

Wie müsste die Gemeinsame Agrarpolitik aussehen, um in Zukunft keine Baustelle mehr zu sein und bei der Umsetzung der Ziele des europäischen Grünen Deals einen wesentlichen Beitrag zu leisten?

Ursula von der Leyen hat den Green Deal als «Man on the Moon»-Moment angekündigt, als den großen Sprung nach vorn, mit dem Europa beispielhaft für die Welt politisches und wirtschaftliches Neuland betritt. Wenn man die Fortschritte im Bereich Agrarpolitik genauer betrachtet, ist die Rakete noch nicht mal gestartet. Im Gegenteil, es werden immer mehr Teile aus den Triebwerken und den Steuerungsgeräten des Green Deal ausgebaut, angeblich, weil sie den Start für das Projekt zu sehr belasten. Die Agrarindustrie und die ihr zugeneigten Bauernverbände haben es gemeinsam geschafft: Die Reform der Agrarpolitik befindet sich im ungebremsten Rollback aus dem Green Deal. Die angekündigten Maßnahmen, also die «Vom Hof auf den Tisch»-Strategie, der legislative Rahmen für ein nachhaltiges Ernährungssystem, das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur und die Verordnung zur Reduzierung des Pestizideinsatzes, das sind leider alles traurige Fehlstarts.

Wie können diese Fehlstarts ausgeglichen werden?

Eine zukunftsfähige GAP müsste einen kompletten Neustart wagen. Subventionen sollten ausschließlich den Umstieg auf agrar­ökologische Systeme und eine vielfältige, kleinstrukturierte Landbewirtschaftung fördern. Eine ländliche Entwicklungs­politik sollte die dafür nötige dezentralisierte, kritische, wirtschaftliche und soziale Infra­struktur aufbauen, um lokale, krisenfeste Ernährungssysteme zu schaffen. Fördergelder sollten nicht nach Hektaren, sondern nach Fortschritt beim Umbau und sinnvoller Beschäftigung verteilt werden. Und die Bäuerinnen und Bauern sollten ihr Einkommen aus fairem Wettbewerb am Markt sowie für Zusammenarbeit untereinander und mit den örtlichen Lebensmittelbetrieben erwirtschaften können. Auch ein Außenschutz gegen Sozial- und Ökodumping-Importe gehört dazu, ebenso wie eine öffentliche Gesundheitspolitik, die diesen Neustart begleitet.

Nicht nur in Deutschland entlädt sich derzeit bei vielen Bäuerinnen und Bauern eine ungeheure Wut. Auch in den Niederlanden, Frankreich, Polen und Rumänien gingen sie in den vergangenen Monaten auf die Straße, teilweise kam es zu Ausschreitungen. Warum sind diese Proteste so heftig?

Es sind die ewigen Baustellen und die Planlosigkeit der Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten und in Brüssel. Es sind aber auch das Nichtwissen und Desinteresse der Bevölkerung an der Situation, in der sich viele Höfe in der EU befinden. An der Ladentheke ist die Not nicht zu erkennen, auf den Straßen ist sie jetzt zu sehen und zu hören. Die Streichung der Dieselsubventionen hat das Fass zum Überlaufen gebracht, aber die Stimmung hat schon lange vorher gekocht. Selbst diejenigen, die schon lange auf dem Weg in eine ökologische Agrarkultur unterwegs sind, sehen nicht ein, warum sie immer mehr – und manchmal völlig unsinnige – Auflagen erfüllen sollen, während ihr Einkommen ständig extrem schwankt, zurückgeht oder unberechenbar geworden ist. Wer den Umbau ernst nimmt, hat mehr Arbeit und ein hohes wirtschaftliches Risiko. Das wird nicht ausreichend entlohnt und kaum wertgeschätzt. Zum Glück sind Bäuerinnen und Bauern nicht ganz allein: «Wir haben es satt», die jährliche Demonstration eines breiten Bündnisses während der Grünen Woche, zeigt, wie viel Gemeinsamkeit im Kampf für die Agrarwende möglich ist.

Wie kann und sollte auf die Wut reagiert werden?

Warme Worte, Verständnis ohne persönlichen politischen Einsatz, Ankündigungen, man wolle kleine Betriebe unterstützen, ohne dabei zeitgleich und vorausschauend konkrete Maßnahmen auf den Weg zu bringen: Das hilft nicht mehr, im Gegenteil. Es macht die Wut nur noch größer. Vor allem der Kuschelkurs mit dem Bauernverband und das stille Einverständnis mit der Agrar- und Ernährungsindustrie haben der Glaubwürdigkeit der angekündigten Agrarwende massiv geschadet.

Welche Folgen könnte dieser Glaubwürdigkeitsverlust haben?

Wenn der Moment verpasst wird, in dem der «Nationale Strategische Plan» für die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik fit gemacht werden kann für eine ambitionierte Agrarwende, dann nützen auch Werbebeschränkungen für ungesunde Lebensmittel nicht mehr. Ein Aktionsplan für eine grüne Gemeinsame Agrarpolitik der Zukunft gehört jetzt, vor der Wahl zum Europaparlament und vor Arbeitsbeginn der neuen Europäischen Kommission, in die öffentliche Auseinandersetzung um die Zukunft der Landwirtschaft und Europas. Es ist sonst zu befürchten, dass die Bauernproteste den Rollback in der Agrarpolitik nur noch weiter befeuern.

In Deutschland warnen Verfassungsschützer, Rechtsextremisten könnten die Bauernproteste unterwandern. Wie bewertest du diese Gefahr?

Sie ist groß. Die AfD und ihre europäischen Miteiferer haben einfache Antworten: Ampel weg, Grüne weg, EU weg, Agrarwende weg, dann ist auch das Thema Klimawandel weg. Unsere Antworten auf die vielen Krisen der Landwirtschaft sind mit erheblichen Anstrengungen verbunden. Es braucht Erklärungen, Empathie, Zusammenarbeit, gegenseitiges Interesse und Respekt. Ganz wie im richtigen Leben. Es hilft nichts. Wir müssen liefern. 2024 wird das Jahr, in dem demokratische Parteien in einigen Ländern und Regionen in die Minderheit rutschen könnten. Dann wird es unsere Aufgabe sein, den großen Rollback zu entschleunigen und uns auf vielen verschiedenen Ebenen neu aufzustellen. Die Entwicklung in Polen macht Hoffnung, aber sie zeigt auch, wie schwer es ist, einmal verloren gegangene Einsicht und Vernunft wiederzubeleben.

Zukünftige Erweiterungsrunden fordern die EU im agrarpolitischen Bereich zusätzlich heraus. Was muss beachtet werden, bevor die Ukraine, Moldau, Georgien und die Westbalkan-Länder Mitglieder der EU werden?

Der Beitritt der Ukraine ist der Elefant im Raum der aktuellen Überlegungen zur nächsten Agrarreform 2027. Die Kommission fürchtet, dass sich das Tier bewegen könnte und das gute Porzellan zerschlägt, und bewegt sich deshalb selbst nicht. Die etablierten Bauernverbände stöhnen laut, warnen vor der Preiskonkurrenz aus dem Osten und fordern Ausgleichszahlungen. Tatsächlich würden sich die vermeintlichen Gewissheiten der aktuellen GAP bei einem Beitritt der Ukraine in Luft auflösen. Bei der Größe der Agrarbetriebe würden Hektar­zahlungen, wie sie jetzt bestehen, den Agrarhaushalt entweder extrem aufblähen oder sofort platzen lassen. Die Agrarstrukturen und die Hektarerträge sind denen in den USA vergleichbar und die meisten Bauernhöfe in der EU wären dem Konkurrenzdruck nicht gewachsen. Anders wäre es im Westbalkan, in Moldau und Georgien, da die Länder in dieser Region überwiegend kleinbäuerliche Landwirtschaft haben. Die Agrarwende wäre also sowohl im Hinblick auf diese Strukturen als auch auf die Notwendigkeit einer agrarökologischen Anpassung in der Ukraine unumgänglich. Der Beitritt wird irgendwann kommen. Nicht, weil er immer wieder versprochen wird, sondern weil die EU ihn braucht. Die Menschen im Westbalkan sind jetzt schon tief enttäuscht über das ewige Hinhalten und die Untätigkeit. Auch deshalb ist der Neustart der GAP so wichtig.

Was bedeutet das konkret für die Ukraine?

Die Interessen der Agrarindustrie der Ukraine werden derzeit sehr intensiv in Brüssel vertreten. Es geht um den Absatz der Getreide- und Fleischüberschüsse der Ukraine in die EU, die ja zunächst in den osteuropäischen Mitgliedstaaten und jetzt in der gesamten EU mit zu den Bauernprotesten geführt haben. Es wäre falsch, diese Interessen der dort agierenden internationalen Konzerne aus Solidarität mit der Ukraine zu stützen. Vielmehr müssen die Bedingungen für einen Beitritt und für weitere Zahlungen aus Brüssel in allen Mitgliedstaaten an Kriterien geknüpft werden. Diese Kriterien müssen Erzeugungsmethoden und eine Infrastruktur fördern, die die Bäuerinnen und Bauern in einer erweiterten EU dabei unterstützen, Tiere artgerecht zu halten, die Bodenfruchtbarkeit zu fördern und das Klima zu schützen. All diese Kriterien sind weder in der EU noch in der Ukraine derzeit ausschlaggebend und leider Teil des aktuellen agrarpolitischen Rollbacks. Ohne eine tiefgreifende Neuorientierung der GAP unter Einbeziehung der Ukraine wird der Beitritt für die gesamte EU ein Desaster. Das kann und muss verhindert werden.


Hannes Lorenzen ist Agrarexperte und war von 1985 bis 2019 Berater der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament. Er ist Gründer verschie­dener europäischer Netzwerke zu nach­haltiger Landwirtschaft und ländlicher Entwicklung, darunter der Agricultural and Rural Convention (arc2020.eu), deren Vorsitzender er ist.

Eva van de Rakt leitet das Referat Europäische Union und Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Von 2019 bis 2023 war sie Leiterin des EU-Büros in Brüssel.

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