Krieg im Gaza-Streifen: „Dieses Trauma wird Generationen überdauern“

Interview

Fast sechs Monate sind vergangen seit dem brutalen Angriff der Hamas auf israelische Zivilist*innen. Seitdem führt Israel einen verheerenden Krieg im Gaza-Streifen. Die humanitäre Lage der etwa zwei Millionen Menschen vor Ort ist katastrophal. Hilfsorganisationen tun ihr Bestes, um das Leid der palästinensischen Bevölkerung zu lindern. Shaina Low vom Norwegian Refugee Council (NRC) erklärt, wie schwierig das ist, und was ohne sofortigen Waffenstillstand droht.

EGYPT - DECEMBER 22, 2023: Men unload humanitarian aid from an Ilyushin Il-76 strategic airlifter of Russia s Emergency Situations Ministry. A total of 17 Emercom flights have so far delivered some 390t of food, clothing, medical and other essential supplies to the Gaza Strip. Video screen grab.

Das Interview führte Hannah El-Hitami.

Mehr als 32.000 Palästinenser*innen wurden durch israelische Luftangriffe getötet. Mit wie vielen Hungertoten müssen wir zusätzlich rechnen, wenn sich die Situation nicht sofort verändert?

Wir hören bereits Berichte über Menschen, die an Unterernährung oder Dehydrierung gestorben sind. Bei einigen war es der simple Mangel an Essen und Trinken, andere waren dadurch zu schwach, Krankheiten abzuwehren. Wenn sich nichts ändert, könnten noch mehr Menschen verhungern, verdursten oder an heilbaren Krankheiten sterben als die 32.000, die bisher durch den Krieg getötet wurden. Laut UN stehen 1,1 Millionen Palästinenser*innen, also die Hälfte der Bevölkerung in Gaza, an der Schwelle zur Hungersnot. Jeder Tag, der vergeht, macht die Notlage noch größer. Selbst wenn schon morgen sehr viel mehr Hilfslieferungen ankämen, würden trotzdem noch Menschen sterben.

Mehr Hilfslieferungen würden also nicht direkt einen Unterschied machen?

Die Notlage in Gaza ist immens. Es wird Zeit brauchen, bis alle versorgt sind. Drei Viertel der Bevölkerung wurde vertrieben, mehr als 60 Prozent der Wohnhäuser sind beschädigt oder zerstört, die kritische Infrastruktur ist ebenfalls zerstört. Allein die Berge von Trümmern zu beseitigen, um Zugang für Hilfslieferungen zu schaffen, wird Monate dauern. Das ist keine Situation, die sich nach ein paar Tagen humanitärer Hilfe lösen lässt. Der Wiederaufbau wird Jahre dauern.

Wie unterscheidet sich die Lage in den verschiedenen Teilen des Gazastreifens?

Nord-Gaza und Gaza Stadt sind seit Oktober vom Rest abgeschnitten, dort ist die Situation am schlimmsten – sowohl was die Versorgung angeht, als auch in Bezug auf die Zerstörung. Unsere Mitarbeiter*innen waren kürzlich vor Ort und berichteten, dass fast jedes einzelne Gebäude zerstört oder beschädigt ist. Dort scheint nichts übrig zu sein. Im Zentrum ist die Situation etwas besser. Und im Süden kommt die meiste Hilfe an. Dort ist die Not etwas geringer. Aber nach Rafah sind inzwischen 1,5 Millionen Menschen geflüchtet. Es ist das größte Flüchtlingslager auf dem Planeten. Viele Unterkünfte sind überfüllt, Hunderte teilen sich eine Toilette, Menschen schlafen in Zelten ohne sanitäre Anlagen.

Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders betroffen?

Die Zivilist*innen in Nord-Gaza und Gaza Stadt leben unter den schwierigsten Bedingungen. Dazu kommen die erwartbaren Gruppen: Frauen, vor allem stillende. Kinder, vor allem sehr junge. Auch ältere und behinderte Menschen, sowie Menschen mit chronischen Krankheiten, die nach dem Kollaps des Gesundheitssystems nicht mehr die Versorgung bekommen, die sie brauchen.

Gibt es noch funktionierende Krankenhäuser?

Im Großen und Ganzen ist das Gesundheitssystem kollabiert. Ein paar Krankenhäuser sind noch in Betrieb, aber sehr eingeschränkt und ohne die notwendigen Materialien, um Patient*innen sicher versorgen zu können. In den letzten Tagen wurden wieder mehrere Krankenhäuser angegriffen. In einem der Gebäude des Al-Shifa Krankenhauses wurde die Stromversorgung gekappt, wodurch Patient*innen starben. Es ist schockierend, dass Ärzt*innen unter solchen Bedingungen arbeiten müssen, aber sie tun nach wie vor ihr Bestes.

Welche Maßnahmen braucht es sofort, um das Schlimmste zu verhindern?

Zum einen braucht es einen Waffenstillstand. Nur so kann die Verwüstung Gazas und die Tötung der palästinensischen Zivilbevölkerung gestoppt und damit die Not etwas gelindert werden. Darüber hinaus müssen mehr Hilfslieferungen nach Gaza gelangen. Neue Zugänge müssen geschaffen und die bereits bestehenden in ihrer vollen Kapazität genutzt werden.

Warum geschieht das aktuell nicht?

Kilometerlange Schlangen von LKW mit Hilfslieferungen hängen am Grenzübergang zwischen Ägypten und Gaza fest. Sie dürfen nicht schnell genug hinein. Israel hat natürlich das Recht, Hilfslieferungen zu überprüfen, um sicherzugehen, dass keine Waffen hineingeschmuggelt werden. Aber es dauert viel zu lange.

Außerdem fängt Israel teilweise wichtige Güter an der Grenze ab, weil sie auch zu militärischen Zwecken genutzt werden könnten. Welche sind das?

Wir wissen leider nicht genau, was verboten ist. Es gibt keine offizielle Liste. Manchmal werden Güter verboten und später doch erlaubt. Wir haben gehört, dass Operationsscheren nicht reingelassen wurden, genauso wie Reinigungstabletten für Trinkwasser, Sauerstoffflaschen für Krankenhäuser oder Solarpanels. Das sind lebenswichtige Utensilien.

Im Januar verpflichtete der Internationale Gerichtshof (IGH) Israel, ausreichende humanitäre Hilfe für Gaza zu gewährleisten. Hat sich die Lage seitdem verbessert?

Nach dem IGH-Urteil kamen zunächst noch weniger LKW nach Gaza. Im Februar war der absolute Tiefstand erreicht, nur eine Handvoll LKW am Tag wurden durchgelassen. Seitdem ist die Zahl etwas gestiegen, aber es sind noch nicht mal annähernd so viele wie benötigt. Mindestens 500 LKW am Tag müssten es sein. Zum Vergleich: Gestern waren es 139, am Tag davor 137, davor 58.

Einige Staaten, darunter Deutschland, haben ihre Unterstützung für die Arbeit von UNRWA in Gaza eingestellt, nachdem Israel einigen Mitarbeiter*innen eine Beteiligung am Hamas-Massaker des 7. Oktobers vorgeworfen hatte. Wie wichtig ist UNRWA für die Menschen im Gazastreifen? Gibt es Alternativen?

Niemand könnte die Arbeit von UNRWA übernehmen, die seit 75 Jahren in Gaza aktiv sind. Sie haben die notwendige Logistik und sehr viele Mitarbeiter*innen. Unter den aktuellen Bedingungen könnten andere Organisationen dieses Level nicht erreichen. Einige Staaten haben ihr Funding wieder aufgenommen. Aber US-Präsident Biden hat ein Budget verabschiedet, das bis nächstes Jahr kein Geld für UNRWA vorsieht. Es ist einfach nur unverschämt, einer Organisation dieser Größe die Finanzierung zu entziehen, die so vielen Menschen in Not hilft: 2,3 Millionen Zivilist*innen in Gaza, die dringend auf die Hilfsleistungen der UNRWA angewiesen sind, werden bestraft wegen der Vorwürfe gegen eine Handvoll Mitarbeiter*innen.

Auch bei der Verteilung von Hilfsgütern innerhalb Gaza kam es in den letzten Wochen immer wieder zu Problemen. Mehr als 100 Menschen wurden durch Schüsse der israelischen Armee und eine darauffolgende Massenpanik Ende Februar getötet. Wer ist dafür verantwortlich?

Israel hat die primäre Verantwortung, das Überleben der Menschen in Gaza zu gewährleisten. Das ist nach dem Völkerrecht seine Verpflichtung als Besatzungsmacht, die Gaza seit 1967 kontrolliert. Die Verteilung der Güter ist eine Herausforderung: Die Menschen werden immer verzweifelter, was zu chaotischen Situationen führt. Israel hat mehrmals die palästinensische Polizei angegriffen. Das sind Zivilist*innen, die die Hilfs-Konvois begleiten. Das führt dazu, dass sie nicht mehr bereit sind, diese Arbeit zu übernehmen. Dadurch entstehen noch mehr Turbulenzen bei der Verteilung. Es ist ein Teufelskreis, weil dadurch weniger Hilfe verteilt wird und die Menschen noch verzweifelter werden. Wenn Israel diese Verantwortung nicht übernehmen will, muss es die humanitären Organisationen vor Ort ihre Arbeit machen lassen. Stattdessen wurden Hilfs-Konvois von Luftangriffen getroffen, Lagerhallen zerstört und selbst die Unterkünfte von humanitären Helfer*innen und ihren Familien angegriffen. Das schränkt die Arbeit der humanitären Organisationen sehr ein, weil es nicht sicher für ihre eigenen Mitarbeiter*innen ist.

Wovon leben die Menschen in Gaza zurzeit?

Teilweise pflanzen Menschen ihr eigenes Obst oder Gemüse an. Eine begrenzte Menge an Hilfslieferungen kommt an, aber eben nicht genug. Viele Menschen hungern, essen weniger Mahlzeiten und nehmen, was immer sie kriegen können. Alle leiden. Wenn wir es selten mal schaffen, mit unseren Kolleg*innen vor Ort per Video-Call zu sprechen, sind sie kaum wiederzuerkennen. So viel Gewicht haben sie in den vergangenen sechs Monaten verloren.

Die USA und andere Staaten haben begonnen, aus der Luft Hilfsgüter über Gaza abzuwerfen. Macht das einen Unterschied?

Keinen großen. Natürlich ist jede Art von Hilfe gut, aber es frustriert uns, weil wir wissen, dass der Landweg der schnellste, effizienteste und unproblematischste ist. Die Hilfspakete aus der Luft sind teilweise ins Meer gefallen oder wurden nach Israel geweht. In manchen Fällen waren die Fallschirme kaputt, sodass die Pakete auf Zivilist*innen gefallen sind und sie getötet haben. Der NRC hat nur einmal Hilfslieferungen aus der Luft abgeworfen, das war vor etwa 10 Jahren im Südsudan. Die Lage dort erforderte es, weil Straßen nicht befahrbar waren und es zu viele bewaffnete Splittergruppen gab, um Lieferungen zu koordinieren. Wir haben das auch nur gemacht, weil wir Teams vor Ort hatten, die sich um eine ordentliche Verteilung kümmerten. Wenn Hilfe aus der Luft abgeworfen wird, kann niemand kontrollieren, wer sie bekommt.

Am 25. März forderte der UN-Sicherheitsrat fast einstimmig eine Waffenruhe für den Gazastreifen, nur die USA enthielten sich. Der israelische Außenminister Israel Katz kündigte an, sein Land werde sich daran nicht halten. Glauben Sie, dass die Lage sich dennoch verbessern könnte?

Wir müssen die Hoffnung bewahren. Aber wir wissen auch, dass viele Resolutionen bereits ignoriert wurden, obwohl sie bindend sind. Immerhin ist das ein Zeichen, dass die internationale Gemeinschaft sich endlich einig wird, dass die Kämpfe nicht weitergehen können und dass nur ein Waffenstillstand ziviles Leben schützen kann.

Welche langfristigen Folgen wird der Krieg haben?

Körperliche und psychische. Jeder Mensch in Gaza hat Traumatisches erlebt. Ein Prozent der Bevölkerung wurde getötet und sehr viele Menschen wurden verletzt. Ich glaube, es gibt niemanden, der nicht eine*n Verwandte*n verloren hat. Dieses Trauma wird sicher Generationen überdauern. Und es wird Jahre dauern und Milliarden kosten, die Häuser und Infrastruktur wiederaufzubauen.

Wie arbeitet der NRC vor Ort?

In den ersten Monaten konnten wir kaum etwas tun, weil unsere eigenen Mitarbeiter*innen auf der Flucht waren. Seit Anfang des Jahres sind wir wieder aktiver. Der NRC unterstützt ein Dutzend gemeinsame Unterkünfte für Binnenflüchtlinge. Wir verteilen dort unter anderem Zelte, Matratzen, Decken und Hygiene-Kits. Vor dem Krieg hatten wir ein Programm, das traumatisierte Schulkinder beim Lernen unterstützt. Aktuell gibt es natürlich keine Schule, aber wir organisieren Freizeitaktivitäten und psychosoziale Betreuung für Kinder. Außerdem haben wir Tausenden Familien Geld überwiesen, damit sie auf den lokalen Märkten einkaufen können – wenn es denn etwas gibt.