Kitsch, Camp und queere Kultur beim Eurovision Song Contest

Analyse

Der ESC steht meist für Camp in schwuler männlicher Tradition. Kann er auch für Lesben und Feminist*innen von Interesse sein? Über Kitsch und Camp als queere Kommunikationsstrategien.

Eine Sängerin mit kurzen braunen Haaren, im schwarzen Anzug vor fünf Tänzerinnen auf einer Bühne in Schwarz-Rot

Als der Eurovision Song Contest (ESC) 1955 ins Leben gerufen wurde, war er ein utopischer Traum, das Nachkriegseuropa und später auch das postsowjetische Europa durch leichte Unterhaltung zusammenzubringen. Mit rund 200 Millionen Zuschauer*innen hat er sich zum meistgesehenen Fernsehprogramm Europas entwickelt. Dank seiner riesigen Fangemeinde ist der ESC auch nach über einem halben Jahrhundert noch erfolgreich und scheint auch heute noch für sein queeres Publikum relevant zu sein.

Dennoch mag es seltsam erscheinen, dass der ESC, eine europäische Friedensutopie der Nachkriegszeit und ein Mainstream-Musikereignis, heute so stark als „queer“ gewertet wird. Als wohlwollende Beobachterin des alljährlichen Musikfernsehspektakels frage ich mich, was der ESC für sein queeres Publikum noch leisten kann, in einer Zeit, in der der sprichwörtliche Closet fast Geschichte ist. Beim ESC basieren das queere Miteinander und Wir-Gefühl auf einer Kombination aus Kitsch und „Camp“ – einer ästhetischen Stilrichtung und Sensibilität, die ihre Anhängerschaft für ihre ironischen, übertriebenen Normbrüche von „gutem Benehmen“ und „gutem Geschmack“ liebt.

Wenn der ESC jedoch Camp in schwuler männlicher Tradition ist, stellt sich die Frage, ob er auch für Lesben und Feminist*innen von Interesse sein kann. In diesem Beitrag werfen wir daher einen neuen Blick auf die Begriffe Kitsch und Camp als queere Kommunikationsstrategien und schließen mit einer Reflexion über den willkürlichen Europabegriff des Wettbewerbs, seine schwierige Geopolitik und sein radikal extrovertiertes Spiel mit Geschmacks-Tabus als vergnügliche Unterhaltung.

Der ESC – reine Unterhaltung?

Wie der Filmwissenschaftler Richard Dyer feststellt, beschreiben wir Unterhaltung oft dadurch, was sie nicht ist: keine Kunst, nicht ernsthaft, nicht anspruchsvoll (2002a, 6). Außerdem gibt Unterhaltung den Menschen nicht nur einfach, was sie wollen, sondern bestimmt selbst mit, was das Publikum will. Dyer weist auch darauf hin, dass der Begriff „queer(e Menschen)“ in der Regel für Weiße, elitäre schwule Männer steht. Obwohl die Traditionen der queeren Arbeiterklasse und nicht-Weißer queerer Subkulturen und Lebensstile für die Entwicklung von Queerness ganz grundlegend waren, gehen sie in dominanten Konstruktionen von Queerness immer wieder unter (6).

Zwar betont Dyer die zentrale Bedeutung von Kultur (im weitesten Sinne) für die Queer-Bewegung, doch kann Kultur selbst nicht die Welt verändern, wie manche vielleicht hoffen. Sie erfüllt jedoch bestimmte zentrale Funktionen, da Kunst und Pop-Kultur Erfahrungen und Ideen ausdrücken, definieren, prägen und für ein breiteres Publikum sichtbar und zugänglich machen (2002a, 164).

Laut Dyer beruht die Politik der Kultur auf vier Konzepten: Identität, Wissen, Propaganda und Vergnügen. Sie ist ein subtiler Bestandteil eines bewussteren sinnstiftenden Prozesses, bei dem eine Gruppe Wissen über sich selbst und ihre Situation generiert. Dyer mahnt uns, nicht vor dem Verständnis von Kultur als Propaganda zurückzuschrecken, denn Propaganda ist nicht nur vereinfachend, sondern beschreibt auch eine engagierte Kultur, die ihr eigenes Engagement anerkennt und ihr Publikum auffordert, es zu teilen (2002a, 15-16).

Der ESC ist eine solche engagierte Kultur, die offen LGBTQ+ sein kann, aber nicht explizit queer sein muss. Queer kann zwar als Oberbegriff für LGBTQ+-Kultur verwendet werden, umfasst aber auch andere nicht-heterosexuelle und nicht-binäre Positionen, Vergnügungen und Lesarten, die nicht eindeutig als LGBTQ+ gelten. Nach Queer-Forscher Alexander Doty umfasst das radikalste Verständnis von Queerness alles, was sich von den etablierten Geschlechts- und Sexualitätskategorien unterscheidet (2000, 6-7). Genau hier findet der ESC eine so breite Basis: Dank seiner einzigartigen Stellung in der Pop-Kultur allgemein und der Queer-Kultur im Besonderen spricht die Ästhetik des ESC mit seiner Kombination aus Kitsch und Camp ein großes queeres wie auch heterosexuelles Publikum an.

Der ESC – ein Fest für Frieden und Einheit in Europa

Der ESC findet alljährlich im Mai statt (mit Ausnahme von Mai 2020). Dieser Zeitpunkt ist nicht zufällig gewählt. Der Wettbewerb sollte mit dem Europatag am 9. Mai zusammenfallen, an dem der Frieden und die Einheit Europas gefeiert werden. Dieser Tag geht auf die Schuman-Erklärung von 1950 zurück, in der es vor allem um europäische Zusammenarbeit und Solidarität geht. Wie der Kulturtheoretiker Johan Fornäs betont, steht der Mai metaphorisch für das „Erwachen nach einem eisigen Winter, als Symbol einer politischen Wiederauferstehung nach Jahren spaltender Kriege.“ (2017, 190).

Der ESC ist ein nützliches Prisma, um zeitgenössische europäische Debatten über Sexualpolitik zu betrachten.

In den ESC-Regeln heißt es ausdrücklich: „Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt.“ Allerdings werden beim ESC schon seit jeher politische Botschaften in Liedern verschlüsselt (Carniel 2015, 136). Der ESC war daher von Anfang an immer auch politisch. Diese Mischung aus Sexualpolitik, Geopolitik und ethnisch-religiösen Sympathien eröffnet uns im wörtlichen und übertragenen Sinne Zugang zu einem Ideal einer „demokratischen, kapitalistischen, friedliebenden, multikulturellen, sexuell befreiten und technologisch fortschrittlichen“ modernen europäischen Nachkriegsgesellschaft (Raykoff und Tobin 2007, xviii).

Wie Carniel halte ich den ESC für ein nützliches Prisma, um zeitgenössische europäische Debatten über Sexualpolitik zu betrachten. Interessant ist auch, wie der ESC mitdefiniert, wo die Grenzen des modernen Europas verlaufen und wer und was dazugehört (2015, 136). Das symbolische Coming Out des ESC erfolgte 1998 mit dem Siegerbeitrag „Diva“ von Dana International. Davor wirkte die schwule Anziehungskraft des ESC eher unterschwellig (141). Andere offen homosexuelle Darbietungen, wie die von Marija Šerifović  („Molitva“, Serbien, 2007), Verka Serduchka („Dancing Lasha Tumbai“, Ukraine, 2007) und Conchita Wurst („Rise Like a Phoenix“, Österreich, 2014), wurden von Medien und Publikum weithin gefeiert. Wie der Queer-Wissenschaftler Heiko Motschenbacher feststelle, haben diese ESC-Auftritte Queers mehr Sichtbarkeit verliehen und so ihre allmähliche Integration in den europäischen Mainstream gefördert (2016, 33; Ziv 2007).

Der ESC: „Liebe, Liebe, Frieden, Frieden“

Der ESC ist eine köstliche, widersprüchliche Mischung aus musikalischer Unterhaltung und schamlosem Kitsch.

Beim ESC ist alles möglich – von spektakulären Auftritten glitzernder Diven, bärtiger Drag-Queens und australischer Pop-Opernsänger über stimmliche Pop-Folk-Drahtseilakte aus Montenegro bis hin zu Herzschmerz-Italo-Pop aus San Marino. Das ganze Spektakel ist eine köstliche, widersprüchliche Mischung aus musikalischer Unterhaltung und schamlosem Kitsch. Mit der Ausbreitung (vor allem) der Pop-Kultur trat an die Stelle der Hierarchie von niederer und hoher Kunst ein ästhetischer Pluralismus und ein (meist) friedliches Nebeneinander verschiedener ästhetischer Stile, von denen keiner den exklusiven und verbindlichen Anspruch hat, zu dominieren oder alleingültig zu sein. Die Fans des ESC lieben die Veranstaltung, während das kritischere Publikum vielleicht eine gewisse Hassliebe dazu pflegt. Der ESC kann Spaß und Freude bereiten, aber auch das Gegenteil bewirken. Das Publikum kann sich davon angezogen und zugleich angegriffen fühlen.

Die „Camp“-Politik des ESC

Kitsch ist zwar der ästhetische Eckpfeiler des ESC, doch ist das nur ein Teil der Camp-Ästhetik innerhalb des Systems der queeren Kommunikation. Wie Kitsch lässt sich auch der Begriff Camp nur schwer in eine andere Sprache übersetzen. Das Phänomen selbst gibt es aber weltweit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich der Begriff Camp im Slang des Theaters, der High Society, der Modewelt, des Showbusiness und städtischer Subkulturen. In den 1920er Jahren wurde er, wie etwa bei Oscar Wilde, auch zu einem literarischen Stil mit einer Aura von „Ästhetizismus, aristokratischer Abgehobenheit, Ironie, theatralischer Frivolität, Parodie, Tuntigkeit und sexueller Grenzüberschreitung“. Für Newton war Camp nicht so sehr die Queerness des wahrnehmenden Publikums und seiner Darstellenden, sondern vielmehr der vereinende Effekt dieser theatralen Selbstdarstellung stigmatisierter Außenseiter (203).

Auch wenn Kitsch und Camp heute in verschiedenen sub- und popkulturellen Kontexten vorkommen, lässt sich immer noch unterscheiden zwischen einer ironischen Distanz und den „naiven“ Kitsch-Konsument*innen (ein Begriff Brochs), die sich auf den Kitsch einlassen und sich mit ganzem Herzen daran ergötzen. Die Frage ist, ob die heterosexuellen Fans tatsächlich immer nur naive Kitsch-Konsument*innen sind, während das queere und Camp-kompetente Publikum im ESC etwas anderes sieht. Ohne empirische Belege ist es schwierig, hier zu verallgemeinern. Doch um den Kitsch in den Dienst der Camp-Ästhetik zu stellen, braucht es eine queere kulturelle Kompetenz, die man nur in der queeren Kultur erlangen kann.

Die große lesbische Neudefinition von „Camp“

Wegen der teils reaktionären und frauenfeindlichen Bildersprache des Camp ist auch der Camp-Stil des ESC in der Regel von Weißer Homonormativität geprägt. Man muss sich also fragen, ob geoutete LGBTQ+-Identitäten überhaupt zusammen analysiert werden können. Wie der Queer-Wissenschaftler Jack Halberstam anmerkt, ist es vielleicht gar nicht zielführend, im Rahmen von Queer-Geschichte und Queer-Biografien Lesben und Schwule als eine Gruppe zu untersuchen. Trotz aller Ähnlichkeiten unterscheiden sich ihre geschlechtsspezifischen Erfahrungen in vielen wichtigen Aspekten. Lesben und Transgender weisen in ihrer Geschlechtsvariation zwar Ähnlichkeiten auf, doch wie Halberstam betont, sind auch ihre jeweiligen Erfahrungen unterschiedlich (2005, 62-70). Trotzdem geht Queerness, wie die Philosophin Judith Butler und die Theaterwissenschaftlerin Sue-Ellen Case behaupteten, letztlich über das Geschlecht hinaus: Es ist eine Haltung zu, eine Reaktion auf und ein Protest gegen den Geschlechterbinarismus (Butler 1991, 13-31; Case 1989, 282-299, auch in Cleto 1999, 91).

Auch die Queer-Medienwissenschaftlerin Katrin Horn stellt die homonormative Camp-Tradition des ESC in Frage und argumentiert, dass die neue Camp-Politik und ihre Vorlieben auch jenseits schwuler Männer ein Potenzial für geoutete Lesben bieten. So bleibe Camp als ästhetische und kulturelle Kategorie für Queers weiterhin relevant. In ihrem Buch Women, Camp, and Popular Culture: Serious Excess (2017) schreibt sie über den Begriff des lesbischen Camps: „Eine bärtige Drag Queen inmitten züngelnder Flammen, die über den Aufstieg der Ausgestoßenen singt und ihren Sieg der Vision einer paneuropäischen Schwulenrechtsbewegung widmet, ist nicht das Gegenteil, sondern der Inbegriff von Camp.“ (2017, 3).

Camp wurde lange als schwule, männliche Form (und Norm) von Ironie und Camp angesehen.

Horn weist auch darauf hin, dass nur wenige schwule Männer eine Verbindung zwischen Österreichs Sieg mit Conchita Wursts „Rise Like a Phoenix“ im Jahr 2014 und der Gewinnerin des Jahres 2007 Marija Šerifović gesehen haben – eine Lesbe im locker sitzenden Smoking, mit dunkler Brille und kurzen Haaren, die in ihrer serbischen Muttersprache die dramatische Ballade „Molitva“ (Gebet) zum Besten gab. Horn liest Marija Šerifovićs Performance als lesbisches Camp, ein Diskurs, der in der queeren Geschichte des ESC fehlt:

„Marija Šerifović wurde von einer Gruppe langhaariger Background-Sängerinnen in taillierten, kurvenbetonten Smokings und High Heels begleitet. Am Ende formten sie mit den Händen ein Herz, das alle Frauen auf der Bühne miteinander verband und auch die als „Butch“ codierte Lead-Sängerin mit einschloss.“ (2017, 3, Vänskä 2007, 66-81).

Dies ist ein wichtiger Punkt, denn Camp wurde lange als schwule, männliche Form (und Norm) von Ironie und Camp angesehen. Die Beiträge von Conchita Wurst und Verka Serduchka wurden als Camp-Drag-Performances interpretiert, die theatralisch Geschlechternormen und Heteronormativität evozierten und unseren Begriff von „Geschlecht“ in Anführungszeichen setzten. Offen lesbische Darbietungen wie die von Šerifović blieben im Diskurs über Camp im ESC-Lager unsichtbar.

Horn stellt fest, dass zwei konvergierende kulturelle Entwicklungen in den 1990er Jahren ein Umfeld schufen, in dem sich Camp schließlich als wesentliche Strategie in Filmen für ein lesbisches Publikum etablieren konnte. Erstens war dies die Verbreitung des „Lesbian Chic“ in den Mainstream-Medien, der den Medienkonsum und die Darstellung von Lesben beeinflusst hat, und damit auch die Bereitschaft, sich spielerisch mit Fragen von Geschlecht und Sexualität auseinanderzusetzen. Zweitens war es der Erfolg des New Queer Cinema, was den Weg für queere Themen in Spielfilmen und eine Neubewertung von Intertextualität und Camp-Ästhetik ebnete (37). Horn zufolge eröffneten diese Entwicklungen „sowohl den Zugang zu auch die Sichtbarkeit in der Pop-Kultur, was für Lesben bis dahin als verschlossen galt und sie von der Beteiligung an Camp-Diskursen ausschloss, die weithin als männliches Vorrecht angesehen wurden“ (44).

Die von B. Ruby Richs erhoffte „große lesbische Neudefinition“ der Pop-Kultur hat Mainstream-Genres so verändert, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der und eine Intervention in die Geschichte lesbischer Repräsentation möglich wurde. In Bezug auf inklusivere Darstellungen queerer Frauen berücksichtigt Horn intertextuelle Bezüge und dekonstruktive Praktiken und sieht Camp dabei als wertvolles Konzept, um queere Gemeinschaften abzubilden, durch alternative Medien wie auch durch das Aufbrechen heteronormativer Rahmen (2017, 4). Die stilistischen Ausschweifungen von Camp haben einen entfremdenden, parodistischen Effekt, der laut Horn eine kritische Perspektive auf die Pop-Kultur bietet und eine gewisse Distanz schafft. Camp ist somit jenseits von Angleichung oder Auflehnung eine weitere Methode, sich mit Pop-Kultur auseinanderzusetzen. Horns lesbische Redefinition von Camp bietet eine Lösung für das Problem, wie queere Frauen an der Mainstream-Medienlandschaft teilhaben können, ohne die eigene Identität verleugnen zu müssen (4).

Schwierige Geopolitik

Da der ESC nicht nur ein Gesangswettbewerb ist, sondern auch und vor allem ein Aufeinandertreffen von Nationen, spielt er sich buchstäblich auf umkämpftem Terrain ab. So wird Geopolitik immer wieder zum Problem für den ESC, unabhängig davon, wie viele Queers an dem Wettbewerb teilnehmen und zu seiner großen Fangemeinde gehören.

„Der ESC bietet dem queeren Publikum eine wichtige Gelegenheit, sich Europa zugehörig zu fühlen,“ betont Carniel (2015, 152). Der ESC definiert „Europa“ allerdings recht willkürlich, schließt Israel und Australien ebenso ein wie Diktaturen wie Aserbaidschan, das den ESC 2011 gewann und im darauffolgenden Jahr wie üblich Gastgeber war. Conchita Wurst widmete ihren Siegersong Rise Like a Phoenix „allen, die an eine Zukunft in Frieden und Freiheit glauben“. Sie fügte hinzu: „Wir sind vereint und nicht aufzuhalten.“ (Baker 2015, 84) Dennoch ist das Konzept des ESC als queeres Friedensprojekt nach wie vor mit einer schwierigen Geopolitik verwoben.

Mit dem Ungemach leben

Oft schon wurde Camp (wie übrigens auch des ESC) für tot erklärt. Die Kritik bezog sich nicht nur auf äußere Bedrohungen wie Mainstreaming, sondern auch, wie Katrin Horn betont, auf die eigenen internen Herausforderungen von Camp.

Feministische Wissenschaftler*innen wie Pamela Robertson (1996), um nur eine zu nennen, haben sich ebenfalls mit dem makellosen „Weiß-Sein“ des Camp, seinen klassenbezogenen Strukturen und seinem feministischen Potenzial beschäftigt. Der Performance-Künstler und Queer-Studies-Wissenschaftler Kareem Khubchandani weist darauf hin, dass viele Weiße Queer-Wissenschaftler*innen Camp als verschwindendes Phänomen sehen, weil es eine „schwule Art des Wissens“ ist und Schwule zusehends in den Mainstream integriert werden. Er stellt fest, dass aktuell „neue Formen von Camp entstehen, und zwar von queeren People of Color, Trans-Personen und LGBTQ+-Menschen mit Migrationshintergrund. Camp entsteht immer am Rande der Gesellschaft.“ (Kesslen 2019)

Der ESC lässt sein queeres Publikum die Utopie eher erahnen, als sie tatsächlich zu verwirklichen.

Ob man ihn nun mag oder nicht, der ESC findet jedes Jahr statt. Die Unterscheidung zwischen „hoher“ und „niederer“ Kunst hebt er zwar vielleicht nicht auf, aber er fordert ganz bestimmt die asketischeren Formen der darstellenden Künste heraus. Der ESC spielt mit geschmacklichen Tabus und setzt Camp immer noch kreativ ein. Wie Richard Dyer schreibt, zeigt der ESC als Unterhaltung vielleicht „eher, wie sich eine Utopie anfühlen würde, als wie sie organisiert wäre. Er funktioniert also auf der Ebene der Sensibilität, womit ich einen affektiven, für eine bestimmte Art der kulturellen Produktion charakteristischen und weitgehend spezifischen Code meine“ (2002a, 20, Hervorhebung hinzugefügt). Das Vergnügen, das die Unterhaltung bietet, ist manchmal notwendig (oder fühlt sich vielmehr so an): Wir sitzen alle in einem Boot, wir sind alle hier, und wir alle fühlen (Coffelt 2018, 7).

So wirkt eine Darbietung auf ein Publikum, und genau hier findet der ESC eine so breite Basis: Aufgrund seiner einzigartigen Stellung in der Pop-Kultur allgemein und der Queer-Kultur im Besonderen spricht er ein großes, queeres wie heterosexuelles Publikum an. Mag der ESC als Friedensprojekt auch naiv sein, so ist er doch allemal eine gute und vergnügliche Angelegenheit. Wie Allison Coffelt jedoch anmerkt, ist der Zauber gebrochen, sobald das Publikum erwacht und erkennt, was er wirklich ist (5). In ähnlicher Weise lässt der ESC sein queeres Publikum die Utopie eher erahnen, als sie tatsächlich zu verwirklichen. Weiter kann uns der ESC als Camp-Unterhaltung meiner Ansicht nach nicht bringen. Der Rest ist Geopolitik, und wie die feministische Wissenschaftlerin Donna Haraway sagen würde, müssen wir mit dem Ungemach leben.


Tiina Rosenberg ist Professorin für Theater- und Performance-Studien an der Universität Stockholm. Sie ist ehemalige Rektorin der Universität der Künste Helsinki und war zuvor Professorin für Gender Studies an der Universität Stockholm und an der Universität Lund. Rosenberg hat intensiv über darstellende Kunst, Feminismus und Queer Theory geschrieben.

Die Originalversion des Artikels: „Rising Like the Eurovision Song Contest. On Kitsch, Camp, and Queer Culture” von Tiina Rosenberg wurde von Foreningen Lambda Nordica 2/2020 unter der CC BY-ND Lizenz veröffentlicht.

Übersetzt aus dem Englischen von Kerstin Trimble.

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