Bildung als kommunale Angelegenheit - Interview mit Sybille Volkholz und Anika Duveneck

21. März 2012

Anika Duveneck und Sybille Volkholz haben ein weit gefasstes Verständnis von Bildung. Aus unterschiedlichen Disziplinen kommend, aber mit dem gleichen Ziel, geben sie Denkanstöße das deutsche Bildungswesen nachhaltig zu verändern. Duveneck, die Geografie, Politikwissenschaft sowie Friedens- und Konfliktforschung studiert hat, schreibt derzeit eine Dissertation über "Kommunale Bildungslandschaften". Volkholz, die als Lehrerin, Schulsenatorin und als Mitglied im Abgeordnetenhaus in Berlin tätig war, kommt aus der Praxis. Gemeinsam haben Sie eine Broschüre verfasst, in der sie die Idee der Vernetzung kommunaler Akteure in einer Bildungslandschaft vorstellen und der Politik damit Impulse geben wollen.


Böll: Der Begriff der "Kommunalen Bildungslandschaften" vereint Vokabular aus den Bereichen Geografie und Bildung. Wie passt das zusammen, was meint der Begriff?“

Duveneck: Der Landschaftsbegriff, der eine Vorstellung von Einheit, Harmonie und Geborgenheit transportiert, hat in der deutschen Geografie eine lange Tradition. Der Begriff ist nicht unproblematisch und wurde aus guten Gründen viel kritisiert, aber bezogen auf die aktuellen Bestrebungen, das Bildungssystem besser zu organisieren, erfüllt er durchaus einen Zweck: Wenn sich Akteure dem unübersichtlichen Feld der Bildung und Verwaltungsstrukturen stellen, kann die Arbeit mit solch einer Metapher motivieren. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass es sich dabei um einen Arbeitsbegriff handelt. Die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind schließlich keine Landschaften.

Worin steckt das Neue im Konzept "Kommunalen Bildungslandschaften"?

Duveneck: Das Neue liegt vor allem darin, dass Bildung zu einer kommunalen Angelegenheiten wird. Bisher haben Kommunen im Bereich Bildung relativ wenig Kompetenzen und Ausgestaltungsmöglichkeiten, gerade was die Schulen angeht. Es gibt eine klare Trennung zwischen inneren und äußeren Schulangelegenheiten und Kommunen sind auf die äußeren beschränkt, also vor allem die Schulgebäude und den Hausmeister. Aber sie haben angefangen, das Thema Bildung zu ihrem Gegenstand zu machen und zu gucken, wie man Bildungsprozesse vor Ort gestalten kann. Dabei ist neu, dass der Bildungsbegriff gerade auf kommunaler Ebene nicht mehr eng auf Schule fokussiert ist, sondern weiter gefasst wird. Bildung soll nicht nur Lernen sein. Der kommunale Bildungsbegriff umfasst auch Betreuung, Erziehung und Freizeit. Insofern spielen die Kooperationen zum Beispiel von schulischen Trägern und Einrichtungen der Jugendhilfe eine große Rolle. Das Spektrum an potenziellen KooperationsparterInnen ist fast unerschöpflich.

Warum sollen gerade Kommunen stärker die Verantwortung für Bildung übernehmen? Ist das eine Art Investition, die sich später für sie auszahlen kann?

Duveneck: Das könnte auch anders herum betrachtet werden. Die Kommunen wollen selber die Verantwortung übernehmen. Bildung ist ein attraktiver Standortfaktor, um Mittelschichtsfamilien und auch Unternehmen anzuziehen. Kommunen wollen mit guten Bildungseinrichtungen und -konzepten bei diesen Gruppen punkten. Auch sehen Kommunen das sozial-integrative Potenzial von Bildung. Sie wollen durch Bildung Integrations- und Präventionspolitik gestalten, um spätere soziale Folgekosten abzuwenden. Unterm Strich ist das Thema Bildung von einem imagepolitischen Standpunkt ziemlich attraktiv.
Ich weiß nicht, wie hilfreich es ist, hier mit dem Begriff der "Investition" zu arbeiten. Denn viele Kommunen, die "Kommunale Bildungslandschaften" gründen, haben Nothaushalte und müssen sparen. Ein konstitutives und progressives Element des Ansatzes der "Kommunalen Bildungslandschaften" sehe ich in der Bedeutungsaufwertung von sozialer Arbeit und informeller Bildung, die einen Gegenpol zur leistungsorientierten schulischen Bildung bildet und gerade nicht immer in einer ökonomischen Investitionslogik aufgeht. Dieses Element könnte schnell unter die Räder geraten, wenn man Bildung ausschließlich als "Investition" betrachtet.

Volkholz: Wobei es Studien gibt, die zeigen: Je besser die Phasen der frühen Bildung, desto mehr rechnet sich es hinterher bei den eingesparten Hartz IV-Ausgaben oder Übergangsmaßnahmen in die berufliche Bildung und die Kommune ist die erste, die etwas davon hat. Insofern ist es ein originär kommunales Interesse, wirklich etwas zu verbessern.

Wahrscheinlich gibt es keinen allgemein anwendbaren Bauplan für die Etablierung von "Kommunalen Bildungslandschaften". Können Sie dennoch einige Aspekte benennen, die für das Gelingen wichtig sind?

Volkholz: Ein Versuch, der mir durchaus geeignet erscheint, ist die Einrichtung von Bildungsbüros in Kommunen und Kreisen, was z.B. in dem Projekt Lernen vor Ort gemacht wird. Das ist ein bundesweites Projekt, das mit Hilfe des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und sehr vielen Stiftungen, die sich zusammengeschlossen haben, vorangebracht wird. Diese Bildungsbüros sollen die Arbeit der bisher für die Bildung von Kindern und Jugendlichen Zuständigen miteinander vernetzen. Bildungsbüros sind ein Versuch, eine Landschaft zu bilden, indem sie die bisher zuständigen Akteure in dieser Landschaft vernetzen, die vorher getrennt nebeneinander her gearbeitet haben, so jedenfalls der häufige Vorwurf. Es braucht Maßnahmen, die Akteure in andere Kooperationen bringen.

Wer kann eine "Kommunalen Bildungslandschaft" ins Leben rufen - jeder, der eine gute Idee hat?

Volkholz: Es muss schon jemand sein, der eine gute Idee hat, der aber auch einen Einfluss auf die Akteure in diesem Feld, z.B. die Gesundheitsämter, die Jugendämter, andere soziale Dienste, Schulen und die Jugendhilfe hat. Sie müssen von dem Ideengeber angesprochen werden. Es muss ein Akteur sein, der durch irgendein System oder durch Anreize, z.B. zusätzliche Gelder, sagen kann, ihr sollt hier anders arbeiten. Zum Beispiel bekamen die Schulen im Projekt Ein Quadratkilometer Bildung zusätzliche Moderatoren, die für die Kinder der Roma zuständig sind. Das ist eine ganz konkrete zusätzliche Hilfe.“

An wen richten sich die Angebote? Sind es vorrangig SchülerInnen und Auszubildende oder umfassen die Bildungslandschaften auch Weiterbildungsmaßnahmen für Erwachsene?

Volkholz: Lernen Vor Ort beispielsweise unterstützt sowohl den Übergang von Schule zum Beruf, die Berufsbildung, aber durchaus auch die  Erwachsenenbildung. Da haben die Kommunen keine Vorgaben, um wen sie die Bildungslandschaften drapieren möchten.

Gibt es positive Beispiele in Deutschland, was den Aufbau von "Kommunalen Bildungslandschaften" angeht?

Volkholz: In Paderborn wurden schon richtig gute Erfahrungen gemacht. Dort bezieht man auch ehrenamtlich Arbeitende als eine Art Familienbegleitung mit ein. Leipzig scheint mir auch schon gute Erfahrungen zu machen. Die entwickeln Vorstellungen, wie sie demnächst ihre Zuständigkeiten regeln. Dort wurden z.B. die Bereiche Jugend und Schule in einem Amt für Bildung zusammengeführt. Und man will noch stärker Bildung sozialräumlich gestalten, sodass mehr nach Regionen kooperiert wird und nicht nach den einzelnen Zuständigkeiten Jugend, Gesundheit, Schule.

Duveneck: Es gibt an vielen Orten ganz verschiedene Initiativen, die sich mit dem Thema lokale Bildungsvernetzung und kommunale Bildungspolitik auseinandersetzen. Seit 2007 wurde viel losgetreten. In dem Jahr hat der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge ein Diskussionspapier geschrieben, in dem die Einrichtung "Kommunalen Bildungslandschaften" gefordert wurde. Das hat der ganzen Debatte einen wichtigen Anstoß gegeben. Ein zweiter wichtiger Anstoß ist das Projekt Lernen vor Ort, wo 40 Kommunen gefördert werden. Auf dieses Programm haben sich weit über hundert kommunale Gebietskörperschaften in Deutschland beworben. Das zeigt schon das große Interesse an diesem Thema.

Gibt es vergleichbare Bestrebungen zum Aufbau Kommunaler Bildungslandschaften auch in anderen Ländern? Wie etabliert sind die Konzepte dort?

Duveneck: Gerade im anglo-amerikanischen Sprachraum gibt es schon seit den 1970er Jahren viele "community-schools", also eine lang etablierte Tradition, was für uns hier ganz praktisch ist, da wir natürlich viel über Möglichkeiten und auch Grenzen dieser Ansätze lernen können, auch wenn nicht alle Rahmenbedingungen vergleichbar sind. Es gibt dazu gute Auswertungen von Studien über "extended schools", sozialräumlich vernetzte Ganztagsschulen in Großbritannien. Durch sie kann man sehen, wo punktuelle Erfolge erzielt werden können. Auf der anderen Seite zeigen sie auch, dass herkunftsbedingte Benachteiligungen durch solche Konzepte nicht in dem Maße verhindert werden, wie wir uns das wünschen. Das gilt es ernst zu nehmen. Insgesamt gibt es mittlerweile in sehr vielen europäischen Ländern Ansätze zum Thema kommunale Bildungsvernetzung. Gerade die Benelux-Staaten und Skandinavien sind bekannt für die Aktivitäten in diesem Bereich. Die Ansätze sind insgesamt recht nah an dem, was hier in Deutschland entwickelt wird, eine deutsche Eigenart gibt es allerdings: Mit dem Begriff der "Landschaft" wird nur in Deutschland gearbeitet.

Volkholz: Hier möchte ich gerne noch einen Punkt ergänzen. Auf diese Form anderer Kooperation bin ich schon vor über 10 Jahren aufmerksam geworden durch die englischen "Early Excellence Centres". Das sind Kindertagesstätten, die gemeinsam vom Gesundheits-, Sozial- und Bildungsressort betrieben werden, die wirklich kooperieren. All das basiert auf der Idee, die Arbeit mit den Kindern nicht nach Ressortzuständigkeiten zu verteilen, sondern die Einrichtung gemeinsam zu tragen. Im Mittelpunkt stehen die Kinder in einer bestimmten Lebensphase, nicht die Zuständigkeiten.

Ist denn die Broschüre, die Sie verfasst haben, ein erster Beitrag im deutschsprachigen Raum, der zum Themenkomplex eine Zusammenfassung gibt?

Volkholz: Es gibt bereits eine Menge Publikationen. Was aber aus meiner Sicht neu ist an unserer Broschüre, ist worauf wir das Augenmerk lenken. Es gibt eine Menge Ansätze, die mit zusätzlichem Geld und einem zusätzlichen Gremium arbeiten und nach ein paar Jahren ist alles vorbei. Und die Frage ist völlig offen, wie  dauerhaft sich die Verhaltensweisen geändert haben und welche Kooperationsbereitschaft vor Ort lebendig bleibt. Wir schauen stärker hin, wie man zu dauerhaften Veränderungen kommen kann und daraus sollten dann Politikempfehlungen abgeleitet werden. Ich glaube, das habe ich in der Form noch nicht gefunden.

Frau Volkholz, Frau Duveneck, vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Jessica Schulz.

 
 

Schriften zu Bildung und Kultur, Bd. 9

Kommunale Bildungslandschaften

Die Förderung von Kindern und Jugendlichen braucht die Unterstützung und Kooperation sämtlicher Akteure: der Eltern, Schulen, Einrichtungen, Zivilgesellschaft, der staatlichen Verwaltung und auch der regionalen Wirtschaft. Kommunale Bildungslandschaften sind Verantwortungsgemeinschaften.