Deutschlands Außenpolitik und die Sicherheit europäischer Demokratien nach dem Angriffskrieg

Kommentar

Die Reaktion der atlantischen Gemeinschaft auf den russischen Angriffskrieg hat unserer Generation gezeigt, welch normative Kraft das transatlantische Bündnis abseits der sicherheitspolitischen Dimension für unsere kollektive Freiheit entfalten kann: als Garantin demokratischer Werte, von Rechtsstaatlichkeit und für eine plurale Zivilgesellschaft.

Staatsflaggen der Ukraine und der Bundesrepublik Deutschland sowie die Flagge der Europäischen Union

Die fünftgrößte Armee der Welt marschiert im zweitgrößten Land Europas ein. Der Fortbestand einer jungen Demokratie wird durch eine expansionistische Autokratie gefährdet. Über 40 Millionen Menschen fürchten um ihr Leben, mehr als 6 Millionen flüchten binnen Monaten aus ihrem Land. Was nach 1914 oder 1938 klingt, geschieht in der Gegenwart und markiert das Ende vom „Ende der Geschichte.

Wie konnte es so weit kommen? Die jahrelange Untätigkeit der westlichen Welt trotz wiederholter Völkerrechtsbrüche des russischen Regimes, sei es in der Ost-Ukraine seit 2014 oder in Syrien seit 2015, wird zukünftigen Generationen im Geschichtsunterricht schwer zu erklären sein. Noch nach der Annexion der Krim-Halbinsel im Frühjahr 2014 kommentierte der damalige US-Präsident nonchalant, Russland sei eine „Regionalmacht”, die ihre unmittelbaren Nachbarn aus Schwäche bedrohen würde. Die sichtbarste Reaktion westlicher Industriestaaten neben gezielten Wirtschaftssanktionen war der symbolische Ausschluss Russlands aus der G8. Abschreckung gegen weitere Militärinvasionen in Europa? Fehlanzeige.

Wertelose Außenpolitik

In Deutschland wurde diese fehlgeleitete Russlandpolitik der westlichen Welt durch eine Politikergeneration befördert, die inzwischen nicht zu Unrecht als „historisch gescheitert” angesehen wird. Für CDU, CSU und FDP waren billige fossile Energieträger lange Zeit dringlicher als die Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft und die demokratischen Werte in den Exportländern. Diese von kurzfristigen Wirtschaftsinteressen dominierte Außenpolitik der unionsgeführten Bundesregierungen der letzten 16 Jahre hat nicht nur die sicherheitspolitische Dimension der Dekarbonisierung unterschätzt, sondern menschenrechtsfeindliche Petro-Regime gestärkt und Deutschland in die heutige Rohstoff-Abhängigkeit von illiberalen Autokratien geführt.

Parallel haben sich im linken Parteienspektrum sogenannte „Russlandversteher” etabliert, allen voran bei den Parteien DIE LINKE und SPD, die wiederholt vor „Säbelrasseln” der NATO gegenüber Russland warnten. Auch innerhalb von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herrschte lange NATO-Skepsis; die transatlantische Allianz wird im neuen Grundsatzprogramm von 2020 zwar als „aus europäischer Sicht neben der EU unverzichtbare Akteurin“ gesehen, stecke aber aufgrund von „divergierenden sicherheitspolitischen Interessen“ in einer „tiefen Krise“ ohne „klare strategische Perspektive“. Letzteres dürfte nach dem russischen Angriffskrieg erst einmal Geschichte sein – genauso wie rot-rot-grüne Gedankenspiele im Bund, solange DIE LINKE wie in ihrem Parteiprogramm von 2011 weiter „die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands“ fordert.

Außenpolitischer Paradigmenwechsel

Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine reagieren Deutschland und Europa mit der gebotenen Entschlossenheit: Der Bundeskanzler (SPD) ruft eine „Zeitenwende” aus, die Außenministerin (GRÜNE) verkündet vor den Vereinten Nationen ein „neues Zeitalter” und die Präsidentin der Europäischen Kommission (CDU) sieht die EU an einem „Wendepunkt”. Die verhängten Wirtschaftssanktionen, teilweisen fossilen Embargos und schweren Waffenlieferungen scheinen den Preis der Invasion nachträglich so hochgetrieben zu haben, dass das russische Regime diese bislang nicht auf Nachbarstaaten ausweiten konnte. Zugleich haben sie nicht ausgereicht, um den Krieg kurzfristig zu stoppen. Es bleibt die Hoffnung, dass die Kombination aus herben militärischen Verlusten, einer implodierenden Wirtschaft und wachsendem internem Widerstand den Aggressor mittelfristig zu einem Rückzug aus der Ukraine zwingen wird.

Unabhängig davon, ob und wie die Invasion endet, darf unsere Generation die außenpolitischen Lehren des Angriffskrieges nie wieder vergessen: Dass kollektive Sicherheit den besten Schutz für staatliche Souveränität bietet; dass Dialog mit Autokratien nicht ohne Abschreckung auskommt; und dass Europas Demokratien wehrhaft gegenüber expansionistischen Regimen bleiben müssen. Das historische Friedensprojekt der Europäischen Union hat die Nachkriegsvision, in der wirtschaftlich voneinander abhängige Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, Wirklichkeit werden lassen. Der russische Angriffskrieg hat uns leidvoll in Erinnerung gerufen, dass dies nicht für expansionistische Autokratien gilt. Europas Demokratien zu achten und zu schützen ist zukünftig Aufgabe aller europäischen Gewalt (siehe Grafik 1).

Europäische Staaten nach Regimetyp in 2021

Europäische Staaten[1] nach Regimetyp[2] in 2021 (Oxford Martin School), N = 45

Wiederholen wir die außenpolitischen Fehler der Vergangenheit, droht uns ein düsteres Déjà-vu, wenn 2030 russische Truppen in Helsinki, Vilnius oder Warschau einmarschieren. Das mag aus heutiger Sicht abwegig erscheinen, genauso wie 2014 ein offener russischer Angriff auf Kiew für viele unvorstellbar gewesen wäre. Der Rest ist Geschichte. Für das russische Regime unter Putin, seit über zwei Jahrzehnten an der Macht und ohne erkennbare Ambitionen abzutreten, ist die „Eindämmung Russlands … eine Frage von Leben und Tod”. Indem er die Staatlichkeit der Ukraine negiert und ihre Selbstbestimmung nach 1991 als „gedankenlose Nachahmung ausländischer Modelle” abtut, stellt er die gesamte post-sowjetische Staatenordnung in Frage – und bestellt den nationalistischen Nährboden für zukünftige Militäreinsätze gegen europäische Demokratien.

Sicherheit europäischer Demokratien

Welche europäischen Demokratien sind besonders von zukünftigen Angriffskriegen gefährdet? Das jeweilige Sicherheitsrisiko für einen Staat lässt sich als Produkt der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Angriffskriegs mit der Schadensschwere für die liberale Weltordnung verstehen. Letztere erscheint in Europa heute am größten für liberale Demokratien, da diese von expansionistischen Autokratien im Wettbewerb der Systeme als existentielle Bedrohung wahrgenommen werden. Zugleich wird die Verletzung staatlicher Souveränität im Falle von liberalen Demokratien als politisch schwerwiegender empfunden. Man stelle sich zum Vergleich vor, die russische Invasion wäre im benachbarten Belarus mit seinem autokratischen Pro-Putin Regime erfolgt; einerseits wären vermutlich weniger Menschenleben gefährdet worden und andererseits wären die politischen Reaktionen deutlich zurückhaltender ausgefallen.

Wenngleich die exakte Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Angriffskriegs ungewiss ist, ist davon auszugehen, dass diese höher für Staaten ist, die demokratisch sind und keinen Bündnisschutz genießen. Ein dritter Faktor dürfte die geographische Nähe zu einer expansionistischen Autokratie wie Russland sein (siehe Grafik 2). Schließlich erfolgten die beiden letzten europäischen Kriege Russlands gegen Georgien und die Ukraine, beides demokratische Nachbarstaaten ohne kollektive Sicherheit. Insgesamt teilen sechs weitere europäische Demokratien eine Landgrenze mit Russland, darunter neben den fünf NATO-Mitgliedern im Baltikum, Norwegen und Polen auch das derzeit noch bündnislose Finnland. Daneben gibt es zwei Demokratien in mittelbarer russischer Nachbarschaft – Moldau und Schweden – die bislang keinem kollektiven Sicherheitsbündnis angehören.[3]

Grafik 2: Europäische Staaten nach Regimetyp, NATO-Mitgliedschaft und Staatsgrenze zu Russland, N = 45

Europäische Staaten nach Regimetyp, NATO-Mitgliedschaft und Staatsgrenze zu Russland, N = 45

Auf Grundlage der beschriebenen Annahmen lässt sich das Sicherheitsrisiko für europäische Staaten in einer Risikomatrix darstellen (siehe Grafik 3). Je höher die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Angriffskrieges durch eine expansionistische Autokratie – basierend auf Regimetyp, Bündniszugehörigkeit und Landgrenze – desto dringlicher ist der europäische Handlungsbedarf. Und je demokratischer das angegriffene Regime, desto schwerer wiegt der potenzielle Schaden für die liberale Weltordnung. Demnach besteht das größte Sicherheitsrisiko für Finnland und Schweden, Moldau, das Baltikum und Polen. Nicht erst die Reaktionen auf die Invasion vom 24. Februar 2022 haben verdeutlicht, dass sich die Demokratien Nord- und Osteuropas der historischen Gefahr bewusst waren. Die deutsche Außenpolitik darf ihre Warnungen in den kommenden Jahren nicht wieder ignorieren, sobald das politische Alltagsgeschäft einkehrt.

Grafik 3: Europäisches Sicherheitsrisiko nach Wahrscheinlichkeit eines Angriffskrieges und Schadensschwere (0 = geschlossene Autokratie, 3 = liberale Demokratie), N = 21

Europäisches Sicherheitsrisiko nach Wahrscheinlichkeit eines Angriffskrieges und Schadensschwere (0 = geschlossene Autokratie, 3 = liberale Demokratie), N = 21[4]

Wertegeleitete Außen- und Sicherheitspolitik

Einen Monat nach dem Angriffskrieg hat das Auswärtige Amt mit der Erarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) begonnen, ein Novum für die Bundesrepublik Deutschland. Diese soll aus drei Pfeilern bestehen: (1) Die Sicherheit der Unverletzlichkeit unseres Lebens, zuvorderst vor Gewalt und Krieg; (2) die Sicherheit unserer Freiheit, der Resilienz unserer Demokratie; (3) die Sicherheit unserer Lebensgrundlagen, der Schutz unserer Umwelt und Ressourcen. Die NSS bietet die Chance, deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in ihren Zielen stärker wertegeleitet auszurichten und in ihren Maßnahmen bislang vernachlässigte Handlungsfelder wie die Handels-, Infrastruktur- und Klimapolitik interdependent zu denken.

Wenngleich es eine Vielzahl wichtiger Maßnahmen gibt, die Einzug in die NSS finden sollten, sollen an dieser Stelle einige exemplarisch skizziert werden, die für die Sicherheit europäischer Demokratien nach dem Angriffskrieg besonders dringlich sind (siehe Grafik 4). Dazu gehört die zügige Lieferung von Militärausrüstung an demokratische Partnerländer, die durch expansionistische Autokratien wie Russland bedroht werden. Hinzu kommt die kurzfristige Verschiebung zusätzlicher Streitkräfte der Bundeswehr an die NATO-Ostflanke sowie mittelfristig der bereits angekündigte „substanzielle Beitrag” im Falle einer Verstetigung der NATO-Präsenz im Baltikum. Letzteres würde vermutlich gegen die NATO-Russland-Grundakte von 1997 verstoßen; diese ist jedoch seit der russischen Invasion und der Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine de facto obsolet. Deshalb sollte Deutschland auch die NATO-Beitrittsbemühungen weiterer europäischer Demokratien wie im Falle der „Fehlkalkulation” um die Ukraine nicht erneut blockieren.

Grafik 4: Pfeiler und mögliche Maßnahmen der Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands
Pfeiler und mögliche Maßnahmen der Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands

Unter den aufgelisteten Maßnahmen und Pfeilern dürfte die Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung nuklearer Abschreckung am schwierigsten sein. Einerseits proklamiert Deutschland das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt; andererseits investiert die Ampel-Bundesregierung in US-amerikanische atomare Kampfflugzeuge, damit die nukleare Abschreckung der NATO in den Worten der Außenministerin „glaubhaft” bleibt. Dies ist angesichts der Realität atomarer Drohungen Russlands nachvollziehbar und bedeutet zugleich, dass signifikante nukleare Abrüstungsschritte zukünftig nicht denkbar erscheinen, solange expansionistische Autokratien die Sicherheit westlicher Demokratien auch atomar gefährden. Deshalb sollte der französische Vorstoß von 2020 zu einem strategischen Dialog über nukleare Abschreckung für die gemeinsame europäische Sicherheit durch Deutschland innerhalb der NATO aufgegriffen werden – nicht zuletzt, da die Dauer US-amerikanischer Bündniszusagen in den letzten Jahren an Glaubwürdigkeit verloren haben.

Transatlantisches Wertebündnis

Die Reaktion der atlantischen Gemeinschaft auf den russischen Angriffskrieg hat unserer Generation gezeigt, welch normative Kraft das transatlantische Bündnis abseits der sicherheitspolitischen Dimension für unsere kollektive Freiheit entfalten kann: als Garantin demokratischer Werte, von Rechtsstaatlichkeit und für eine plurale Zivilgesellschaft. Vermutlich seit 1989 war uns der Kontrast zwischen liberalen Demokratien und autokratischen Regimen nicht mehr so bewusst wie heute – trotz aller demokratischen Defizite und außenpolitischen Fehlleistungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Eine „Neue Übereinkunft” in den transatlantischen Beziehungen ist seit dem 24. Februar nicht mehr „trotz alledem” nötig. Sie ist elementar, um unsere imperfekten Demokratien gemeinsam zu achten und zu schützen.


Timur Ohloff ist Policy Fellow beim Referat EU/Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung. Er hat einen M.Phil. in Vergleichender Regierungslehre an der Universität Oxford als Rhodes-Stipendiat absolviert. Der Beitrag repräsentiert seine eigene Meinung.

 

[1] Laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages gibt es keine eindeutige Auslegung für die Zugehörigkeit eines Staates zu Europa nach Art. 49 EUV. Vielmehr werden “geographische, historische und kulturelle Merkmale” als materielle Voraussetzung für einen EU-Beitritt gewertet. Demnach gibt es neben den 27 EU-Mitgliedstaaten je nach Auslegung 24 weitere, also bis zu 51 „europäische“ Staaten. Die fünf Mikrostaaten Andorra, Liechtenstein, Monaco, San Marino und Vatikanstadt sind nicht aufgeführt, da ihr Regimetyp nicht erfasst wird. Kasachstan wird aufgrund der geographischen Lage in Zentralasien nicht berücksichtigt.

[2] Im Gegensatz zu liberalen Demokratien verteidigen Wahldemokratien zwar Eigentumsrechte und politische Rechte (z.B. freie, geheime und faire Wahlen), aber keine Bürgerrechte (z.B. Gleichheit vor dem Gesetz). Deshalb wird dieser Regimetyp auch illiberale Demokratie genannt (vgl. Rodrik und Mukand 2020). In Wahlautokratien gibt es offiziell Wahlen, diese sind aber nicht demokratisch. Sogenannte geschlossene Autokratien (z.B. China) kommen in Europa nicht vor.

[3] Finnland und Schweden haben am 18. Mai 2022 die NATO-Mitgliedschaft beantragt. Solange den Beitrittsanträgen nicht alle 30 NATO-Mitgliedsstaaten zugestimmt haben, besteht kein voller Bündnisschutz.

[4] Nicht mit aufgeführt sind die Staaten im kontinentalen West- und Südeuropa nach UN-Klassifikation sowie Mikro- und Inselstaaten.