„Heimat im Heute“ - Zur Eröffnung der dritten deutsch-israelischen Literaturtage

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27. Mai 2010
Von Ralf Fücks

Eröffnung der 3. deutsch-israelischen Literaturtage, Berlin, 27.5.-30.5.2010 

Die deutsch-israelischen Literaturtage, eine Koproduktion des Goethe-Instituts und der Heinrich-Böll-Stiftung, finden im jährlichen Wechsel zwischen Berlin und Tel Aviv statt.

Begonnen haben wir 2005, zum 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Das damalige Generalthema hieß „Die Vergangenheit ignoriert dich nicht“ – ein Zitat von Amos Oz, der damals auch auf der überfüllten Premierenveranstaltung gesprochen hat. Das Motto für die 2. Auflage im Jahr 2007 haben wir von Dan Diner entliehen: „Israel ist von Europa, aber nicht in Europa“.

2008, im 60. Jahr der Staatsgründung Israels, ging es um den „Traum von Normalität“, der sich immer wieder an einer konfliktgeladenen Realität bricht. Für das folgende Jahr wählten wir das Thema „Tel Aviv – Berlin, Leben und Schreiben in den Städten“. Es gibt mittlerweile ja einen regen Pendelverkehr zwischen den beiden Metropolen, die mehr miteinander gemeinsam haben als jede andere deutsche und israelische Stadt.

Sie können anhand dieser kurzen Übersicht unschwer die Verbindungslinie zwischen den einzelnen Themen erkennen. Immer geht es um Literatur als Literatur, die keinem äußerlichen Zweck dient;  zugleich geht es um Literatur als Medium der Verständigung, als eine Möglichkeit, unterschiedliche Lebenswelten, Erfahrungen und Erlebnisse nachvollziehbar zu machen.

Das gegenseitige Verstehen ist zwischen Israelis und Deutschen alles andere als selbstverständlich, und zwar nicht nur wegen des Judenmords, der uns trennt und zugleich auf fatale Weise verbindet. Wir haben auch Mühe, uns zu verstehen, weil Israel eben nicht Europa ist. Es ist vielmehr das Europa am nächsten stehende Land des Nahen Ostens. Es ist Teil  einer Region, die nach anderen Regeln tickt, in der Religion, Ethnizität, territoriale Souveränität, bewaffnete Selbstbehauptung und militärische Abschreckung eine andere Bedeutung haben als in unserer mehr oder weniger postnationalen, befriedeten Situation.

Ein gut Teil der chronischen Enttäuschung über Israel, die von der linksliberalen Öffentlichkeit hierzulande gepflegt wird, rührt gerade von der Erwartung, dass der Staat der Überlebenden der Shoa gefälligst so zu sein habe wie wir selbst gerne wären: liberal, tolerant, säkular und friedlich – eine Art Schweiz des Nahen Ostens. Wenn er dieser Erwartung nicht gerecht wird, ist die Fallhöhe von Empathie zur Verdammung oft ziemlich hoch.

In den Lesungen und Gesprächen der kommenden Tage geht es um „Heimat im Heute“. Auch dieses Thema ist alles andere als selbsterklärend. Das Wort „Heimat“ schillert in unterschiedlichen Farben; es war in der deutschen Geistes- und Politikgeschichte eher konservativ besetzt und löst bis heute zumindest in meiner Generation ambivalente Empfindungen aus. Schriftsteller wie Max Frisch, Xaver Kroetz oder Franz Innerhofer haben das Dumpfe, Enge, Ausschließende, Intolerante und Aggressive beschrieben, das Familien, Dorfgemeinschaften und kleinstädtischen Kollektiven anhaften kann, den latenten Terror gegen Andersdenkende, Andersaussehende, Andersgläubige. Im Namen der Heimat wurden Kriege geführt und Fremde hinausgesäubert.

Zugleich gab und gibt es einen utopischen Strang im Diskurs über Heimat. In ihm geht es um die Verbindung von Zugehörigkeit und Weltbürgertum, um die Vertrautheit mit einem Stück Erde, einem Idiom, einer Geschichte, einem Gemeinwesen, die sich nicht gegen das Außen und das Andere abgrenzt, sondern im Austausch mit der Welt das Eigene entdeckt.

Im jüdisch-israelischen Kontext scheint mir der Rekurs auf den Heimatbegriff noch komplizierter und zugleich unmittelbarer zu sein. Über zweitausend Jahre Diaspora hinweg hielt sich jüdische Identität über die Erinnerung an das Land der Väter und die Hoffnung auf Rückkehr aufrecht. Gleichzeitig wurden alle Versuche, sich in der Fremde neu zu beheimaten, immer wieder durch Pogrome bis hin zur systematischen Ausrottung gebrochen. Die jüdischen Assimilations¬bestrebungen in Europa schlugen in die Ur-Erfahrung des Ausgeschlossen-Seins und der existentiellen Bedrohung um. Daraus rührt der starke Impuls zur Gründung und Verteidigung einer jüdischen Heimstätte, dessen politischer Ausdruck der Zionismus war (und immer noch ist). Dass Jerusalem, die schöne Tochter Zion, im Zentrum aller national-religiösen Bestrebungen steht, muss niemanden wundern.

Die Konflikte, die daraus mit den arabischen Bewohnern Palästinas und ihren nationalen Ambitionen resultieren, liegen auf der Hand. Weil es um dasselbe Land geht, das von zwei Völkern als ihre Heimat reklamiert wird, kann dieser Konflikt nur durch einen territorialen Kompromiss oder aber durch Vertreibung der Gegenpartei beendet werden. Beide Konzepte stehen bis heute im Konflikt miteinander, auf beiden Seiten.  Die Formel „Two States for Two People“  hat allerdings auch ihre gefährlichen Seiten, vor allem für jenes Fünftel der israelischen Bevölkerung, das nicht jüdischer, sondern arabischer Herkunft ist. Werden sie sich jemals in einem jüdischen Nationalstaat heimisch fühlen können? Das ist eine offene Frage. Die Antwort hängt nicht zuletzt davon ab, ob ihnen die vollen Bürgerrechte eingeräumt werden, die ihnen zustehen.

Im 21. Jahrhundert wird es verstärkt darauf ankommen, Heimat von Herkunft und Ethnizität zu lösen. Immer weniger Menschen verharren in ihrer „ersten Heimat“ – das Haus, in dem man aufwächst, oder dem Landstrich, aus dem jemand stammt.  Dagegen ist die zweite Heimat – wie der Schweizer Publizist Iso Camartin schreibt – „die durch Arbeit und Treue, durch Ausharren und Entschluss erworbene Vertrautheit mit der Welt.“ 

Heimat ist nicht das Schicksalhafte, ein für allemal Festgeschriebene, sondern etwas, das man sich durch soziales Handeln erwirbt. Wer sich aus der alten Heimat weg begibt, muss nicht dauerhaft fremd bleiben – er kann eine neue Heimat wählen und sich aneignen, sofern ihm mit Offenheit und Respekt begegnet wird. Heimat kann man verlieren, aber auch neu finden, und Israel ist geradezu ein Symbol für verlorene und neu gefundene Heimat. Es ist allerdings  zugleich ein Beispiel, wie umkämpft die Frage sein kann, wer dazugehört und wer nicht.

Es ist wohl vor allem der Abstand zwischen erster und zweiter Heimat, der uns während der Lesungen und Diskussionen der nächsten Tage vornehmlich beschäftigen wird, denen ich ein großes und interessiertes Publikum wünsche.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.