Grüne Freiheit. Zur Debatte um grüne Grundbegriffe

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18. Januar 2010
Tina Hüttl
Werkstattgespräch der Grünen Akademie am 4. Dezember 2009

Die Vokabel „Freiheit“ war in der Parteipolitik der Bundesrepublik über Jahrzehnte ein Kampfbegriff des liberal-konservativen Lagers. Obwohl in der Programmatik der grünen Partei die Ethik eines freien, selbstbestimmten Lebens stets eine große Rolle spielte, ist ein positiver und kritisch verwendbarer Freiheitsbegriff von der politischen Linken eher wenig konzeptionell konkretisiert und politisch verteidigt worden. Ein wichtiger Beitrag der Grünen im vergangenen Bundestagswahlkampf war es, dem Freiheitsbegriff im Programm einen zentralen Platz einzuräumen und ihn mit Konzeptionen von Gerechtigkeit zu verknüpfen. Doch ähnlich wie die Gerechtigkeit selbst, leidet der Großbegriff Freiheit unter einer verwirrenden Vieldeutigkeit. Die kommenden Oppositionsjahre bieten die Gelegenheit, ein Verständnis von Liberalität und Freiheit „jenseits der Lager“ zu sortieren. Zu den programmatischen Fragen, die es auszuleuchten gilt, gehören vor allem das sozial- und wirtschaftspolitische Spannungsfeld zwischen Staatsfixierung und individueller Risikoverantwortung. Aber auch im Kontext von Freiheit und Sicherheit, etwa bei Fragen von Terrorabwehr und Datenschutz, und im Konflikt zwischen Klimaschutz und individuellen Konsumfreiheiten sind Ambivalenzen und Widersprüche zu diskutieren. Das Werkstattgespräch „Grüne Freiheit“ wollte einen Baustein zu dieser Debatte leisten. Es knüpft thematisch an die Jahresversammlung der Akademie im Januar 2009 an.

Das Werkstattgespräch gliederte sich in drei Panels. Im ersten beschrieben die Referenten Stefan Gosepath, Professor am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt, und Geschichtsprofessor Christian Jansen von der TU Berlin verschiedene Auffassungen und historische Kontexte des Freiheitsbegriffs, um ihn auf seine Anschlussfähigkeit für die grüne Debatte zu untersuchen. In Abgrenzung dazu skizzierte Christopher Gohl, Gründer der liberalen Horber Akademie, den Freiheitsbegriff der FDP. Moderiert wurde die erste Runde von Simone Dietz, Philosophieprofessorin in Düsseldorf.
Das zweite Panel fragte nach realpolitischen Konsequenzen dieser Überlegungen: Wie wird der Freiheitsbegriff im sozial- und wirtschaftspolitischen Diskurs dekliniert? Die Runde mit Dieter Rulff, Redakteur bei „Vorgänge“, und mit Gesundheitsministerin a. D. Andrea Fischer wurde moderiert von Peter Siller.
Welche sozialökonomischen und kulturellen Milieus von Grünen und FDP sowie deren jeweiligem Freiheitsverständnis angesprochen werden, wurde im letzten Teil des Werkstattgesprächs thematisiert, das Lothar Probst von der Universität Bremen moderierte. Wahl- und Parteienforscher Richard Stöss (Freie Univ. Berlin) stellte empirisch ausgewertete Daten zu Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Wählerschaften dar. Renate Künast, Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Grüne, erläuterte ihr politisch-strategisches Verständnis von einem „kritischen Bürgertum“.


I. Panel: Der Freiheitsbegriff und seine Deutung für die Grünen
In seinen Begrüßungsworten wies Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Grünen Akademie, auf das ambivalente Verhältnis der Grünen zum Freiheitsbegriff hin, dessen Deutung Gegenstand dieser Runde war. Der Skepsis gegenüber einer als Marktfreiheit gefassten Freiheit habe stets das radikal-liberale Verständnis nach individueller Selbstbestimmung entgegen gestanden. Heute stellten sich im Hinblick auf die ökologischen Krisen ganz neue Freiheitsherausforderungen – sofern Politik nicht nur die Einsicht in die Notwendigkeit sein soll.

Freiheit als „gleiche Freiheit“
Freiheit, so Stefan Gosepath in seinem Impulsreferat einleitend, sei immer ein aktuelles Ziel der Menschen, da sie hart erkämpft ist und unmittelbar genossen werden kann. Sie intellektuell und politisch zu begründen, sei jedoch alles andere als trivial: Individuelle Freiheit müsse stets staatlich und verfassungsmäßig abgesichert werden, was gleichzeitig jedoch die Freiheit beschneide, da sie fortan von der Freiheit des Anderen begrenzt werde und ein Zwang zum eigenen Wohl durch den Staat bestehe. Gleichzeitig müsse die staatliche Garantie von Freiheit auch unter Gerechtigkeits- und distributive Gleichheitsgrundsätze fallen, da sonst keine Freiheit möglich sei. Es sei daher ein Kategorienfehler, Freiheit und Gleichheit als Gegensätze zu betrachten. Vielmehr seien sie untrennbar, und es müsse heißen: gleiche Freiheit für alle.
Die Bedeutung der Freiheit beschrieb Gosepath darin, dem Bürger autonome Entscheidungen zu ermöglichen. Zielkonflikte, etwa der Wunsch in eine Einbahnstraße zu fahren und das Verbot dessen, müssten je nach Wichtigkeit abgestimmt werden, so dass es eine substanzielle Wahl bestimmter Freiheitsprojekte gebe. Gosepath benannte auch die Bildung als Voraussetzung dafür, Bürger in die Lage zu versetzen autonome Entscheidungen zu fällen. Diese Befähigung (nach dem Fähigkeitenansatz von Amartya Sen) müsse durch staatliche Institutionen und materielle Ressourcen geschehen. Ein kritisch linkes Verständnis erfordere dabei auch, die natürliche Ausstattung der Menschen und ihrer Talente zu berücksichtigen und sich nicht nur auf den FDP-Begriff der Leistungsgerechtigkeit zu beziehen. Anschlussfähigkeit seines Freiheits-Modells an den Marktliberalismus sah Gosepath jedoch in folgendem Punkt: Bei tatsächlich gleichen Startchancen seien die Folgen autonomer Entscheidungen vom Bürger selbst zu tragen. Als Grundkonzeption eines Freiheitsbegriffs für die Grünen folgerte er abschließend vier Komponenten: 1)Freiheit sei ein wesentlicher Aspekt von Bürgerrechten. 2)Sie habe ein republikanisches Moment, in dem sie Selbstbestimmung nicht nur in der Privatsphäre, sondern im öffentlichen Raum vorsehe. 3)Unter Vorrausetzung der Chancengleichheit regele sie die wirtschaftliche Sphäre frei nach Marktgesetzen. 4)Sie verstehe den Sozialstaat als ermöglichend und nicht begrenzend.
Auf Gosepaths These, Freiheit und Gleichheit nicht als Gegensätze, sondern als untrennbar zu betrachten, ging in der anschließenden Diskussion Sybille Volkholz ein. Eine solche Gleichsetzung sei abstrakt und in der Realität kaum praktikabel, da beide Werte bei begrenzten Ressourcen unmittelbar konkurrierten. Auch Stephan Schilling wollte den Begriff der „gleichen Freiheit“ für die Grünen differenzieren und von der FDP abgrenzen: Freiheit als gleiche Startchancen zu betrachten, sei nachvollziehbar. Dass der Begriff jedoch bei gleichen Startchancen auch Unterschiede im Ergebnis je nach erbrachter Leistung rechtfertige, werfe viele Fragen auf. Dahinter stehe die Annahme der Unabhängigkeit. Diese, gab Schilling zu Bedenken, sei aber ein Ideal. Letztlich seien doch auch Ergebnisse Umstände von gesellschaftlichen Verhältnissen. Einen Vorschlag, wie eine „Rückversicherung im Wettbewerb um Chancengerechtigkeit“ für die Grünen aussehen könnte, machte Ralf Fücks: Sie müsse eine Kombination aus kollektiven Grundsicherheiten, die ein Risikonetz gegen die Wechselfälle des Lebens bildeten, und einer Organisation des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, das auf eine höchstmögliche soziale Mobilität ziele, sein. Peter Siller sprach in diesem Zusammenhang von einem „Recht der zweiten Chance“: Die Grünen dürften nicht, wie die FDP, beim Bild der gleichen Startchancen stehen bleiben, sondern müssten auch demjenigen eine erneute Chance einräumen, der aus Freiheit gefallen sei. Robert Ulmer vom Netzwerk Grundeinkommen erweiterte diese Idee zur „Startchance in Permanenz“, die in einem staatlich garantierten Grundeinkommen verwirklicht werden könne. Nur sie gewähre tatsächliche Freiheit.

Demokratische, nicht liberale Tradition der Grünen
Die historische Unterfütterung zu einer Reihe von Begriffen und einen Exkurs in die Parteiengeschichte und das Parteiensystem rund um die 1848er Revolution lieferte der Historiker Christian Jansen. Er warnte: Aus historischer Sicht sollten sich die Grünen nicht in die Begriffstradition des Liberalismus stellen, der zu sehr mit der Idee des Wirtschaftsliberalismus befrachtet sei. Besser sei es, sich auf das demokratisch-republikanische Spektrum zu beziehen, da viele der daraus entsprungenen Ideen, wie etwa die Emanzipation, von den Grünen im 20. Jahrhundert aufgegriffen wurden.
Als Begründung seines Plädoyers diente ihm der historische Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte der politischen Strömungen und Parteien bis in die Zeit der Reichsgründung. Für die Politik- und Ideengeschichte leitete er folgende Gegenüberstellung von Liberalismus und Demokratie ab: 1)Beim Wahlrecht verlangten Demokraten nach einem demokratischen Wahlrecht, wohingegen Liberale stets für eine Gewichtung der Stimmen nach Besitz und Bildung eintraten. 2)Die Demokraten favorisierten republikanische Verfassungen wie in den USA und der Schweiz, die Liberalen konstitutionelle Monarchien nach dem Vorbild GB und Belgiens. 3)Der demokratische Leitbegriff sehe die Gleichheit als Aufgabe des Staates und der gesellschaftlichen Institutionen, der liberale Leitbegriff hingegen die Freiheit. Sie sollte durch staatliche Maßnahmen zwar garantiert, aber möglichst wenig eingeschränkt werden.
Die tiefen Gegensätze zwischen Liberalen und Demokraten, so Jansen weiter, seien erst durch das gemeinsame Ziel eines deutschen Nationalstaates und durch die in der Paulskirche 1849 beschlossene Reichsverfassung überbrückt worden. Die wichtigste gemeinsame Organisation von Liberalen und Demokraten sei die „Fortschrittspartei“ gewesen, die aber mit der Bismarckschen Politik um 1866 wieder in drei verschiedene politische Strömungen zerfiel: 1) In die Nationalliberale Partei, die programmatisch einen gemäßigten Nationalismus mit Wirtschaftsliberalismus vereinte und in der liberalen Ära (1867-1875/79) eng mit Bismarck zusammenarbeitete und so die Grundlagen für das Kaiserreich schuf. Idealtypisch charakterisiere sich dieses Lager darüber, das es den Staatsbürger über Besitz definierte. 2) In die Sozialdemokratie, die sich von einer anfangs bürgerlich-oppositionellen Partei zu einer radikalen Linken wandelte und den Bürger über Arbeit definierte. 3) In die Demokraten, die sich zum einen aus bürgerlich-gemäßigten Kräfte der Sozialdemokratie speisten sowie aus verschiedenen Projekten der Fortschrittspartei. Dieser dritte Flügel sei für die Grünen der interessanteste, da er den Staatsbürger über seine Bürgerrechte, d.h. über Partizipation definiere – eine Tradition, in der sich die Grünen wiederfinden können, schloss Jansen.
Den Freiheitsbegriff als zentral für den Liberalismus abzuleiten sowie die Empfehlung Jansens, sich auf die republikanische Seite zu schlagen, hielt Ralf Fücks für zu kurz gegriffen. Freiheit, zitierte Fücks Hannah Arendt, sei Sinn jeder Politik. Sie sei also die wichtigere Kategorie, weil sie Selbstbestimmung ermögliche. Auch Gosepath habe zuvor aufgezeigt, dass Gleichheit nur insofern ein Staatszweck sein kann, als dass sie notwenig für die Gewährleistung von gleicher Freiheit ist. Gleichheit sei daher nur ein Mittel zum Zweck, nämlich ein Mittel für Freiheit.

Qualitativ verstandener Freiheitsbegriff
Auch Christopher Gohl, Leiter der Horber Akademie für strategische liberale Programmatik, kritisierte zunächst in seinem Referat Jansens historisch hergeleitete Begriffdefinition des Liberalismus als unzutreffend, da sie die Entwicklung der letzten 100 Jahre ausblende. Seit der Wiedergründung der FDP 1946 bestehe eine selbstverständliche Einheit von Liberalismus und Demokratie: Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, habe zusammen mit dem „Graswurzeldemokraten“ und FDP-Bundesvorsitzenden Reinhold Maier die Partei von innen geprägt, nennenswerte nationalliberale Strömungen seien Ende der 60er Jahren endgültig herausgedrängt worden. Als die vier zentralen Freiheitsordnungen der FDP charakterisierte Gohl: 1) Die Freiheit des Rechtsstaates; 2) die politische Freiheitsordnung der Demokratie, verstanden als Selbstbestimmung der Bürger; 3) die Ordnung der Marktwirtschaft, die über Institutionen wie das Bundeskartellamt aufrecht erhalten wird und 4) die Ordnung des Nationalstaates. Letztere sei, so Gohl, als identitäre Ordnung seit den 70er Jahren verlorenen gegangen und keine ernstzunehmende Strömung innerhalb der FDP. Als Ersatz für eine identitäre Freiheitsordnung schlug Gohl „die Bürgergesellschaft“ vor - einen Begriff, den die FDP Mitte der 90er Jahre, angeregt durch die mittelosteuropäischen Revolutionen, ins Spiel gebracht hätte. Dieser habe allerdings leider nur so viel emotionale Ausstrahlungskraft wie der ebenfalls nur vernünftige Begriff des „Verfassungspatriotismus“. Auch hätten Teile der FDP bis heute nicht wirklich verstanden, was die Bürgergesellschaft als Gegenentwurf zum Staat bedeute und würden eher einer „bürgerlichen Gesellschaft“ anhängen. Gohl benannte weitere liberale Versäumnisse, wie etwa die Gegenüberstellung von Individuum und Staat, die das Dazwischen – das Gohl als die „selbstorganisierte Gesellschaft bezeichnete“ – ausblende. Damit einher ginge die falsche Vorstellung, dass Freiheit ein Freiraum sei, bei dem ein „mehr an Freiheit“ immer und unbedingt gut sei. Gohl warf den auf den Philosophen Claus Dierksmeier zurück gehenden Begriff der „qualitativen Freiheit“ auf, der nicht nach „mehr Freiheit“, sondern nach dem Sinn einzelner Freiheiten frage und dabei zwischen verschiedenen Arten von Freiheiten unterscheide – „nicht: je mehr, desto besser, sondern: je besser, desto mehr!“. Nur mit einem Verständnis der Qualitäten von Freiheit gelinge es, eine globalisierte Welt, die sich heute nicht durch „Independence“, sondern durch „Interdependenzen“ charakterisiere, zu gestalten und ihre Chancen wahrzunehmen.

In der folgenden Diskussion wurde vor allem der Begriff der qualitativen Freiheit problematisiert: „Wer prägt den Diskurs, welche Kriterien für „gute Freiheiten“ anzulegen sind?“, wollte die Moderatorin der Runde, Simone Dietz, wissen. Letztlich bedürfe es dazu diskursiver Fähigkeiten in der Bürgergesellschaft. Ganz ähnlich sprach Sybille Volkholz von der „Selbstorganisationsfähigkeit der Bürgergesellschaft“, die Voraussetzungen hinsichtlich der Bildung etc. erfordere. Ein ausdrückliches Lob an Gohl, sich dem Dialog mit den Grünen zu stellen und die Widersprüche innerhalb der FDP zu benennen, kam von Peter Siller. Den Begriff der qualitativen Freiheit verdächtigte Siller allerdings, lediglich mit der Einsicht in die Notwendigkeiten einher zu gehen. Er kritisierte die FDP dafür, dass sie sich trotz aller Chancenrhetorik nicht um die Chancen derer kümmere, die sich nicht in der bürgerlichen Mittelschicht bewegten.


II. Panel: Anwendungstest - Sozial- und wirtschaftspolitische Deklinationen
In welcher Weise, eine stärkere normative Orientierung am Liberalismus den Grünen helfen könne, auf die gesellschaftlichen Veränderungen politisch zu antworten – diese Frage beschäftigte Dieter Rulff in seinem Impulsreferat. Er skizzierte die Widersprüche im Verhältnis der Grünen zum Liberalismus und machte gleich mehrere Vorschläge. Andrea Fischer dagegen benannte sehr konkret zentrale Punkte in der Sozialpolitik, denen sich die Grünen hinsichtlich Freiheits- und Gerechtigkeitsgrundsätzen stellen müssten.

Die Grünen und der Liberalismus
Im Grundsatzprogramm der Grünen sowie auf den Feldern der Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik spiele der Begriff der Freiheit nur eine nachrangige Rolle, so Rulff einleitend. Gleichzeitig seien die Grünen in der Regierungspraxis aber schon weit liberaler. Er appellierte, diese Praxis programmatisch anzunehmen und zu reflektieren. Rulff grenzte sich vom neoliberalen Liberalismusverständnis ab, das die Aufgabe der Politik im Schutz vor der Einmischung Dritter sehe. Dieses sei mit der Krise gescheitert, aber auch die Rahmenbedingungen für eine keynesianische Politik seien im entgrenzten Nationalstaat nicht mehr gegeben. „Die Grünen haben gut daran getan, sich nicht auf die eine oder andere Seite des wirtschaftspolitischen Schulenstreites um Angebot- oder Nachfragepolitik zu schlagen, sondern Flexibilität zu zeigen“, sagte er. Jedoch müssten klarere ordnungspolitische Grundlinien und Prioritäten (etwa Nachhaltigkeit) erkennbar werden, nach denen der Abbau der Staatsverschuldung gegen konjunkturelle oder sozialpolitische Maßnahmen gewogen, oder nach denen subventioniert und gefördert werde.
Aus liberaler Sicht unbedenklich sei, dass grüne Wirtschaftspolitik nicht alle Marktteilnehmer gleich behandeln will. Mit dem Green New Deal setze die Partei zu Recht klare Priorität auf ökologische Produkte und Dienstleistungen. Jedoch sei die Verhinderung einiger wirtschaftlicher Innovationen (etwa auf dem Gebiet der roten Gentechnik) nicht hinreichend begründet. Als wesentliches Element grüner Wirtschaftsprogrammatik werfe der wachstumskritische Impuls, der sich aus dem Schutz der endlichen Ressourcen her begründet, Erkenntnis- und normative Probleme auf. Es gälte die Theorie einer Wirtschaft ohne Wachstum zu entfalten, die womöglich keine liberale mehr wäre. Eine solch begrenzte Wirtschaft würde, so Rulff, auch individuelle Freiheit beschneiden und schwere Eingriffe in die Belange der aktuell Lebenden vornehmen. Dies müsse von den Grünen, die die Interessen der künftigen Generationen zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Selbstverständnisses gemacht haben, normativ begründet werden. Eine Möglichkeit der normativen Unterfütterung sah Rulff im „Band der Familie“ als „einzigen Ort einer unkündbaren, vertragsfreien Zuwendung“. Von daher speise sich eine Politik der Anerkennung der Belange künftiger Generationen normativ aus den Kategorien Freiheit und Liebe.
Im Bezug auf eine liberale Sozial- und Arbeitsmarktpolitik stellte Rulff nicht mehr die am Status orientierte Versorgung in den Mittelpunkt, sondern die Befähigung zur Selbstvorsorge. Sie orientiere sich an der Position als Bürger und nicht an der Stellung in der Produktion. Sie sichere nicht mehr Arbeitsplätze, sondern Arbeitende. Fördern und Fordern als Kernbegriffe der liberalen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bedeuteten im Gegensatz zur neoliberalen Variante jedoch, die Anpassungsleistung nicht dem Einzelnen alleine aufzubürden, sondern durch öffentliche Mittel und institutionelle Hilfestellung zu flankieren. Gleichzeitig plädierte Rulff auch dafür, das Sozialsystem weg vom Bismarckschen Modell der paritätischen Einzahlung hin zur Steuerfinanzierung umzubauen. Diesem liberalen Prinzip entsprächen in der Debatte um die Finanzierung des Gesundheitssystems sowohl die Kopfpauschale als auch das Bürgergeld. Die Differenz zwischen beiden liege nicht im Modell, sondern in der finanziellen Ausgestaltung.
Rulff verdeutlichte aber auch den ungeklärten Widerspruch eines aktivierenden Sozialstaates: Der geförderten Chancennachfrage stehe kein entsprechendes Chancenangebot mehr gegenüber. Ob Vollbeschäftigung noch ein realistisches Ziel sei, sei unklar. Die Garantie eines Grundeinkommens verspreche aber aus liberaler Sicht nur auf den ersten Blick eine Lösung aus dem Dilemma, so Rulff. Denn sie degradiere den Einzelnen zum staatsbedürftigen Empfänger, dessen Wohl von politischen Erwägungen und seinem Einfluss darauf abhänge. Auch vernachlässige sie Arbeit als zentrale Kategorie gesellschaftlicher Anerkennung. „Solange die Möglichkeiten, die Arbeitsnachfrage auszuweiten, neue Tätigkeitsfelder zu erschließen und Exklusion zu vermeiden, nicht ausgeschöpft sind“, schloss Rulff seinen Beitrag, „sei eine solch weit reichende staatliche Intervention abzulehnen“.

Felder grüner Sozialpolitik
Andrea Fischer knüpfte konkret an Rulffs Thesen an, indem sie einzelne Felder grüner Sozialpolitik skizzierte: In Punkto Rentenversicherung betonte sie zunächst die grünen Verdienste, die Renten etwa durch Anerkennung von Kindererziehungszeiten an die tatsächlichen Lebensverläufe angepasst zu haben. Gleichzeitig sprach sie sich jedoch für eine Abwendung vom Prinzip der Leistungsäquivalenz aus, das nicht mehr realistisch sei. Das grüne Konzept einer Garantierente, die einen Sockel gewährleiste, werde immer weniger Zustimmungsprobleme aufwerfen, so Fischer. In der Gesundheitspolitik plädierte sie dafür, die FDP-Vorschläge nicht generell zu verteufeln und über die Gesundheitsprämie und eine stärkere Steuerfinanzierung nachzudenken. Auch jetzt sei die Finanzierung der Krankenversicherung nicht das Optimum an Gerechtigkeit. Gesundheitspolitik müsse gleichzeitig mehr aus der Perspektive der Patienten gedacht werden und offensiver gegen kooperatistische Strukturen vorgehen. Eine liberalere grüne Haltung wünschte sich Fischer auch in Fragen der Prävention. Die Tendenz, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben und sie bei Missachtung zu sanktionieren, sei gefährlich. Auf dem Gebiet der Familienpolitik schließlich, so Fischer, müsse der Staat die Verteilung seiner begrenzten Ressourcen stärker nach dem Aspekt der gleichen Startchancen abwägen. Eine Entscheidung zwischen Investitionen in öffentliche Kinderbetreuung oder der Herdprämie falle so leicht und entlarve letztere schnell als „Vulgärgerechtigkeitsidee der CSU“. Bei der Behindertenpolitik betonte Fischer, seien die Grünen die ersten und einzigen gewesen, die etwa durch die Einführung des „persönlichen Budgets“ Selbstbestimmungsrechte behinderter Menschen gestärkt haben. Abschließend ging Fischer noch auf das Bürgergeld ein. Viele Gründe sprächen dafür, Leistungsempfänger nicht zu gängeln. Jedoch dürfe mittels des Bürgergeldes keine Vereinfachung des Sozialstaates angestrebt werden, wie es in Konzepten der FDP vorgesehen sei. Der Sozialstaat tue gut daran, Unterschiede zu machen. Entscheidender Impuls für das Bürgergeld dürfe daher nicht die Vereinfachung, auch nicht das Ende der Arbeitsgesellschaft sein – sondern die Entstigmatisierung und Ermöglichung der Freiheit.
An Fischers Vortrag schloss sich unter der Moderation von Peter Siller eine kurze, lebhafte Diskussion an, die vor allem den Freiheitsbegriff zum Inhalt hatte. Der grüne MdB Wolfgang Strengmann-Kuhn sprach sich dafür aus, dass Grüne vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik den Freiheitsaspekt stärken und nach dem Vorschlag Rulffs den Weg vom Bismarckschen System hin zu einer Bürgerversicherung gehen sollten. Grundsätzlichen Klärungsbedarf dagegen sah der Politikberater Hans Hütt in der Frage, welche normative Zielvorstellungen bei einem grünen Freiheitsbegriffs bestehen. In der Metaphorik des Rennens bei gleichen Startchancen sei unklar, was gut durchdachte Ziele seien und wie mit Zielkonkurrenzen umgegangen werde. Konkret wandten sich die Diskutanten dann dem Beispiel „Gesundheits-Präventionszwang“ zu, das Fischer aufgeworfen hatte: Dürfen bestimmte Verhaltensweisen und Vorsorgeuntersuchungen in einer liberalen Freiheitskonzeption vorgeschrieben werden? Ja, so ein Teilnehmer, denn die Ermöglichung von Freiheit sei die Krankenversicherung. Wer sie aber durch Zusatzrisiken, wie etwa Skilaufen, überbelaste, müsse vor dem Hintergrund der knapper Ressourcen extra vorsorgen. Andrea Fischer dagegen sprach sich gegen eine solche Auffassung aus: Was im Einzelnen richtig erscheine, führe im Extrem dazu, Menschen zu sanktionieren, die trotz Warnungen ein behindertes Kind bekämen, so Fischer. Zum Abschluss der zweiten Runde plädierte Dieter Rulff nochmals dafür, dass Grüne intensiver die Freiheit diskutieren. Als zentraler Wert schaffe sie heute eine Metaebene und knüpfe an das anthropozentrische Weltbild an, auf das sich die verschiedenen grünen Strömungen (Umwelt-, Bürgerrechts- und Sozialbewegungen) einst verständigt hätten.

III. Panel: Milieus und ihre politischen Präferenzen
Den Bogen von den Höhen der Philosophie zu den realen Bedingungen einer wahlabhängigen Politik schlug die Schlussrunde. Zunächst präsentierte der Parteienforscher Richard Stöss Ergebnisse ausgewerteter Datensätzen zur Wählerschaft von Grünen und FDP sowie deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Stöss betrachtete dabei hauptsächlich die Sozialstruktur der Wähler, nicht deren Einstellungen und Werte. Letzteres ergänzte Renate Künast. Sie beschrieb die kulturellen Aspekte des von FDP und Grünen umworbenen kritischen Bürgertums und folgerte daraus, welche Interessen künftig auch zu berücksichtigen seien.

Konkurrenz zur FDP in höheren Gesellschaftsschichten
Ausgehend vom Bundestagswahlergebnis (FDP 14,6 Prozent; Grüne 10,7 Prozent) kennzeichnete Stöss die Kriterien seiner Datenauswahl wie folgt: 1) In welchen sozialen Gruppen wurden Grüne und FDP überdurchschnittlich bzw. unterdurchschnittlich gewählt? 2) Was sind ihre Hochburgen, in denen sie stärkste oder zweitstärkste Partei wurden? Bekannt sei, so Stöss, dass die Wählerschaft der FDP eher männlich, die der Grünen eher weiblich ist. Bei den Grünen seien Frauen fast genauso stark wie bei der FDP. Gemeinsam ist Beiden, dass sie überdurchschnittlich von der jüngeren und mittleren Generation (18-44 Jahre, Hälfte der Wählerschaft) gewählt werden, bei der jüngeren (18-24) seien die Grünen sogar stärker als die FDP. Darüber hinaus sei die Wählerschaft der FDP eher klein- und mittelstädtisch geprägt, die der Grünen großstädtisch (ab 100 000 Einwohner). Hinsichtlich des Bildungsstands ihrer Wähler sei Beiden gemeinsam, dass sie überdurchschnittlich von höheren Bildungsschichten gewählt werden. Sowohl Angestellte als auch Selbstständige neigten vergleichsweise häufiger dazu, eine der Partein zu wählen - auch wenn die Selbstständigen eine Hochburg der FDP seien, und die Grünen nicht an das Niveau herankämen. Unter den einzelnen Gruppen der Selbstständigen seien die Grünen im Bereich der freien Berufe am stärksten vertreten, die FDP eher beim Besitzmittelstand. Auch was die Höhe des Einkommens ihrer Wähler betreffe, konkurrierten die Parteien: Beide würden von Personen im oberen Einkommensbereich gewählt, seien im unteren nur wenig vertreten und sprächen Mittel- und Oberschicht (Grüne bei letzterer unter Niveau der FDP) an. Entscheidende Unterschiede, so Stöss, bestünden jedoch in der Personenanzahl und in den Lebensformen der Wähler-Haushalte: Am besten schneide die FDP in 2-Personen-Haushalten ohne Kinder ab, die Grünen dagegen in 4-Personen-Haushalten mit Kindern. Zusammenlebende Eheleute wählten doppelt so häufig FDP wie die Grünen, getrennt lebende Eheleute dagegen genau umgekehrt. Abschließend zog Stöss folgendes Fazit: Grüne und FDP konkurrierten miteinander um die höheren gesellschaftlichen Schichten, wobei das Besitz- und Einkommensstarke (männliche) Bürgertum in kleinen und mittleren Gemeinden eher zur FDP neige, das bildungsstarke (weibliche) Bürgertum vor allem in den Großstädten zu den Grünen. Auch folgten Wohn- und Beziehungsstrukturen der FDP im Gegensatz zu den Grünen eher traditionellen Mustern und blieben eher kinderlos. Expansionschancen für die Grünen machte er vor allem in den Großstädten aus: Der Weg gehe jedoch nicht über die Sozialstruktur, sondern über Werteorientierungen.

Das kritische Bürgertum als „Verantwortungsmittelschicht“
Das gute Ergebnis der Bundestagswahl drücke, so Renate Künasts einleitende These, eine Entwicklung der Grünen aus, die sich neue Wählerschichten erarbeitet hätten. Grün sei nicht mehr ein „exklusiver, verwegener Lebensentwurf mit Latzhose am Rande der Gesellschaft“, sondern in der Mitte angekommen, auch mitten im gesellschaftlichen Diskurs. Grüne Ideen seien heute überall verbreitet. Gleichzeitig besetzten Grüne nicht mehr nur Politikfelder wie Demokratie und Umweltschutz, sondern etwa auch Bildung und Jobfragen. Das entscheidende Kennzeichen der bürgerlichen Mitte sah Künast - jenseits der sozialökonomischen Kriterien bei Stöss - vor allem in der Orientierung auf den Wert der Verantwortung. Die grünen Wähler scheuten sich nicht, Verantwortung für das Gemeinwesen und ihre Mitmenschen zu übernehmen. Ein grünes kritisches Bürgertum (auch: linke Mitte) beschrieb sie daher mit dem Begriff der „Verantwortungsmittelschicht“. Sie zu umwerben, bedeute jedoch nicht, andere Schichten, wie etwa Hartz IV Empfänger, zu vernachlässigen. Eine Abgrenzung zum FDP-Verständnis des Bürgertums sah Künast darin, dass sich das grüne kritische Bürgertum mehr auf das Gemeinwohl, und nicht auf das Eigenwohl hin orientiere.
Die wichtigere Frage, wie es erreicht werden könne, beantwortete sie mit einem Spruch aus der Bibel: „Ich habe Dich bei Deinem Namen genannt, Du bist mein“. Die Grünen müssten die linke Mitte unter ihre Obhut nehmen und ihre Interessen vertreten. Dazu müssten sie sich
intellektuell breiter aufstellen. Die Konflikte, die jedoch aus einer neuen Interessensvertretung entstehen können, zeigten sich am Beispiel der schwarz-grünen Bildungsreform in Hamburg: Die kritische Haltung der Mittel-, wie auch Migrantenschicht gegenüber der Schulreform müsse nachdenklich machen. Ihre Abstiegsängste dürften nicht ignoriert werden. Vielleicht sei versäumt worden, so Künast vorsichtig, vor der Reform zuerst die Qualität der Schulen zu verbessern, sofern auch die Mitte der Gesellschaft mitgenommen werden soll.
Abschließend warnte Künast auch davor, die Debatte um das kritische Bürgertum nur als Abgrenzungsdebatte zur FDP zu führen: Unter Merkel habe sich die CDU schrittweise die kulturelle Hegemonie erkämpft, die die Grünen einmal innehatten. Merkel besetze das Klimathema, versuche durch Postenvergabe wie etwa an Kristina Köhler mit dem Habitus einer modernen, offenen Partei zu punkten. In Umweltminister Norbert Röttgen sah sie das Sinnbild dieser Entwicklung. Die schärfere Konkurrenz, so ihr Fazit, bestehe daher zur CDU - vor allem in den Großstädten.
Künasts Analyse wurde von den meisten Diskussionsteilnehmern geteilt, vor allem von Richard Stöss, der die CDU als Bedrängnis für alle Parteien beschrieb. Auch Wolfgang Strengmann-Kuhn bestätigte aus seinen Erfahrungen im Wahlkampf, dass es beim grünen Bürgertum eher Überschneidungen mit der CDU gebe als mit der FDP. Er warnte jedoch davor, sich in „Mitte-Diskussionen“ zu verlieren und auf „Volksparteirutschbahn“ zu begeben. Vielmehr müsse das inhaltliche Profil der Grünen gestärkt werden. In eine ähnliche Richtung stießen Hans Hütt und Ralf Fücks. Hütt fragte nach der narrativen Erzählung, mit der die Grünen in den Wettbewerb um die Mitte gehen wollten. Fücks wies Künast auf den Konflikt zwischen Werte- und Interessenspolitik hin - etwa am Beispiel von Diskussionen um Fixerstuben in bürgerlichen Quartieren. Die lebensweltlichen Interessen des Bürgertums müssten beachtet werden, aber die Grünen dürften keine Interessenspartei der Mittelschicht werden, so Fücks. Als Ansatzpunkte einer narrativen Erzählung im Sinne Hütts schlug er das Thema der Aufstiegsgerechtigkeit, auch im Milieu der Migranten, sowie den Green New Deal und eine nachhaltige Finanz- und Sozialpolitik vor. In ihrem Schlussfazit wollte Künast grüne Bedenken, sich in eine Interessenspartei für den Mittelstand zu verwandeln, ausräumen: Den Grünen müsse es darum gehen, in neue Kreise vorzudringen. Nachholbedarf sah sie etwa bei der Vertretung von Facharbeitern und in der Wirtschaftspolitik, aber auch in der Erschließung neuer Lifestylebereiche, etwa der Mode. Denn die Anderen, so Künast, seien im Rennen um kulturelle Hegemonie längst auf dem Weg.

Mehr zur Grünen Akademie

Dieser Beitrag ist auf die Arbeit der Grünen Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung zurückzuführen. Die Grüne Akademie ist ein Netzwerk von Wissenschaftler_innen und an Theorie interessierten Politiker_innen, die sich mit grundlegenden gesellschaftlichen Fragen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik auseinandersetzen.