Zum 20. Todestag von Heinrich Böll

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Von Ralf Fücks

19. März 2008
Zwanzig Jahre sind nach dem Tod Heinrich Bölls 1985 vergangen. Zwanzig Jahre, in denen sich vieles von dem, was für Heinrich Böll noch zu den  Bedingungen gehörte, unter denen er schrieb und in denen er lebte, grundsätzlich gewandelt hat: Es gibt die rheinische Republik nicht mehr, in der er schrieb; die Sowjetunion, die er mehrmals bereiste, existiert nicht mehr, und die ideologischpolitischen Kämpfe, an denen er beteiligt war und deren Gegenstand er wurde, sind von anderen abgelöst worden.


Wir bewegen uns also von vornherein in einem Spannungsfeld zwischen Geschichte und Aktualität, lesen wir heute Texte von Böll oder sprechen über ihren Autor. Das heißt: einiges fällt ganz auf die Seite eines gesellschafts- und literaturgeschichtlichen Rückblicks, anderes wirkt fort und ist der Grund dafür, dass Böll kein Fall fürs Literaturmuseum geworden ist.
Was Bölls Werk über die zeitbedingten Aspekte hinaus Bestand  verleiht und zugleich im Mittelpunkt seiner erzählerischen und essayistischen Arbeiten steht,  das ist der Anspruch auf Autonomie, auf eine freie, individuell begründete Parteilichkeit, die sich den medial und politisch vorgeformten Denkbahnen entzieht. In genau diesem Sinn war und blieb Böll ein Non-Konformist. Ich füge hinzu, dass Autonomie für Böll nicht die Fiktion eines von allen historischen, sozialen und moralischen Bindungen unabhängigen Individuums bedeutet: Individualität war für Böll ein Moment versammelter Widersprüchlichkeit. Keiner war für ihn ganz »integer«, ganz »ideal«, und keiner  gänzlich »ohne Moral« und »Menschlichkeit«.
Gerade die Romane Heinrich Bölls insistieren hierauf mit Figuren wie Hans Schnier in Ansichten eines Clowns oder Leni Gruyten in Gruppenbild mit Dame. Sie verweisen auf diesen in der Individualität fundierten Eigensinn (der Widersprüchlichkeit einschließt) und seinen Widerstand gegen eine von bürokratischer Routine und Gewinnstreben  bestimmten Gegenwart.
Sie zeigen auf ihre Art das, was Heinrich Böll mit Blick auf seine eigene Schreibposition in den 1964 gehaltenen Frankfurter Vorlesungen erläuterte: im Denken und Sprechen zwar an die eigene Zeit »gebunden«, ihr aber nicht »unterworfen« zu sein.
Dieser Differenz von »gebunden – aber nicht unterworfen« und dem daraus resultierenden »Dazwischensein« entspringen auch Bölls öffentliche Stellungnahmen. 
Daraus bezogen sie ihre Wirkkraft, ihre politische Relevanz, obwohl oder gerade weil sie „nur“ die Stellungnahmen eines einzelnen waren, der in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung sprach.  In den  Worten Bölls: »Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, dass der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden« (Bekenntnis zur Trümmerliteratur; 1954). Und: »Dass Menschwerdung dann beginnt, wenn einer sich von der Truppe entfernt, diese Erfahrung gebe ich [...] unumwunden als Ratschlag an spätere Geschlechter« (Entfernung von der Truppe; 1964).
Als Heinrich Böll 1972 der Nobelpreis verliehen wurde und er im darauffolgenden Jahr seine Nobelpreisvorlesung in Stockholm hielt, entwickelte er vor seinen Hörern ebenfalls die Vorstellung eines »Dazwischenseins«, eines »Zwischenraums«, der stets zwischen einer Idee, einem Entwurf, einem Plan und ihren Verwirklichungen bleibt, »ein Rest« – wie er es nannte – »Unberechenbarkeit«.
Ich zitiere weiter: »Auch Staaten sind immer nur annä-hernd das, was sie zu sein vorgeben, und es kann keinen Staat geben, der nicht diesen Zwischenraum lässt zwi-schen der Verbalität seiner Verfassung und deren Verkörperung, einen Restraum, in dem Poesie und Widerstand wachsen – und hoffentlich gedeihen. [...] Wo kommen wir ohne diesen Zwischenraum aus, diesen Rest, den wir Ironie, den wir Poesie, den wir Gott, Fiktion oder Widerstand nennen können?«
Böll beharrte darauf, dass Literatur als eine der individuellen Vorstellungskraft entspringende Fiktion ihre eigene Wahrheit hat – und damit einen Gegenentwurf zur Gegenwart formuliert. Er war vernünftig, aber kein Rationalist, dem sich die Welt als ein restlos berechenbares und beherrschbares Räderwerk darstellt. Dazu gehörte sein Glaube an den in keiner Definition zu fassenden Gott ebenso wie seine jegliche Setzung der Vernunft wie des Glaubens brechende Ironie. Poesie, ein sehr persönlich gefärbter Glaube und Ironie waren für ihn Formen der Freiheit gegenüber jeder die Dinge abschließend interpretieren wollenden, absolute Gültigkeit beanspruchenden Instanz.
Diese Freiheit hat er sich nicht nur selbst genommen: diese Freiheit zu nehmen, dazu haben seine Texte aufgefordert.
Daran zu erinnern, kann auch heute nicht schaden.

Ich danke Jochen Schubert, Mitarbeiter der Stiftung und Mitherausgeber der Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls, für die Anregungen zu diesem Text.

Ralf Fücks ist Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.