Vergewaltigung ist die billigste Waffe

Kommentar

Trotz der hohen Zahl an Vergewaltigungen, der Weiterentwicklung der Rechtsprechung, der Verurteilungen vor internationalen, nationalen, lokalen Gerichten: von Reparationen, Anerkennung als Opfer, Entschädigung, sind die meisten betroffenen Frauen weit entfernt.

mehrere Spielzeugsoldaten liegen auf einem Tuch

Ajna hat es geschafft: ein Gesetz zu ändern in Bosnien und Herzegowina. Ajna Jusić ist Gründerin und Vorsitzende der Organisation „Vergessene Kinder des Krieges“. Sie selbst ist so ein Kind. Ihre Mutter wurde im Krieg vergewaltigt. Das hat Ajna erst als Teenagerin herausgefunden, ebenso wie, dass sie das Kind aus dieser Vergewaltigung ist. Seit Jahren nun spricht sie öffentlich darüber, hält Vorträge, Workshops, diskutiert mit anderen Jugendlichen, hat einen Verein gegründet und kämpft dafür, dass Gesetze und Vorschriften geändert werden – zum Beispiel jene, die vorschreiben, dass man immer und immer wieder, ob Eintrag ins Klassenbuch oder Bankkonteneröffnungen, ob Anträge für Stipendien oder den Personalausweis den Namen des Vaters angeben muss. Nun ist es der Organisation „Vergessene Kinder des Krieges“ gemeinsam mit „TRIAL International BiH“ gelungen, im Distrikt Brčko erfolgreich für die Verabschiedung eines Gesetzes zu lobbyieren, das Kinder aus Kriegsvergewaltigungen als zivile Kriegsopfer anerkennt, unabhängig davon, ob deren Mütter diesen Status erlangt haben oder nicht.

Statistiken, wie viele Frauen – und Männer – im Krieg zwischen 1992 und 1995 in Bosnien und Herzegowina vergewaltigt wurden, gibt es keine. Die Schätzungen reichen von 20 000 bis 50 000, wobei die meisten Publikationen sich auf 20 000 Opfer beziehen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) hat Vergewaltigungen im Krieg als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord und Folter qualifiziert. Es muss keine Gewaltanwendung oder Androhung in jedem Einzelfall nachgewiesen werden, ebenso wenig muss der Krieg, gewaltsamer Konflikt kausal mit der sexuellen Gewalt zusammenhängen. Das UN-Gericht hat somit dazu beigetragen, die Rechtsprechung und -praxis im Bereich sexueller Gewalt in Konflikten zu schärfen und im Sinne der Opfer voranzubringen. Seit 2002 kann der Internationale Strafgerichtshof (ICC – International Criminal Court) konfliktbezogene sexuelle Gewalt (CRSV - conflict-related sexual violence ) verfolgen – Vergewaltigung gilt nach dem Statut sowohl als Kriegsverbrechen als auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Dass auch in der Ukraine sexuelle Gewalt im Krieg eingesetzt wird, davon ist Ajna fest überzeugt. Es sei die billigste Waffe und die am leichtesten verfügbare, sagt sie im Interview.

Trotz der hohen Zahl an Vergewaltigungen, der Weiterentwicklung der Rechtsprechung, der Verurteilungen vor internationalen, nationalen, lokalen Gerichten: von Reparationen, Anerkennung als Opfer, Entschädigung, sind die meisten betroffenen Frauen weit entfernt. In Bosnien und Herzegowina haben knapp 1000 Frauen den Status als zivile Opfer des Krieges erlangt, etwas mehr als 800 von ihnen in der Föderation und gut 100 in der Republika Srpska (RS), beides administrative Einheiten des Staates. Zum einen sind die bürokratischen Hürden hoch, zum anderen fürchten viele eine Stigmatisierung, wenn ihr Umfeld, Nachbarn, Familie, Partner, erfahren würden, dass sie im Krieg vergewaltigt wurden. Dass Vergewaltigung überhaupt als ein Grund gilt, um als ziviles Kriegsopfer anerkannt zu werden, war ein langer Kampf. Neben lokalen und internationalen Organisationen hat ihn auch die Filmemacherin Jasmila Žbanić geführt, deren Film „Esmas Geheimnis“ (im Original: Grbavica) auf Ajnas Geschichte basiert und auf der Berlinale 2006 den Goldenen Bären gewann. Diese breite, auch internationale Aufmerksamkeit hat in der Föderation dazu geführt, dass auch Überlebende von Vergewaltigung als zivile Kriegsopfer anerkannt wurden und eine monatliche Geldleistung beantragen können. Ähnliche Regelungen gibt es auch in der Republika Srpska, allerdings mit anderen Kriterien. Während in der Republika Srpska Kuraufenthalte zu den Leistungen gehören, gibt es in Brčko nicht einmal den Anspruch auf psychologische Behandlung. Eine Regelung auf Staatsebene gibt es nicht – wie es so vieles auf Staatsebene in Bosnien und Herzegowina nicht gibt. Kein Gesundheitsministerium, das in der schlimmsten Zeit der Corona-Pandemie Impfstoff hätte bestellen können, kein Landwirtschaftsministerium, das sich in Klima-, Energie- und Sicherheitskrisen um Lebensmittelsicherheit kümmert, kein Umweltschutzministerium. Kein Jugend-, Familien-, Seniorenministerium. Stattdessen zwei Entitäten, die Föderation und Republika Srpska, sowie den Diskrikt Brčko, weitere Verwaltungseinheiten – zehn Kantone – in der Föderation, mit je eigenen Gesetzen und Regelungen. Mit ebenfalls je eigenen Regelungen in Strafverfahren. Seit März 2021 ist es in der Republika Srpska verboten, in Fällen von sexueller Gewalt nach dem sexuellen Verhalten von Opfern zu fragen. TRIAL hat lange für diese Regelung lobbyiert und tut das weiterhin, denn in der Föderation und im Distrikt Brčko steht sie noch aus – hier müssen Frauen weiter Rede und Antwort zu ihrer Lebensweise stehen.

Dass der Staat so schwach ist und alles zwei-, drei- oder noch mehr geteilt ist, dass Staat, Institutionen und Gesellschaft fragmentiert sind, ist eine Folge des Krieges bzw. der Nachkriegsordnung. Die Verfassung ist ein Anhang im Daytoner Friedensvertrag, der als Waffenstillstandsabkommen erfolgreich war, aber als Grundlage für den Aufbau eines Systems, das sich um das Wohlergehen aller Bürger*innen sorgt, ungeeignet ist. Die Möglichkeiten der ethnischen und territorialen Aufteilung, die Möglichkeiten der Blockaden und Missbrauch von „nationalen Interessen“ sind riesig, was die ethnokratischen Parteien und Politiker*innen zu ihrem Machtausbau ausgenutzt haben. In den letzten Jahren und Monaten wurde immer häufiger und lauter betont, dass Bosnien und Herzegowina ein Staat mit „drei konstituierenden Völkern“ ist – und kein Staat, in dem Bürger*innen leben und als solche politische Rechte haben, diese werden vor allem den Völkern zugestanden. In einem solchen politisch antagonistischen und sich jeweils ab- und ausgrenzenden Umfeld werden die Überlebenden wieder zu Objekten, zu Mitteln: „unsere“ Opfer gegen „ihre“, auf „unserer“ Seite nur Opfer, auf der anderen nur Täter. Ajna Jusić und alle Mitglieder der Organisation „Vergessene Kinder des Krieges“, die sich unterschiedlichen Volksgruppen zugehörig fühlen, wehren sich gegen solche nationalistischen Zuschreibungen. „Es tut mir sehr leid, dass in den vergangen 27 Jahren die Idee, dass nur bosniakische Frauen vergewaltigt wurden, so betont wurde, ebenso wie, dass nur Serben vergewaltigt haben – das stimmt nicht.“, sagt Ajna Jusić, deren Mutter von einem HVO-Angehörigen (bosnisch-kroatische Kräfte, Anm.) vergewaltigt wurde. Es ginge um Macht, um patriarchale Strukturen.

Die Fragmentierung und Polarisierung in Bosnien und Herzegowina sei auch ein Grund dafür, dass es ihnen noch nicht wirklich gelungen ist, in der RS ähnlich präsent zu sein wie in der Föderation und in Brčko. „Dafür entschuldige ich mich bei allen Überlebenden. Wir werden in nächster Zeit als Organisation maximale Anstrengungen unternehmen, um dort zu arbeiten.“.

Dass noch viel Arbeit nötig ist, stellt auch eine Studie der Organisationen TRIAL, Vive Žene und Global Survivors Fund zu Möglichkeiten von Reparationen für Überlebende von konfliktbezogener sexueller Gewalt fest. Auch aufgrund der fragmentierten Struktur des Staates sei BiH noch weit davon entfernt, angemessene, zeitnahe und effektive Wiedergutmachung an Überlebende sexueller Gewalt zu leisten, gemessen an internationalen Standards.

Ajna Jusić, ihre Organisation, TRIAL und all die anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen werden wohl noch länger kämpfen müssen, bis staatliche Institutionen sich um ihre Bürger*innen kümmern.