Vision: Lebenswerte Heimat für Millionen

Siedlung Iwaya, Lagos
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Ein Leben auf und mit dem Wasser: Häuser in der Siedlung Iwaya

In Lagos fehlen fünf Millionen Wohnungen. Während die Regierung bei luxuriösen Bauvorhaben reges Engagement zeigt, entsteht für die ärmere Bevölkerung kaum bezahlbarer und adäquater Wohnraum.

Chaotisch und voller Gegensätze, hässlich und dreckig: Nigerias Millionenstadt Lagos befindet sich im Wandel, doch vielerorts sieht es noch immer trostlos aus. Gewiss, die Ankunft in Lagos gleicht nicht mehr "einem Abstieg in die Hölle", wie es der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka einst in seinem Buch Abstieg in die Barbarei beschrieb. Lagos arbeitet an sich und versucht für Millionen Menschen eine lebenswerte Heimat zu werden.

Nicht alle Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt profitieren gleichermaßen von den vielversprechenden Bauvorhaben oder längst überfälligen Investitionen in die Infrastruktur. Es hat sich in vielen Stadtvierteln etwas getan, beispielsweise in den anspruchsvolleren Wohngebieten der Mittelschicht wie Surulere und Yaba. Oder in Vierteln, in denen meist Intellektuelle leben. Mancherorts sind Verbesserungen im Verkehr eingeführt worden, Busse verkehren auf den für sie reservierten Fahrspuren – das verringert das Verkehrschaos zumindest ein bisschen. Positiv ist auch, dass die Stadtbahn bald Badagry und Lagos verbinden wird. Viele Abwasserkanäle und Straßen im ganzen Stadtgebiet wurden bereits wieder instandgesetzt. Und am Küstenabschnitt bei Bar Beach wird gerade das wohl spektakulärste Bauprojekt auf dem afrikanischen Kontinent errichtet: Mit Eko Atlantic City entsteht direkt am Atlantischen Ozean eine komplett neue Stadt.

Wenig Wohnraum für Millionen Menschen

Warum sehen viele Wohngebiete in Lagos trotzdem immer noch so heruntergekommen aus? Dafür gibt es drei Antworten: Schuld daran sind die Korruption, die Gier und die rasante Bevölkerungszunahme.

In Lagos fehlen rund fünf Millionen Wohnungen. Dies ermittelte 2010 die in Lagos gegründete NGO Urban Spaces Innovation, die sich für bezahlbaren und adäquaten Wohnraum für die ärmere Bevölkerung einsetzt. Im gesamten Land fehlen gar 18 Millionen Wohnungen. Wenn solche Zahlen öffentlich werden, unternimmt die Regierung meist nichts Wesentliches, um das Problem zu lösen: Sie lässt 1.000 bis 3.000 Häuser in weit voneinander entfernt liegenden Gebieten bauen, ohne wirklich etwas gegen den Notstand zu unternehmen. Genau diese Regierung ist jedoch in der Lage, private Investoren für ein ambitioniertes Projekt wie Eko Atlantic City zu gewinnen, das bis zu 500.000 Menschen – aber nur Superreiche, um genau zu sein – beherbergen soll. Sie ist aber nicht bereit, für einen Großteil der Bevölkerung angemessene, lebenswerte Siedlungen zu schaffen.

Auch wenn immer mehr Menschen eine Wohnung suchen: Aus dieser Situation können Möglichkeiten entstehen, die positiv genutzt werden können. Wie das genau funktionieren kann, stellte sich bei einem Forum und weiteren Treffen der Heinrich-Böll-Stiftung in den Jahren 2012 und 2013 heraus, die in Zusammenarbeit mit den Fachbereichen Architektur sowie Raum- und Stadtplanung der Universität Lagos stattfand. Ziel war es, Ideen und Strategien zur Überschwemmungsprävention zu erörtern und gleichzeitig zu prüfen, ob sie für Kommunen praktikabel sind. Dies geschah am Beispiel der Kommune Makoko, einem Ort mit durchschnittlich geringen Einkommen, und der Kommune Amuwo Odofin, wo Menschen mit durchschnittlich mittleren Einkommen leben.

Die Arbeit zu Makoko war ein Folgeprojekt, das aus einem früheren Engagement für die Siedlung Makoko, die zu einem großen Teil in der Lagune liegt, entstanden war, denn die Menschen dort hatten Dramatisches erlebt: Im Jahr 2012 wollte die Regierung von Lagos State die Bevölkerung von Makoko gewaltsam evakuieren. Dabei kam ein Mensch zu Tode. Die Vertreibungen dienten dem Ziel der Regierung, Slumbewohner umzusiedeln, damit die Region frei wird für hochkarätige Immobilienprojekte am Wasser. Diese könnten dann weitaus höhere Preise auf dem Wohnungsmarkt erzielen. Der Regierung sieht in den Menschen Makokos Illegale. Zumindest in jenen, die den Verlauf des Kanals beeinträchtigen, ihre Häuser in der Lagune ohne Rechtsanspruch gebaut oder die eine Straftat begangen haben, weil sie – so die Auslegung – städtisches Gemeingut verschandelt hätten. Die Bewohnerinnen und Bewohner Makokos ihrerseits misstrauen der Regierung, da sie in ständiger Sorge leben, vertrieben oder verfolgt zu werden.

Präventionsmaßnahmen für gefährdete Siedlungen

Makoko überstand die Zerstörung nur, weil sich zivilgesellschaftliche Gruppen sowie Expertinnen und Experten für die Gemeinde eingesetzt hatten und die Menschen Widerstand leisteten. Federführend war die Menschenrechtsorganisation SERAC (Social and Economic Rights Action Centre), sie wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung in Nigeria unterstützt. Gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern erstellte die Gruppe ein umfassendes und groß angelegtes Entwicklungsprojekt für die Gemeinden Makoko und Iwaya – den sogenannten „Makoko-Iwaya Waterfront Regeneration Plan“.

In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, dass Makoko aufgrund seiner besonderen Lage wie eine Art Sammelbecken für die Wassermassen aus den benachbarten Gemeinden wirkt. Der Bau vieler Häuser an Kanälen und auf Dämmen und Deichen verhindert aber, dass Regenwasser zügig abfließen kann. Deswegen erleben die Menschen in Makoko während der Regenzeit heftige Sturzfluten und Überschwemmungen.

Nach den Treffen und Workshops entwickelte sich nicht nur eine aktive Teilhabe der Menschen vor Ort, sondern auch der Wunsch einer vernünftigen Zusammenarbeit mit der Regierung. Die letztlich von allen unterstützte Idee sieht vor, dass Gebäude und Strukturen, die den Wasserlauf behindern, abgerissen werden müssen. Zusätzlich sollten u.a. zusätzliche Überschwemmungsgebiete eingerichtet werden, damit das Wasser ausweichen kann. Positiv aufgenommen wurde auch der Vorschlag, Gemüsegärten an den Ufern anzulegen und Transportwege ohne motorisierte Verkehrsmittel einzurichten, damit Handel entstehen kann und sich für die Gemeindemitglieder neue Erwerbsmöglichkeiten eröffnen.

Der Vorschlag, Stadtgärten an den Ufern der Abwasserkanäle anzulegen, gehört wohl zu den wichtigsten Ideen der Initiative für Makoko. Die Vorteile für den Umweltschutz, die wirtschaftlichen Möglichkeiten sowie das Anlegen einer „lebendigen Mauer“ erschienen allen zielführend. Doch so schön die Lösungen auch sein mögen – ohne staatliche Hilfe wird sich davon nicht sehr viel realisieren lassen.

An den Workshops und Foren, die im Anschluss an die Erstellung des „Makoko-Iwaya Waterfront Regeneration Plan“ stattgefunden haben, nahmen auch Vertreter der Gemeinde Amuwo Odofin teil. Die Kommune Amuwo Odofin liegt direkt an der Autobahn zwischen Lagos und der Republik Benin. Festac, Satellite Town und Jakande sind die wohl bekanntesten Mittelschicht-Wohngebiete der Gegend. Die größten Schwierigkeiten haben die Gemeinden Festac und Jakande mit gedankenloser Müllentsorgung, dem schlechten Zustand der Straßen und der Abwasseranlagen. Und auch hier das Problem: Häuser stehen oft da, wo sie eigentlich nicht hingehören: auf Deichen oder in Kanalbecken.

Bevölkerung beim Aufbau von Infrastrukturen beteiligen

Für die Gemeinden wurde deutlich, dass viele Zuständigkeiten nicht eindeutig geregelt sind. Niemandem weiß, welche Behörde sich um die Instandhaltung der Abwassersysteme kümmert: die Landesregierung von Lagos, die Bundes-Behörden oder die kommunale Verwaltung. Dies führt in der Bevölkerung immer wieder zu Frust, denn wenn es darum geht, Steuern, Abgaben oder rechtliche Zuständigkeiten einzufordern, sind die Bürokraten recht flink. Sollen aber öffentliche Güter instand gehalten werden, gehen die Dinge einen deutlich langsameren Gang.

Anders als in Makoko, wo es von Anfang an nie ernsthafte Pläne gab, eine Infrastruktur oder ein funktionierendes Entsorgungssystem einzuführen, waren die Siedlungen von Amuwo Odofin von Anfang an von der Regierung geplante Kommunen mit einem funktionstüchtigen Abwassersystem. Doch Nachlässigkeit hat die Infrastruktur in einen bedauerlichen Zustand versetzt, so dass sie mittlerweile mit den schlimmsten Gegenden in Makoko mithalten können.

Der Architekt Michael Temidayo Johnson, der die Treffen betreute, stellt deswegen nachhaltige Kanalisationssysteme in den Mittelpunkt zukünftiger Bemühungen – und Partizipation: „Es wird jedoch ebenfalls nötig sein, dauerhaft für eine sozial-administrative Teilnahme der Bevölkerung zu sorgen. Die Menschen müssen ein Bewusstsein für die Systeme entwickeln, sie müssen geschult und aufgeklärt werden.“ Rechtliche und politische Rahmenbedingungen könnten die Durchführung und Instandhaltung der Infrastrukturen dauerhaft sichern. Um auch die Menschen dafür zu motivieren, könnten Anreize durch Vergünstigungen auf kommunaler Ebene geschaffen werden. Zusätzlich könnten Regenrückhaltebecken, poröse Straßenbeläge und ein alternatives Abfall- und Entsorgungssystem Abhilfe schaffen. Johnsons Überlegungen machen abermals deutlich, dass die Bevölkerung involviert und an dem Aufbau solcher Infrastrukturen beteiligt werden muss.

Die Schwimmenden Schulen von Makoko

Eine weiteres Projekt, dass aus dem Widerstand gegen die Zwangsräumungen in Makoko entstanden war, ist die Schwimmende Schule von Makoko. Sie wurde von einem privaten Architekturbüro als ein soziales Projekt initiiert und von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der Heinrich-Böll-Stiftung mit einer Forschungsfinanzierung unterstützt. Auch hier zeigte sich, dass Teilhabe und Partizipation erfolgreich sein können, wenn die Regierung das Vorhaben unterstützt. Der Architekt Kunle Adeyemi ist sogar überzeugt, dass die Bewohner von Makoko Teile des Projekts auch ohne die Hilfe der Regierung realisiert hätten. Sie hätten bewiesen, dass sie durchaus in der Lage waren, sich selbst zu organisieren und zusammenzuarbeiten.

Das Engagement in den Gemeinden von Makoko und Amuwo Odofin wurde in einem abschließenden Workshop, der von der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert worden war, fortgesetzt. Neben Gemeindemitgliedern und Vertreterinnen und Vertretern der NGOs kamen auch Repräsentanten der verschiedenen Regierungsministerien und hörten sich die Vorschläge zur Stadterneuerung an, die die Architektenbüros Urban Spaces Innovation und Fabulous Urban erarbeitet hatten. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind überzeugt, dass sich ihre Siedlung in eine lebenswerte, nachhaltige und wirtschaftlich attraktive Gegend transformieren lässt. Offen bleibt jedoch, ob die Regierungsvertreter sich für die Vorschläge stark machen und Kooperationspartner sowie Ressourcen beschaffen. Für das Bauvorhaben Eko Atlantik City zumindest konnten war ihnen das gelungen.

 

Der Originaltext stammt aus der Publikation "Lagos – A Climate Resilient Megacity" und wurde für dieses Dossier von Jelena Nikolic aus dem Englischen übersetzt und aufbereitet.