Seenotrettung und Flüchtlingsschutz sind alternativlos

Kommentar

Leben retten ist keine Option, sondern eine humanitäre, politische und rechtliche Verpflichtung. 

Allein im Monat Juni dieses Jahres sind mehr als 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken – die Hälfte der bisher insgesamt im Jahr 2018 auf der Fluchtroute gestorbenen Menschen. Darunter zahlreiche Babys und Kleinkinder. Im gleichen Zeitraum wurde in Europa heftig darüber gestritten, ob das Leben retten „legal“ sei. Nicht nur Italien und Malta, die die Einfahrt in ihre Häfen verweigern, sondern auch andere europäische Länder wollen weiterhin hart bleiben. Hilfsorganisationen, die im Mittelmeer lebensrettende medizinische und humanitäre Hilfe anbieten, werden von europäischen Regierungen massiv behindert.

Leben retten ist aber keine Option, sondern eine humanitäre, politische und rechtliche Verpflichtung. Anstatt selbst gezielte Such- und Rettungsaktivitäten zu starten, bekämpfen die europäischen Regierungen zivilgesellschaftliche Rettungsaktionen mit allen politischen und juristischen Mitteln. Der Prozess gegen Claus-Peter Reisch, Kapitän des Dresdner Rettungsschiffes „Lifeline“, ist lediglich ein Beispiel unter vielen. In den vergangenen Wochen und Jahren mussten viele, die wie er lebensrettende Maßnahmen durchführen, die Härte der europäischen Flüchtlingspolitik spüren.

Die Verantwortungslosigkeit europäischer Regierungen

Humanitäre Hilfsorganisationen in die Nähe von kriminellen Schleppernetzwerken zu bringen, ist nichts anderes als populistisch und diffamierend. Zivilgesellschaftliche Rettungsaktionen sind eine Reaktion auf das Massensterben im Mittelmeer. Nach dem tragischen Schiffsunglück am 3. Oktober 2013 direkt vor der Küste von Lampedusa hat Italien die einjährige Rettungsoperation "Mare Nostrum" gestartet, bei dem über 150.000 Leben gerettet werden konnten. Auf die einjährige italienische Rettungsaktion reagierte Europa mit „Triton“, deren Hauptziel die Abschreckung von Flüchtlingen ist. Private Rettungsschiffe sind ein Ergebnis der Verantwortungslosigkeit europäischer Regierungen. Natürlich würde weder damals noch heute irgend jemand auf die Idee kommen, "Mare Nostrum" in die Nähe von kriminellen Schleppern zu rücken, denn Italien hat damals so gehandelt hat, wie eine verantwortungsbewusste Regierung handeln muss. 

In den letzten Jahren ist die Zahl der in Deutschland und Europa ankommenden Flüchtlinge kontinuierlich gesunken. Eine Konsequenz der Abschottungspolitik an den Außengrenzen Europas und der Mitgliedsstaaten. Ungeachtet dessen wetteifern europäische Regierungschefs und Innenminister um die härteste Politik gegen Schutzsuchende und Migrantinnen und Migranten. Auch trotz der Tatsache, dass in libyschen Internierungslagern Flüchtlinge und Migrant/innen brutaler Gewalt, Vergewaltigungen und Ausbeutung ausgesetzt sind, rüstet und bildet Europa die libysche Küstenwache aus, um jegliche Flucht nach Europa zu unterbinden.

Nicht Integration derer, die in den letzten Jahren angekommen sind, beherrscht die politische Agenda und die Diskussionen in den Medien, sondern die Weiterverschärfung des Asylrechts, die Einrichtung von Sammellagern sowie die Verstärkung des Grenzschutzes. Populisten auf Stimmenfang und Talkshows auf Quotenfang heizen die Stimmung gegen Flüchtlinge weiter an.

Fluchtursachen sind vielfältig und komplex

Natürlich ist die Liste der Themen lang, die in Zusammenhang mit der europäischen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik diskutiert werden müssen. Allen voran ist die Kooperation und Lastenverteilung innerhalb der Europäischen Union zu nennen. Die Aufnahme- und Integrationspolitik in den einzelnen europäischen Ländern muss geregelt werden und es muss in langfristige Perspektiven in den Herkunftsstaaten investiert werden.

Wir benötigen ehrliche Diskussionen über die Push- und Pull-Faktoren, wenn es um die Gründe für Flucht und Migration geht. „Fluchtursachenbekämpfung“ lautet das Modewort, welches viele Politikerinnen und Politiker heute gern als Ziel nennen. Doch nicht die Menschen sollen bekämpft werden, wie es heute zum politischen Alltag europäischer Politik gehört, sondern die Gründe, die Menschen um ihre Würde, Rechte, Perspektiven und Lebensgrundlagen berauben.

Autoritäre, undemokratische und korrupte Regime in vielen Herkunftsländern sind genauso verantwortlich wie die Untätigkeit Europas und der Weltgemeinschaft für die anhaltende Armut und kriegerische Auseinandersetzungen, die weltweit Millionen von Menschen aus ihren Heimatländern vertreiben. Hinzu kommen die Fluchtursachen, die auf Faktoren beruhen wie dem globalen Klimawandel und der Umweltzerstörung, an denen der westliche Wohlstand maßgeblich beteiligt ist, dem Geschäft mit dem Krieg, an dem viele europäische Staaten und die Bundesrepublik verdienen, den Agrarsubventionen Europas und dem Protektionismus, der einem freien Zugang zum europäischen Markt vorgezogen wird.

Darüber müssen wir offen und ehrlich reden. Das kann aber nicht auf dem Rücken der ertrinkenden Menschen im Mittelmeer diskutiert werden. Seenotrettung und Flüchtlingsschutz sind alternativlos.