Liebe X, lieber X

Briefe als Zeitdiagnose

"Der Staat schnarcht, sagt K, oder wie ist es?" Für die Veranstaltung „‘Ich wünschte ihren Augen Laserstrahlen‘ – Zeitdiagnose Böll '68“ hat die Schriftstellerin Heike Geißler eine Reihe von Briefen mit Bezug zu den rassistischen Protesten in Chemnitz im Spätsommer 2018 verfasst.

Heike Geißler in der Heinrich-Böll-Stiftung
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Die Schriftstellerin Heike Geißler am 6. September 2018 in der Heinrich-Böll-Stiftung

Liebe X, lieber X,

das sind immer noch die müden Tage, das ist immer noch so, dass wir keiner Demonstration zu nah kommen wollen, dass wir eher rückwärts gehen als vorwärts, dass wir uns entfernen, während wir uns gleichzeitig annähern. Wenn wir noch weiter rückwärts gehen, sind wir wieder 13, und es ist nicht dieses Jahr, und es ist nicht diese Demonstration, die wir besuchen, sondern eine andere, auf der wir irgendwas riefen, nur was? Keine Erinnerung mehr an den politischen Teil. Erinnerungen nur an das Ringen mit der Mutter, die die Teilnahme an der Demonstration verboten hatte und an das Losgehen, Sich-Widersetzen, das Abstreifen und Ablehnen der Mutterangst.

Wir haben überall geklingelt, auf alle Klingelknöpfe am Streckenrand gedrückt, wir wollten eine Bewegung zusammenklingeln, was nicht gelang. Das kommt mir, sage ich, jetzt so vor, als hätten wir gerufen: Leute nehmt die Wäsche ab, es regnet blaue Tinte.

Das war die Pubertät, sagt K. Aber jetzt, sagt sie, ist das schon ein bisschen anders. Wir gehen eben immer noch rückwärts, und ich weiß nicht, wohin das führen soll, wir stecken dann später vorsichtig die Köpfe in die Gegenwart: Wir stehen hier ja nur aus Pflichtgefühl herum, wir machen das hier wie den Abwasch, wir hängen hier öffentlich Wäsche auf, und: ach ja, sage ich, auf der Wäscheleine im Hof hingen heute früh zwischen Bettlaken, Hand- und Betttüchern zwei Smileykopfkissen. Was wollen uns die Smileys sagen? Ich fotografierte das und stelle fest, ich halte jetzt alles für eine Botschaft, ich lese jetzt auch den Hinterhof. Ich rufe Guten Morgen in die Küche und frage: Was hat der Hinterhof geschrieben?

Die Autorin

Heike Geißler, geboren 1977 in Riesa, aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie lebt in Leipzig. Von ihr sind erschienen: der Roman Rosa (DVA, 2002), die Erzählung Nichts, was tragisch wäre (DVA, 2008), das illustrierte Kinderbuch Emma und Pferd Beere (Lubok, 2009), der Reportage-Essay-Roman Saisonarbeit (Edition Volte, Spector Books, 2014), das Fragenheft Fragen für alle (2016) und die Arbeit zum Geld mani bucate money fest (2016). 2016 war sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo.

Der Reichsdeutsche, sagt K, hat jedenfalls immer noch nichts Neues auf seinen BMW geschrieben, da steht immer noch nur: Lieber ein Wolf Odins als ein Lamm Gottes. Wir haben sein Auto ausgelesen, aber wir können nicht daran vorbeigehen und es nicht lesen.

Eines Tages, sagen wir, kommunizieren wir zurück, dann texten wir alle mit Text zu, mit hochaktivem Text, perfide und wirksam, wir sind jetzt im Retreat, das wollen wir doch mal hoffen, in Klausur, und kommen wortreich zurück.

Wann schreibt Ihr eigentlich mal?

*

Liebe X, lieber X,

das gebrochene Herz, sagt K, und wir müssen lachen. Aber ja, durchaus, es ist uns immer noch ernst mit diesem gebrochenen Herzen. Wir laufen ja von Pontius zu Pilatus mit diesem gebrochenen Herzen und zeigen es vor.

Das öffentliche Bekenntnis steht noch aus. Guten Tag, mein Name ist soundso und mir wurde von der internationalen, europäischen und deutschen Politik das Herz gebrochen. Ich bitte nun dringend um eine Änderung der internationalen, europäischen und deutschen Politik, da mein gebrochenes Herz der Schonung bedarf. Wenn Sie jetzt also bitte mal was machen können?

Wir stehen mit einem Pathos in uns herum, sehen aber gelassen aus. Wir stehen uns hier schon wieder die Beine in den Bauch. Und wenn der Verdacht der Gegenseite nun stimmte, dass wir hier bezahlt werden, vom Staatsschutz oder von wem auch immer, dann wäre es in Ordnung. Dann würden wir also nachher unsere Rechnung schreiben.

Sehr geehrter Staatsschutz, für die von Ihnen beauftragte Teilnahme an der Demonstration am 1. September in Chemnitz berechne ich pauschal Euro 750,-

Im Betrag enthalten sind folgende Leistungen: An- und Abreise, geordnetes Bewegen zum Versammlungspunkt, Kontaktaufnahme zu einer Kleingruppe aus Berlin und Leipzig, Erstellen von umfangreichem Foto- und Tonmaterial, das Anregen von Gesprächen zur Erforschung der Stimmung, deeskalierende Kleinhandlungen, das vorsichtige Erkunden der Gegenseite als neutrale Besucher*innen der Stadt, der allezeit freundliche Umgang mit der Polizei.

Sonderposten 1. Das Entfernen der Limonadeflaschen unter den Rädern des am Veranstaltungsort geparkten Mannschaftsbusses der Polizei, die beim Anfahren zersplittert wären und nicht den Reifen zerstört, sondern Veranstaltungsteilnehmer*innen getroffen hätten.

Sonderposten 2: Übernachtung in einer Suite im Dorint mit Blick auf den Veranstaltungsort der Gegenseite, für einen besseren Überblick.

Dazu die volle Unterstützung von C aus Berlin, die sagt: Jetzt bitte keine Stilkritik im Widerstand. Und Katy, die schreibt: „Ich meine, das ist jetzt ein bisschen wie bei Anais Nin: Die Nazis sind einmarschiert. Habe mir einen neuen Hut gekauft.“

Wir schreiben unsere Rechnung auf die Straße, sozusagen, wir tragen diese Rechnung immer mit uns herum, wir haben den Eindruck, ein bisschen zu viel zu arbeiten, wir sind für zu viele Einsätze gebucht, und überhaupt stehen Zahlungen von über drei Jahren aus. Dieser Staat ruht sich auf unserem Pflichtbewusstsein aus.

Der Staat schnarcht, sagt K, oder wie ist es? Der Staat rastet in weiter Entfernung, liest sich mal wieder fest im Wirtschaftsteil, und ruft hinter der Zeitung hervor: Ich komme gleich, Schatz, kannst du grad mal nach den Kindern schauen, sie machen so einen Lärm, und ich brauche wirklich noch ein bisschen Ruhe.

Wir müssen, sagt K, auf jeden Fall die Frau des Staates mit ins Boot holen, wenn wir bessere Arbeitsbedingungen haben wollen. Aber finde die mal!

*

Liebe X, lieber X,

der Auftritt, das öffentliche Erscheinen als eine Fiktion, bitteschön, das Ich nicht als Ich, das Ich als etwas, das sich schon in eine Inszenierung gesetzt hat, das Ich, das immerzu und immer noch darauf vertraut, dass alle ihre Rollen spielen, dass alle hier eine Bühne nutzen und sich danach im Backstagebereich begegnen und sagen: interessante Nummer, lass uns doch darüber noch einmal reden, da kann man doch was draus machen.

Übrigens habe ich es mir angewöhnt, die mir gegenüberstehenden Polizisten zu grüßen und sie zu verabschieden. Und ich sehe das erleichterte Aufatmen des Polizisten, als ein Streit beigelegt ist, als der Demonstrant, der über die Absperrung geklettert war, wieder hinter der Absperrung stand.

Wir rufen erst einmal nichts, aber dann rufen wir doch, ach ja, die üblichen Dinge, wir mäkeln rum, jeder Ruf ist eine Kritik am Ruf, eine Anmerkung am Seitenrand: A für Ausdruck, I für Inhalt, und wir sind insgeheim noch immer neidisch auf diesen Coup, dem wir nichts entgegenzusetzen haben, diesem Coup, der Pegida gelang, nämlich eine Angst zu konstruieren, sie wie ein Plug-in in Köpfe zu installieren.

Die Angst vor der Islamisierung des Abendlandes, dieses offenbar windschnittige Produkt, das dann plötzlich alle zu haben schienen und haben wollten, ohne sich weiter darüber Gedanken gemacht zu haben, was genau es mit diesem Produkt auf sich hatte. Wie funktioniert es, wie wirkt es, welches Zubehör verlangt es? Wird es wirklich benötigt? Natürlich kann dieses Produkt gar nicht angeschafft werden, es wurde gratis verteilt. Die Angst vor der Islamisierung des Abendlandes war das Werbegeschenk der Pegida an alle. K sagt, das führt direkt zu Andrew Lewis und seiner Regel „Wenn du nicht bezahlst, bist du nicht Kunde – du bist das Produkt, das verkauft wird.“ Aber das, sagt sie, interessiert ja leider kein Schwein.

Wie unser Protest also aussehen könnte? Ich zeige K ein Produkt im Zaubershop, das wäre doch was, sage ich: „Das PORTABLE LEVITATION GIMMICK (P.L.G.) ist die perfekte Lösung für eine Schwebedarbietung an nahezu jedem Ort, den Sie sich vorstellen können. Außer dem schwarzen Koffer und der Plattform benötigen Sie nichts weiter.

Die Schwebe ist robust, selbstarbeitend und unauffällig in ihrer Erscheinung. Der Koffer kann auf der Plattform hin und her geschoben und geöffnet werden. Wenn der Koffer auf der Seite liegt, können Sie sogar Gegenstände für Ihre Show hieraus entnehmen. Optional bietet der Hersteller eine Tischshell für den Koffer an, sodass dieser wie eine Ablage wirkt. Die Mechanik arbeitet sehr leise und kann In- und Outdoor benutzt werden. Der Aufbau erfolgt ohne Werkzeuge und geht sehr einfach von der Hand.“ 

Wir sind also, das schreibe ich Euch in aller Deutlichkeit, immer für einen Spaß zu haben.

*

Liebe X, lieber X,

wir haben uns dann rangepirscht, wir sind da näher geschlichen, wir haben sie uns aus der Nähe angeschaut, wir sind hingepilgert wie zu einem Unglücksort, und wir wollen eigentlich niemals etwas dazu sagen. Wir wollen verstummen und uns weiter zurückziehen, wir reden uns beruhigend zu wie Kindern, davon hört man aber nichts. Und wir wussten noch gar nicht, dass die verkehrt herum getragene Deutschlandfahne nicht ein Fehler, das Missgeschick eines Dummen, sondern eine Fahne der Reichsdeutschen ist. Ach, konkret sichtbare, fotografierbare Dummheit hätte uns sehr beruhigt, aber es ist jetzt nichts mehr zu unserer Beruhigung da.

Wir haben übrigens auch nach Euch Ausschau gehalten, da wir uns so bewegten, sowieso die ganze Zeit nach Leuten geschaut, die wir kennen könnten.

Und wir haben uns festgehalten am Kopf des Karl Marx, wir haben uns an die Stunden aus Kindheit und Jugend erinnert, die wir an diesem Kopf verbracht haben. Was kann man von einem Monument erwarten? Dass es sich auf unsere Seite schlägt? Dass es sich diskret zurückzieht? Alles muss man selber machen.

Das Szenario am Kopf, sage ich, das ist jetzt erst einmal keine Wirklichkeit, nicht wahr? Das setzen wir mit einer geschickten Parallelverschiebung ein bisschen abseits in Zeit und Raum. Das ist eine automatische Abmilderung der Eindrücke, um nicht hier schon alle Kraft zu verbrauchen. Vor uns die Vorbereitungen einer Aufführung, die wir gern absagen würden. Insofern dies hier ein Stück wäre, müsste man sagen, es ist mit dem Blick, wenn nicht gar mit der sogenannten Liebe fürs Detail inszeniert, denn der Hass, der zum Ausdruck gebracht werden soll, dringt schon hier, da hat die Aufführung noch gar nicht begonnen, in subtilen, aber gut platzierten und nicht zu kleinen Dosen zu mir vor. Fahr zur Hölle, lese ich auf dem T-Shirt eines Mannes.

Das Ich tritt hier übrigens nicht als Fiktion auf, als eine Möglichkeit voller Möglichkeiten, hier ist alles ganz Identität.

Ich aber möchte für immer mehrere sein, das habe ich ja oft genug gesagt. Falls Ihr Euch erinnert.

*

Liebe X, lieber X,

ich sage es nur Euch, und es muss unter uns bleiben: Ich möchte so dringend Beruhigung! Und ich möchte nicht mehr dagegen sein. Ich will auf die Seite derer wechseln, die mir stärker erscheinen. Ich möchte deren Worte brüllen, in deren klar strukturierter Welt zu Kräften kommen. Ich möchte das hier nicht zum ersten Mal, und ich pflücke es und werfe es weit weg. Die Frage aber, die ich vor ein paar Monaten stellte, als ich von der Buchmesse kam, wo ich eine Weile am Stand von Antaios, dem Verlag von Kubitschek und Kositza gesessen und in deren Büchern geblättert hatte und mich auflöste und allen Widerstand verlor, die Frage war dann: Vielleicht bin ich ja rechts? Und K lachte, und sagte: Das ist das Stockholm-Syndrom, Herzchen, das ist bekannt, das muss man nur wissen.

All die Fehlerquellen, und ich will sie alle kennen.

Ich stehe auf dem Hamburger Gitter, halte Ausschau. Wo kommen die Nazis?, wird gefragt. Sind sie das? Wir sind alle gierig und abgestoßen zugleich. Als irgendwer ruft: Da sind sie, beginnen wir „Haut ab“ zu schreien, brüllen über die Gleise, die Absperrungen hinweg. Ich hasse diesen Ruf und ich hasse noch mehr, dass wir uns täuschen. Die Späher auf dem Gitter, so auch ich, haben falsch geschaut, die da kamen, waren nicht die Gegner und ihr Trauermarsch, das waren zu unserem Protest Gehörende. Ich steige vom Gitter, peinlich berührt.

C spielt derweil Pokémon, sie arbeitet am virtuellen Protest und will eine Arena erobern, dort ein Schild aufstellen. Sie möchte ihr Pokémon umbenennen in Nazis_raus, der Name wird jedoch nicht akzeptiert, Nasis_raus allerdings funktioniert.

*

Liebe X, lieber X,

ich schreibe auch diese Zeilen in großer Eile und hoffe auf Ruhe. Ach, schon gut.

Ich stehe vor dem Hotel herum und weiß für Momente oder für immer nicht, wohin mit mir: Fünf Männer stehen vor einem Bus des Fernsehens. Im Bus sitzt eine Frau am hell beleuchteten Schnittplatz, arbeitet an einem Beitrag. Ich halte die Männer zuerst für Sicherheitspersonal und wundere mich über die große Anzahl. Und wundere mich zugleich nicht. Die Männer kreisen um diesen Bus, drücken ihre Gesichter gegen die Scheibe, kommen der Frau, die unbeirrt weiter arbeitet sehr nah. Sie sitzt in ihrem Lichtkreis, und es ist wie in manchen Kirchen, wo das Licht angeht, wenn man eine Münze einwirft und man sich Caravaggios Madonna di Loreto ansehen kann, bis das Licht wieder verlöscht.

Die Männer stehen vor diesem Diorama, das die Wirklichkeit einer arbeitenden Frau ist und sagen: Hier wird wieder gelogen, hier werden wieder die Meldungen gefälscht.

Ich setze meinen grimmigen Blick auf, meine älteste, billigste und erfolgloseste Waffe und gehe.

Ich denke an die Amazebox, ein Zauberutensil, in das Dinge gesteckt werden können, die nachher, wenn die Box geöffnet wird, verschwunden sind. Ich habe mir diese Box vor ein paar Tagen bestellt und werde, wenn sie angekommen ist, das Verschwinden-Lassen von Dingen üben und das als Praxis eines fantastischen, frappierend simplen und im Kern friedvoll konzipierten Protests verstehen. Ich denke irrational, halte das aber für einen Fortschritt.

Und wie geht es Euch?

 

Die Lesung von Heike Geißler (ab Min. 44) und die Diskussion zu Heinrich Bölls Zeitdiagnose des Jahres 1968 zum Nachschauen:

„Ich wünschte ihren Augen Laserstrahlen“ – Zeitdiagnose Böll '68 - Heinrich-Böll-Stiftung

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