Idlib und die Grenzschließung der EU

Kommentar

Die aktuelle Krise an der griechisch-türkischen Grenze wurde durch die katastrophale Konfliktsituation im Nordwesten Syriens ausgelöst. Ein Kommentar von Joachim Paul, unserem Büro-Leiter in Beirut.

Wladimir Putin, Bashar al-Assad und Sergei Shoigu
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Putin und Assad besuchen gemeinsam den Kommandoposten der russischen Streitkräfte in Syrien, Januar 2020.

Im Dezember 2019 hat das syrische Regime mit aktiver Unterstützung Russlands begonnen, die von Rebellen kontrollierte Provinz Idlib militärisch unter Kontrolle zu bringen. Dabei wurde die Provinz an der türkischen Grenze von der syrischen und russischen Luftwaffe massiv bombardiert. Gezielt wurden zivile Ziele angegriffen, darunter medizinische Einrichtungen, Schulen und Zelte der vor Gewalt Fliehenden. Das syrische Regime konnte zahlreiche Orte einnehmen. Es besteht kein Zweifel am strategischen Ziel des Assad-Regimes, mit Unterstützung Russlands das gesamte Gebiet zu erobern. Für einen großen Teil der Menschen würde dies Haft, Folter, Gewalt bedeuten. Deswegen sind die bisher von der Armee eroberten Gebiete so gut wie menschenleer. Zahlreiche von Regimemilizen verbreitete Videos zeigen zerstörte Häuser von Geflüchteten und sogar verwüstete Friedhöfe. Die Botschaft ist klar, eine Rückkehr soll nicht mehr möglich sein, die Vertreibung soll endgültig sein.

Die Bevölkerung hat keine andere Wahl als in Richtung Norden zu fliehen. Ein Drittel der drei Millionen in Idlib befindlichen Zivilist/innen haben sich bereits auf den Weg gemacht. Die Bilder zeigen endlose Konvois der Flüchtlingstrecks, die sich in Richtung türkische Grenze bewegen. Unter den 950.000 Menschen auf der Flucht sind laut UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock 80 Prozent Frauen und Kinder. Die 200 neu geschaffenen Flüchtlingscamps sind hoffnungslos überfüllt, Zelte gibt es nicht mehr, Menschen harren in eisigen Temperaturen unter freiem Himmel aus. Kinder erfrieren im eisigen Winter Nordsyriens. Zudem häufen sich Berichte von Angriffen auf Hilfsorganisationen, so wurden zum Beispiel mehrere Mitarbeiter der lokalen Violet Organization Opfer der Angriffe. Die Hilfsorganisationen richten verzweifelte Appelle an die internationale Öffentlichkeit wie auch den UN-Sicherheitsrat und sprechen von der größten humanitären Katastrophe des letzten Jahrzehnts. Dabei bleiben die Grenzen zur Türkei weiterhin geschlossen.

Die Verantwortung Russlands

Die jüngste Eskalation wurde durch gezielte syrische Angriffe auf türkische Militärstellungen in der Provinz ausgelöst. Bei dem letzten Angriff starben über 50 türkische Soldaten. Die Einrichtung dieser Stellungen - oder Beobachtungsposten, wie sie offiziell genannt werden - in der Provinz Idlib war ursprünglich zwischen der Türkei und den Verbündeten des syrischen Regimes, Russland und Iran, vereinbart worden. Sie waren Teil eines Deals der vor fast zwei Jahren die militärische und humanitäre Katastrophe verhindern sollte, die sich jetzt vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielt. Aus Sicht der russischen Streitkräfte hat die Türkei ihre Zusagen nicht erfüllt, islamistische Rebellengruppen zu entwaffnen. Tatsächlich befinden sich die Posten teilweise in Gebieten, die von syrischen Truppen eingenommen wurden. Die Türkei reagierte darauf militärisch und schoss syrische Hubschrauber und Militärflugzeuge ab. Die Offensive kam für einige Tage zum Stillstand - zwei Tage lang blieb sowohl die syrische wie auch die russische Luftwaffe am Boden, bevor letztere am 2. März wieder aktiv wurde. So kam es bei der Bombardierung von Lagern der Flüchtenden auch wieder zu Toten.

Diese Situation ist in jeder Hinsicht unhaltbar. Die Türkei hat bereits 3,5 Millionen Geflüchtete aus Syrien aufgenommen, so dass der türkische Präsident innenpolitisch die weitere Aufnahme einer großen Gruppe Menschen nicht mehr rechtfertigen kann. Die Zahl der Schutzsuchenden könnte bei einem weiteren Vorrücken der syrischen Armee auf zwei Millionen oder mehr ansteigen. Diese Menschen würden ohne humanitären Schutz und Versorgung in einen schmalen Landstreifen zwischen türkischer Grenze und syrischen Stellungen gedrängt werden.

Zu ihrem humanitären Schutz müssen unbedingt notwendige Angebote gemacht werden. Dazu gehört eine Aufnahme der Geflüchteten in den Nachbarländern, aber auch in Deutschland und der EU. Die Öffnungen der Grenzen für die Versorgung durch Hilfsorganisationen aus der Türkei muss weiterhin durch eine UN-Resolution gesichert werden. Diese Maßnahmen sind jedoch politisch nicht nur sehr schwer umsetzbar, sie bräuchten vor allem Zeit, um Wirkung zu zeigen. Zudem würden sie nichts an der Ursache dieser humanitären Katastrophe ändern - der russischen Unterstützung der syrischen Offensive. Ohne Russland wäre das Regime nicht in der Lage, die Rückeroberung von Regionen außerhalb seiner Kontrolle als strategisches Ziel durchzusetzen. Die politische und strategische militärische Unterstützung Russlands hat das syrische Regime befähigt, jeglichem Druck Stand zu halten und eine weitere menschenrechtliche und humanitäre Krise ungeahnten Ausmaßes hervorzurufen.

Den europäischen Akteuren und der EU war seit 2016 klar, dass der Flüchtlingsdeal mit der Türkei zwar der weiteren Migration von Geflüchteten einen Riegel vorschieben konnte, die sich bereits außerhalb Syriens und in der Türkei aufhielten. Aber der Deal sah keinerlei zusätzliche politische Maßnahmen vor, um weitere Flucht aus Syrien zu verhindern. Der Krieg in dem Land ist nicht beendet, sondern in einer anderen Phase, die durch die komplexe Verflechtung des syrischen Konflikts mit europäischer Innenpolitik weiterhin ein enorm destabilisierendes Potential birgt. Deswegen müssen die Bundesregierung und weitere EU-Staaten dringend glaubhaften politischen Druck auf Moskau ausüben. Dazu sollten auch kurzfristig wirksame Sanktionen gehören. Nur ein Stopp der Offensive und damit verbundene dauerhafte Lösungen zum Schutz und zur Versorgung der Zivilbevölkerung in Syrien können die Lage entschärfen.