Transatlantische Solidarität mit der Zivilgesellschaft neu denken

Die Administration von Joe Biden und Kamala Harris in den Vereinigten Staaten birgt die Chance für einen Neustart der transatlantischen Beziehungen insbesondere mit Blick auf die Zivilgesellschaft. Frauenbewegungen, die Black Lives Matter-Bewegungen und die Klimageneration finden starke Resonanz in Europa und in den USA – und sie sind zentral für eine Neuaufstellung des europäisch-transatlantischen Projekts. Wer ist die Zivilgesellschaft, auf die eine zukünftige transatlantische Erzählung und eine lebendige und partizipative Demokratie bauen kann?

Illustration Ellen Wink

Als am 20. Januar 2021 Joe Biden und Kamala Harris im Weißen Haus als neue Regierungsadministration der Vereinigten Staaten vereidigt wurden, atmeten in Europa viele auf. Aber mit dem Wechsel im Amt sind die Verwerfungen im transatlantischen Verhältnis nicht verschwunden. Die US-amerikanische Gesellschaft ist gespaltener denn je; auch wenn Joe Biden dem Pariser Abkommen wieder beigetreten ist, muss eine neue Klimadiplomatie aufgebaut werden. Die Pandemie kontrolliert den politischen Alltag. Auch wenn Joe Biden der WHO wieder beigetreten ist, muss eine Reform angestoßen werden. Der begonnene Handelskrieg gegen Europa muss beendet werden. Die USA steht vor einem Schuldenberg und vor den Scherben einer Politik, die Europa den Rücken zugewandt hat. Der Verweis auf die Geschichte seit dem 2. Weltkrieg, auf die stabilisierende und unterstützende Funktion der USA für die Einheit Westeuropas in den 1950er Jahren genügt nicht mehr, genauso wenig lässt sich nahtlos an die Obama-Ära anknüpfen.

Es braucht eine neue transatlantische Erzählung, die aus den vergangenen vier Jahren lernt und das europäisch-transatlantische Projekt zukunftsfähig macht. Diese Erzählung beruht auf dem Weiterschreiben einer gemeinsamen Idee von demokratischer und offener Gesellschaft. Das ist nichts vollkommen Neues, aber im transatlantischen Verhältnis dominierte in den vergangenen Jahrzehnten die gemeinsame Sicherheitspolitik. Dieses Paradigma verfängt nicht mehr. Auf beiden Seiten des Atlantiks verändern sich die Gesellschaften, werden diverser und orientieren sich globaler. Gleichzeitig entwickeln sich spannende, neue Bewegungen mit starker Resonanz in Europa und den USA. Die wirklich interessante Frage für die Zukunft ist daher: Wer sind die „Transformer“? Wer sind Träger*innen der transatlantischen Erzählung, auf die eine weitergeschriebene, lebendige Demokratie bauen kann?  Wer sind die Bürgerinnen und Bürger, die mit hoher Glaubwürdigkeit für eine neue Inklusivität unserer Demokratien streiten?

Wer sind die Transformer? Es geht um die Zivilgesellschaft

Zunächst einmal: Engagement für die Demokratie beginnt, abgesehen von den vornehmsten Bürger*innenrechten der Demokratie wie dem Wahlrecht, mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit.

Oft sind es Defizite und mangelnde Teilhabechancen bis hin zu massiver Diskriminierung wie im Fall der Polizeigewalt gegen Schwarze, Indigene und Menschen of Colour (BIPoC) in den USA, die Menschen dazu bringen, sich einzumischen. Verletzte Menschenrechte, andauernde Ungerechtigkeit und das Versagen von Institutionen sind Treiber von zivilgesellschaftlichen Bewegungen. 2016 formierte sich der unglaublich große Women’s March, bis heute erleben wir die Reaktivierung und den Sprung über Milieugrenzen bei der Black Lives Matter-Bewegung und wir sind seit Greta Thunberg‘s erstem Auftritt Zeug*innen einer sich rasant vergrößernden, globalen Jugendbewegung für Klimaschutz. Das ist die Zivilgesellschaft, die sich politisch einmischt und die beiderseits des Atlantiks die gleichen demokratischen Versprechen umgesetzt sehen möchte – eine gerechte Gesellschaft, in der sie sich repräsentiert fühlen, politische Institutionen, die die Zukunftsprobleme wie Ungleichheit und Klimakrise angehen, statt zu vertagen. Sie steht ein für eine plurale, vielfältige Öffentlichkeit, in der Meinungsfreiheit und Respekt herrschen.

Das transkontinentale Auftreten der Bewegungen ist deutliches Zeichen dafür, dass die jüngeren Generationen, die Millennials, die Generation Z und die Klimageneration, dass die Perspektive der Frauen und der LSBTIQ*-Community, dass die Einschätzungen marginalisierter Gruppen viel stärker und ernsthafter integriert werden müssen in einen bisweilen elitären, politischen Diskurs über transatlantische Gemeinsamkeiten. 

Bürgerinnen und Bürger, die in der Demokratie engagiert sind und sich für die Demokratie engagieren, das meint der Begriff Zivilgesellschaft. Und diese Zivilgesellschaft ist ein starker Treiber hin zu einer neuen Phase der Demokratie im 21. Jahrhundert.  Neu, weil wir nach dem Wiederaufbau der europäischen Demokratien nach 1945,  nach den Umbrüchen 1968 wie auch nach dem Fall der Mauer nun eine neue, breite Entwicklung sehen, die einerseits Gerechtigkeit und Teilhabe jenseits kolonialistischer Deutungsmuster und andererseits eine entschiedene Lösung der Klimakrise in den Fokus nimmt.

Die Struktur der Zivilgesellschaft ist heute vielfältiger denn je, mehr noch, Vielfalt ist ein Anspruch an die Gestaltung von Demokratie. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhundert zeigte sich Alexis de Tocqueville, der französische Adlige und Publizist fasziniert von der Zivilgesellschaft in der jungen Demokratie der Vereinigten Staaten. Demokratische Selbstorganisation, die sich weder den Gesetzen des Marktes, noch den hoheitlichen Ansprüchen des Staates unterwarf, sondern durch die Bildung von Vereinigungen auf regionaler und lokaler Ebene etwas Drittes bildete, stärkte und prägte den Charakter der Demokratie. Europa steckte hingegen noch tief in monarchischen Strukturen. Die aufkeimende bürgerliche Gesellschaft sollte noch lange Zeit Mühe haben, sich eine Stimme zu verschaffen. Das europäische Bild änderte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Emanzipationsbewegungen, die um Anerkennung und Wahrnehmung stritten, wie die erste Frauenbewegung oder die Arbeiterbewegung veränderten auch auf dem alten Kontinent die Gesellschaften in Richtung Vielfalt und schufen neue Formen von Öffentlichkeit. Das 20. Jahrhundert war ein „age of extremes“, und es brachte zugleich in seiner zweiten Hälfte starke soziale, demokratische Bewegungen hervor, die sich europäisch und transatlantisch vernetzten.

Zu den aus heutiger Sicht lange bewährten, im transatlantischen Verhältnis dominierenden Vereinigungen, Think Tanks, etablierten Beziehungen von Institutionen bis hin zu Städtepartnerschaften, die strukturell verankert und gesellschaftlich integriert sind, treten neue Formen der Zivilgesellschaft. Spontane Bewegungen, die sich in den sozialen Medien und auf der Straße zusammenfinden, informelle Communities, die sich ihre eigenen politischen Safe Spaces errichten, interdisziplinäre Bündnisse, die sich hinter offenen Briefen versammeln ebenso wie Aktivist*innen, die etwa in den sozialen Medien öffentliche Meinungsführerschaft übernehmen, verwandeln nationale gesellschaftliche Diskurse in transatlantische und globale. Jetzt ist der Moment, diese neuen Bewegungen, die ihre Zugänge zur offenen Gesellschaft und zur liberalen Demokratie gerade definieren, in die klassischen Diskurse des transatlantischen Austausches nicht nur einzubeziehen, sondern diese klassischen Diskurse vielmehr herauszufordern und zu verändern. 

Vielfalt braucht Repräsentation in den Demokratien 

Die Vielfalt der Perspektiven, die das neue Kabinett von Biden-Harris repräsentiert, ist mehr als ein symbolischer Akt. Erstmals gehören u.a. Deb Haaland, eine indigene Innenministerin, Lloyd Austin, ein schwarzer Verteidigungsminister und Rachel Levine, eine Trans Staatssekretärin im US-Gesundheitsministerium zum Regierungsteam. Hier wird in Teilen ein gesellschaftlicher Wandel politisch und personell nachvollzogen, der längst sichtbar und wirkmächtig ist. Das kann und muss vorbildhafte Wirkung für eine inklusive Ausgestaltung des europäisch-transatlantischen Projekts haben. Gleichberechtigte Repräsentation muss in europäischen Administrationen, etwa der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament oder dem Bundestag, vielfältiger aussehen. Entscheidend ist, die Diversität der eigenen Gesellschaften auch in den Institutionen abzubilden und sie auf diese Weise auch in den transatlantischen Dialog zu integrieren. 

Politischer Repräsentation von Personen kommt dabei ebenso viel Bedeutung zu wie der Repräsentation ihrer Themen. Ein wichtiger Schritt ist die Anerkennung, dass Rassismus, Diskriminierung und Sexismus demokratische Gesellschaften schwächen, Teilhabe verhindern und daher mit in das Zentrum der Debatten über Demokratie gehören. Eine der wichtigsten Lektionen der vergangenen Jahre ist, dass die Gefährdung demokratischer Öffentlichkeit von innen durch extreme Polarisierung mindestens ebenso gefährlich ist wie die Gefährdung durch die Interventionen autokratischer Regime von außen.

Auf beiden Seiten des Atlantiks liegen vielfältige Erfahrungen vor, wie demokratische Resilienz gestärkt werden kann. Es sind nicht zuletzt die Protestbewegungen, wie Black Lives Matter oder „March for our Lives“, die in Europa auch deswegen massive Resonanzen erzeugt haben, weil sie symbolisch für eine leidenschaftliche Verteidigung von Freiheit, Gleichberechtigung und Demokratie standen und stehen. Für die Zukunft wird es darauf ankommen, diese Resonanzen aufzugreifen, demokratiestärkende Vielfalt in Institutionen und Diskursen wirkungsvoll zu repräsentieren – auch in Deutschland und Europa. Mit diesem Anspruch öffnen sich Lernfelder der Demokratie, des transatlantischen Austausches, die noch nicht im Ansatz ausgelotet sind. Repräsentation beginnt bei der Einladung diverser Repräsentant*innen zu Veranstaltungen, führt über die Repräsentation in der Exekutive – aber endet dort noch lange nicht. Sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Element demokratischer Kultur.

Den Stimmen der Zivilgesellschaft einen zentralen Platz ermöglichen

Eine weitere Lektion, von der das transatlantische Verhältnis im Blick auf die Zivilgesellschaft enorm profitieren kann, ist die regionale Verankerung vieler zivilgesellschaftlicher Akteur*innen. Eine ganze Reihe lokaler Organisationen kann bei der Umsetzung eines ökologischen Wandels in die transatlantische Zusammenarbeit inkludiert werden: Die Just-Transition-Bewegung in ehemaligen US-Kohleregionen etwa hat, bestehend aus Umweltorganisationen, Bürgerrechts- und Klimaaktivist*innen, Künstler*innen und Gewerkschaften, Ideen für einen innovativen, sozialen und ökologischen Strukturwandel entwickelt. Etliche zivilgesellschaftliche Organisationen weisen auf die Zusammenhänge zwischen Umweltzerstörung, dem kolonialen Erbe, rassistischen Konnotierungen und sozialer Benachteiligung hin. Die Initiative „Concerned Citizens of St. John Parish“ warnt die überwiegend afroamerikanischen Anwohner*innen vor den gesundheitlichen Gefahren der im Umkreis liegenden toxischen Fossilindustrie – 776 Mal höher ist hier die Gefahr, an Krebs zu erkranken. 

Manche dieser Gruppen sind bereits transatlantisch vernetzt. Die fridays for future-Bewegung begann in Schweden und fand ihren ersten Höhepunkt im September 2019 beim globalen Klimastreik und Greta Thunberg’s Rede in New York City. Die jährliche Congressional Black Caucus Konferenz in den USA bringt Schwarze Menschen aus der ganzen Welt zusammen, um politische Forderungen der Communities, gemeinsame und unterschiedliche Herausforderungen zu diskutieren.

Die Freiheit der offenen Gesellschaften ermöglicht den Zusammenschluss, die Selbstorganisation und die politische Einmischung ihrer Bürger*innen. Im transatlantischen Austausch liegen riesige Chancen, die Themen, für die zivilgesellschaftliche Gruppen einstehen, ganz oben auf die Agenda zu setzen. Schließlich sind es genau diejenigen transnationalen Netzwerke, die über Grenzen hinweg Brücken bauen, gegenseitige Verständigung erweitern und Gemeinsamkeiten stärken.

Das Band der transatlantischen Solidarität stärken

Für viele Menschen war während der letzten vier Jahre die transatlantische Solidarität eine Form des Widerstands gegen den Isolationismus und Populismus, gegen Desinformation und Abkoppelung von Europa. Während Donald Trump aus dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation ausstieg, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen ließ und die Spaltung innerhalb der Gesellschaft noch weiter befeuerte, wuchs die Solidarität innerhalb der US-amerikanischen Städte, Bundesstaaten und über den Kontinent hinaus. Die gemeinsame Initiative „We Are Still In“ von 10 Staaten, 293 Städten und Kommunen und vielen mehr, die sich trotz der Blockade, die vom 45. US-Präsidenten ausging, zusammenfand, um sich zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens zu bekennen, ist ein wertvolles Bündnis, das seinen transatlantischen und globalen Einfluss jetzt wirksam zur Geltung bringen kann. Ebenso große Chancen bieten sich jetzt, die vom Bundesstaat Kalifornien und dem Bundesland Baden-Württemberg begründete „Under2Coalition“ zu intensivieren. Zivilgesellschaft und die Institutionen der repräsentativen Demokratie haben hier ein breites, gemeinsames Wirkungsfeld. Zugleich wird die Zivilgesellschaft ihrer kritischen Funktion gerecht, insbesondere dort, wo Lobbyinteressen progressive Politiken behindern und verzögern.

Gemeinsam in die Zukunft !

Transatlantische Solidarität bedeutet, gemeinsam demokratische Resilienz zu stärken, in Zeiten der Pandemie solidarische Strukturen der Überwindung der Gesundheitskrise zu etablieren und auf längere Sicht die Lektionen aus den vergangenen vier Jahren zu beherzigen. Eine der wichtigsten ist: „Transformer“ finden sich auf allen Ebenen des politischen Prozesses, besonders aber unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren. Ihre Repräsentation zu stärken, ihre Themen aufzugreifen und ihren Stimmen Gehör zu verschaffen, ist ein Auftrag für die kommenden Jahre. Dazu gehört, die unterschiedlichen Themen auf politischer Ebene umzusetzen: Angefangen von konkreten Maßnahmen zu Klimaschutz und gleichzeitiger sozialer Gerechtigkeit, zur Wiederbelebung gemeinsamer Institutionen der Zusammenarbeit über eine gemeinsame, europäisch-transatlantische Regulierung von Hassrede und Desinformation im Netz, hin zu viel stärkerer Unterstützung der Zivilgesellschaft, sowohl finanziell als auch strukturell.  Angesprochen sind dabei politische Akteure, die auf den unterschiedlichen Themenfeldern das transatlantische Verhältnis wiederbeleben. Sie sind gut beraten, neue Perspektiven zu integrieren und neue Dialogformen zu etablieren.

Angesprochen sind aber auch die zivilgesellschaftlichen Akteure selbst: Transatlantische Solidarität braucht Gemeinsamkeit, Vernetzung, Ideen und Akteur*innen, braucht offene, kontroverse Debattenräume und Einmischung in etablierte Strukturen. Kein Zufall: Die Aufforderung „to build back better“ trifft sowohl auf die Zeit nach der Pandemie, als auch auf das transatlantische Verhältnis zu. 

 

Dieser Artikel wurde zuerst im Green European Journal veröffentlicht.