Großbritanniens Flüchtlingsdeal mit Ruanda: „Katastrophaler Präzedenzfall“

Kommentar

Auch wenn Großbritanniens Plan, Asylsuchende per Flugzeug nach Ruanda abzuschieben – noch bevor ihre Verfahren abgeschlossen sind, konnte vorerst gestoppt werden: Das umstrittene Vorhaben soll dennoch fortgesetzt werden.

Füße vor eine symbolischen Grenzlinie mit der Flagge des afrikanischen Lands Ruanda

Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist es zu verdanken, dass der erste britische Abschiebeflug von Asylbewerber*innen nach Ruanda im letzten Moment abgesagt werden musste. Dieser hatte sozusagen in letzter Minute angeordnet, dass einer der betroffenen Asylbewerber erst einmal nicht ausgeflogen werden dürfe. Es bestehe "ein echtes Risiko von irreversiblem Schaden" für die betroffenen Asylsuchenden, befand das Gericht. Noch bis zuletzt hatten Betroffene und Aktivist*innen versucht, gerichtlich gegen das Ausfliegen in das ca. 6.500 km entfernte Ruanda vorzugehen. Doch am Vortag des geplanten ersten Abschiebeflugs lehnte ein britisches Berufungsgericht den Eilantrag zur Verhinderung ab und die Hoffnung schwand dahin.

Die britische Regierung zeigt sich auch nach dem Einhalt aus Straßburg entschlossen, an ihrem Plan festhalten. Man bereite den nächsten Flug vor, hieß es in London. Für Premierminister Boris Johnson ist dies der zugegeben turbulente Anfang einer heftig umstrittenen Mission: "Zehntausende" von „illegal“ Eingereisten will der britische Premier nach Ruanda verfrachten.

Damit wird der Asylantragsprozess ausgelagert auf den afrikanischen Kontinent und mit der Verpflichtung zu Flüchtlingsschutz, der Genfer Flüchtlingskonvention, gebrochen.

Erst Abschieben, dann Anträge prüfen

Tatsächlich will der britische Premier Boris Johnson alles dafür tun, das umzusetzen, wovon manch europäische*r Politiker*innen schon lange träumen: Asylbewerber*innen abzuschieben, noch bevor ihr Antrag geprüft und abgelehnt ist. Sogenannte Drittstaaten sollen das Verfahren übernehmen und für Unterbringung und Versorgung aufkommen.

Die britische Regierung lässt sich das im Fall Ruandas dann einiges kosten. Erst im April hatten Innenministerin Priti Patel und Ruandas Außenminister Vincent Biruta in Kigali den Deal unterzeichnet. Die „Vergütung“ für die Aufnahme erfolgt durch Entwicklungshilfe. Ruandas Regierung, die aufgrund der Corona-Pandemie enorme Defizite im Staatsbudget hat, erhält aus London umgerechnet ca. 144 Millionen Euro. Der sogenannte Ökonomische Transformations- und Integrationsfond soll vor allem für Sekundärbildung, Universitäts- und Berufsausbildung eingesetzt werden und Start-ups junger Unternehmer in Ruandas aufsteigender Tech-Szene unterstützen.

Rechtsbrüche gegen Geflüchtete  

In Großbritannien wie anderswo wird eine Rhetorik bemüht, die Rechtsbruch und unmenschliche Härte in den Kontext von Verhinderung von Schlepperdiensten und Abschreckung stellt und den Bürger*innen suggerieren will, damit für Ordnung zu sorgen.

Innenministerin Patels hatte wortstark angekündigt, das dank des Brexits "kaputte"  Migrations- und Asylsystem zu reparieren. Die von den Briten als die "Krise der kleinen Boote" empfundenen aktuelle Lage beschleunigte wohl ihre Ambitionen: 2021 erreichten mehr als 28 000 Migrant*innen und Geflüchtete zumeist in kleinen Schlauchbooten die englische Küste.

Dabei ist Großbritannien nicht das einzige Land, das drastische Maßnahmen der humaneren Geste der Aufnahme vorzieht und damit Rechtsbruch begeht. Auf Abschreckung setzte schon die australische Regierung, die jahrelang Bootflüchtlinge vor dem Festland abfing und in Lager auf entfernt gelegenen Inseln internierte. Auch Griechenland, Kroatien und Polen brachen und brechen weiterhin mit illegalen Pushbacks an den europäischen Außengrenzen mit dem Versprechen der Genfer Flüchtlingskonvention – jenem Abkommen zum Flüchtlingsschutz, das durch die Fluchterfahrungen des Zweiten Weltkriegs entstanden ist.

Werden andere europäische Länder diesem Beispiel folgen?

Die Auslagerung des Asylverfahrens schafft jedoch einen Präzedenzfall, der unter Umständen der bereits ausgehöhlten Konvention und damit dem Flüchtlingsschutz in Europa den Todesstoß versetzt. So strebt auch Dänemarks Regierung schon seit längerem einen Deal mit Ruanda an. Die Idee des dänischen Integrationsministers Mattias Tesfaye scheint der Regierung von Boris Johnson so gut gefallen zu haben, dass London mit dem jetzt aktivierten Asyl-Deal Dänemark sogar noch zuvorkam. Man sei aber ebenfalls „auf gutem Wege“, informierte Tesfaye im Mai Vertreter*innen aller dänischen Parlamentsparteien. Der Dialog mit Ruanda müsse allerdings vertraulich bleiben. Das veranlasste EU-Flüchtlingskommissarin Ylva Johansson, Kopenhagen vor „möglichen Konsequenzen für die Dublin-Zusammenarbeit“ zu warnen, sollte man einen solch „kontraproduktiven“ und „egoistischen“ Plan tatsächlich verwirklichen. Als nach der Innenministerkonferenz Anfang Juni dann Österreichs Innenminister verlauten ließ, die Externalisierung von Asylverfahren sei ein gangbarer Weg für seine Regierung, vorausgesetzt andere europäische Staaten würden dem ebenfalls folgen, folgte keine wirkliche Kritik mehr.

Situation für Geflüchtete in Ruanda undurchschaubar

Ruandas autoritäre Regierung hingegen verfolgt ihre eigenen Pläne und präsentiert sich zunehmend als Aufnahmeland, wobei der Umgang mit den verschiedenen Gruppen von Geflüchteten und Migrant*innen weitgehend undurchschaubar bleibt. Das Land beherbergt bereits etwa 130.000 Flüchtlinge, vornehmlich aus den Nachbarländern Burundi und Kongo. 90% von ihnen leben in riesigen, tristen Lagern, wie man sie aus vielen Staaten des afrikanischen Kontinents kennt. Zwischen 2014 und 2017 sollen mehrere Tausend eritreische und sudanesische Flüchtlinge aus Israel nach Ruanda gebracht worden sein. Offenbar hält sich heute kaum noch jemand von ihnen im Land auf. Zudem nimmt Ruanda seit 2019 im sogenannten „Notfalltransitmechanismus“ übergangsweise Migrant*innen und Geflüchteten auf, die vom UNHCR aus libyschen Lagern evakuiert werden. Letztere leben im Auffanglager in Gashora, rund 60 Kilometer außerhalb von Kigali und warten auf eine Zusage von Drittländern, dorthin umgesiedelt zu werden.

Ruanda inszeniert sich als verlässlicher Partner

Für die jetzt Ausgeflogenen und alle, die ihnen folgen sollen, bleibt weitgehend unklar, wie mit dem Asylantrag weiter verfahren wird und welche Lebensumstände ihnen langfristig bevorstehen. Klar ist nur, dass sie selbst im Falle eines erfolgreichen Asylverfahrens nicht nach Großbritannien zurückkehren dürfen. "Ruanda begrüßt diese Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich, um Asylsuchende und Migranten aufzunehmen und ihnen legale Wege zum Aufenthalt" zu bieten, erklärte Außenminister Vincent Biruta.

Für Ruandas Präsidenten Kagame ist neben dem finanziellen vor allem der Prestige-Gewinn wichtig: Er kann sich als zentrale Figur im Umgang mit der weltweiten Migration präsentieren und ist zukünftig vor allem vor britischer und demnächst vielleicht auch dänischer Kritik gegenüber seiner schlechten Menschenrechtsbilanz gefeit. Denn in ein autokratisch regiertes Land mit gravierenden Menschenrechtsverstößen würden ja keine Geflüchteten verfrachtet.

Boris Johnson jedenfalls hat Ruanda schon als einen der „sichersten Staaten“ der Welt bezeichnet.


Dieser Beitrag wurde aufgrund von aktuellen Ereignissen am 15.06.2022 aktualisiert.