Demokratischer Patriotismus

Ukrainische Flagge weht im Wind
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„Slawa Ukraini ist heute keine trennende Parole mehr.“ Im Osten des Landes kämpfen Zivilisten aus allen Bevölkerungsgruppen gegen die prorussischen Separatisten.

Vom 1. - 4. Oktober war Ralf Fücks auf  Gesprächs- und Erkundungsreise in der Ukraine. Dort glaubt niemand, dass der Konflikt mit Russland beendet ist. Reisenotizen aus der Ostukraine.

Vom 1.-4. Oktober war ich auf Gesprächs- und Erkundungsreise in der Ukraine, gemeinsam mit Walter Kaufmann, unserem Osteuropa-Referenten in Berlin, und Kyryl Savin, dem Leiter unseres Büros vor Ort. Es war mein dritter Besuch in diesem Jahr. Wir starteten in Kiew und schlossen unsere Tour in Charkiv ab. Uns begleiteten zwei einheimische Aktivisten, die sich seit Beginn der Euromaidan-Bewegung Hals über Kopf in den Kampf um eine neue Ukraine gestürzt haben. Die folgenden Notizen konzentrieren sich auf zwei Städte, die in den umkämpften Regionen des schwerindustriellen Ostens und des Küstenstreifens am Asowschen Meer liegen.

2. Oktober:
Ein Tag in Dnipropretowsk, drittgrößte Stadt der Ukraine und bedeutendes Industriezentrum. Hier ist der Krieg Alltagsrealität. Aus dem Bezirk sind ca. 18.000 Freiwillige an der Front, 170 sind gefallen, 2.000 wurden verwundet. Vorgestern ist ein junger Mann aus Dnipropretowsk bei der Verteidigung des Flughafens in Donezk ums Leben gekommen. Dort gehen die Angriffe der prorussischen Milizen trotz des Waffenstillstands weiter. Als seine Mutter, eine Richterin, davon erfuhr, erhängte sie sich. In einem Cafe, das auch in Kreuzberg liegen könnte, treffen wir uns mit drei stadtbekannten Gesprächspartnern – ein oppositioneller Abgeordneter des Stadtparlaments, ein unabhängiger Journalist sowie ein Blogger und Kabarettist, der sich als „russischsprechender Jude und ukrainischer Patriot“ vorstellt. Ein Sohn des Abgeordneten ist als Freiwilliger bei der Armee. Ich versuche zu erklären, dass sie zwar mit politischer und finanzieller Unterstützung der EU rechnen können, das Thema Waffenlieferungen aber tabu ist, weil die europäischen Regierungen fürchten, in eine militärische Eskalation mit Russland zu schlittern. Die Antwort ist knapp und sarkastisch: „Wir verstehen - ihr seid bereit, uns zu helfen, falls wir den Krieg überleben.“ Ähnlich die rechte Hand von Gouverneur Kolomoiski, Borys Treigermann: „Wir würden gern einen Teil der finanziellen Hilfe gegen Leopard-Panzer eintauschen. Wenn wir uns nicht verteidigen können, gibt es auch nichts aufzubauen.“

Hier rechnet niemand damit, dass der Konflikt mit Russland schon beigelegt ist. Und niemand versteht, dass der Westen der Ukraine die militärische Ausrüstung verweigert, um sich gegen die russische Übermacht verteidigen zu können: "Wir sind im Krieg und wir kämpfen auch für euch. Und wir warten darauf, dass Europa das versteht." Treigermann antwortet auf die Frage, was er sich von der EU erhofft: „Erstens Geld, zweitens Waffen, drittens wirksame Sanktionen gegen die russische Machtelite.“

Den demokratischen Kräften der Ukraine ist sehr bewusst, dass sie nur gewinnen können, wenn nach der Parlamentswahl am 26. Oktober die überfälligen internen Reformen angegangen werden. Dieser Konsens reicht bis in Teile der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Gleichzeitig gibt es starke Beharrungskräfte im Staatsapparat, in den Parteien und unter den Oligarchen, die ihre Pfründe und Monopolrenten verteidigen. Umso wichtiger ist eine klare europäische Botschaft: "Wir wollen, dass ihr dazugehört. Damit das klappt, müsst ihr euer Land reformieren.“ Es ist nicht mehr die Frage, ob die Ukraine zu „Europa“ gehören will. Diese Entscheidung ist auf dem Maidan und im Widerstand gegen die russische Intervention gefallen. Kein Land hat je einen so hohen Blutzoll dafür entrichtet, sich der Gemeinschaft der europäischen Demokratien anzuschließen. Die Frage lautet umgekehrt, ob Europa zur Ukraine steht und den langen Atem aufbringt, ihr den Weg in die EU zu bahnen.

Antisemitismus spielt keine Rolle

Besuch des jüdischen Gemeindezentrums in der Innenstadt von Dnipropretowsk. Man geht auf das „Menora Center“ zu und glaubt es kaum: Über der alten Synagoge aus dem 19. Jahrhundert erhebt sich ein mächtiger Gebäudekomplex mit sieben Türmen, eine Kombination aus Holocaust-Museum, Konferenzzentrum, Shopping Mall, Gastronomie und Büros auf einer Fläche von 50.000 Quadratmetern. Nur ein Bruchteil wird von der jüdischen Gemeinde genutzt, alles andere ist an unterschiedlichste Nutzer vermietet. Während unseres Besuchs fand in einem der Säle eine gut besuchte Wahlkampfveranstaltung mit dem Lemberger Bürgermeister Andrej Sadowyji und einigen Kandidaten seiner neuen Partei „Selbsthilfe“ statt. In den Veranstaltungs¬räumen werden Hochzeiten gefeiert – jüdische und christlich-orthodoxe. Das Zentrum ist ein selbstbewusstes Zeichen für die Wiedergeburt jüdischen Lebens in der Stadt. Ihre jüdische Bevölkerung zählt rund 70.000 Köpfe, etwa 20.000 sind als Gemeindemitglieder registriert.

Oleg Rostovzev, Kommunikationsdirektor des Zentrums, führt durch das „Museum für jüdisches Leben und den Holocaust in der Ukraine“. Eröffnet wurde es im Oktober 2012, finanziert von den beiden großen jüdischen Oligarchen der Stadt, Hennadi Boholiubov und Igor Kolomoiski, dem heutigen Gouverneur des Bezirks. Die Ausstellung, ausgestattet mit allen Formen moderner Museumstechnik, zeigt nicht nur die Schrecken der Judenvernichtung während der deutschen Besatzung. Sie erzählt auch die Geschichte jüdischen Lebens in der Ukraine vor und nach dem Holocaust – eine Kontinuität, die brutal unterbrochen, aber nicht ausgelöscht wurde. Die Nazis haben nicht gesiegt. Die Schlusstafel befasst sich mit dem komplizierten Verhältnis von Judentum und nationaler Frage in der Ukraine. Sie schildert die Kollaboration von Teilen der ukrainischen Bevölkerung beim Massenmord an den Juden, aber auch die Hilfe, die Juden durch Ukrainer erfuhren - wer sie versteckte oder ihnen bei der Flucht halft, riskierte die Todesstrafe.

„Mit wie vielen Toten müssen wir bezahlen?“

Auszüge aus dem anschließenden Gespräch mit Oleg Rosovzev: Auf dem Maidan gab es Ultranationalisten und Antisemiten. Aber handelte es sich deshalb um eine antisemitische Bewegung? Keinesfalls. Es war eine breite Volksbewegung gegen ein autoritäres und korruptes Regime: Orthodoxe, Atheisten, Juden, Menschen unterschiedlicher Herkunft und politischer Einstellung. Was es nicht gab, war ein antisemitischer Diskurs. Der Anteil von Juden unter den „Himmlischen Hundert“, den getöteten Demonstranten vom 21. Februar, entsprach ziemlich genau dem jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung: etwa 5 Prozent. Alle wissen, dass Vizepremier Groysmann jüdisch ist, aber das spielt keine Rolle. Es gibt ebenso wenig antisemitische Ausfälle gegen ihn wie gegen Gouverneur Kolomoiski in Dnipropretowsk. Hier war der Maidan nicht besonders populär, aber fast alle waren froh, als Janukowitsch endlich weg war.

Wohin entwickelt sich die Ukraine? Fest steht: Lenin hat als Wegweiser ausgedient. Seine Denkmäler wurden bei der letzten Maidan-Bewegung gestürzt, viele Ukrainer wollen sich aus dem postsowjetischen Orbit befreien

Seit Beginn der russischen Intervention gibt es eine „Explosion des ukrainischen Patriotismus“, auch in der Ostukraine. Je mehr Druck Russland ausübt, desto tiefer wird der Graben. Auch die meisten „Russophilen“ haben mit der russischen Aggression nichts am Hut. Die alten gesellschaftlichen Trennlinien verschwimmen. „Slawa Ukraini (Ruhm der Ukraine) ist heute keine trennende Parole mehr.“ Im Menora Center fand ein Treffen zwischen jüdischen Veteranen der Roten Armee und Vertretern des „Rechten Sektors“ statt. Die jüdischen Veteranen sind stolz auf ihren Kampf mit der Sowjetarmee, aber sie wollen sich nicht gegen die ukrainische Unabhängigkeit ausspielen lassen. Symoblisch dafür haben sie ihre Georg-Kreuze als Zeichen des Sieges gegen den Hitler-Faschismus mit den ukrainischen Farben kombiniert: Sie fühlen sich jetzt als ukrainische Veteranen. Oberst Katz, ein Sprecher der jüdischen Veteranen, rief zur Selbstverteidigung gegen die russische Intervention auf. Frage: Fühlen Sie sich von den nationalistischen Kräften in der Ukraine bedroht? „Die Antwort ist Nein. Wir spüren aber eine antisemitische Gefahr aus dem Osten. Die eurasische Idee ist ein philosophischer Antisemitismus, eine aggressive Symbiose aus Nationalismus und Judenfeindschaft.“ Die Einstellung der meisten ukrainischen Nationalisten gegenüber den jüdischen Bürgern habe sich spürbar verändert, seit sich die große Mehrheit der Juden in der Ukraine gegen die russische Aggression gestellt hat. In der Ukraine vollzieht sich erst jetzt ein Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit. Die Lenin-Denkmäler wurden nicht 1991 gestürzt und auch nicht 2004, während der ersten Maidan-Bewegung, sondern heute. „Die Ukraine verlässt die sowjetische Welt – die Frage ist, mit wie viel Toten wir dafür bezahlen müssen. Wir müssen einfach durchhalten, bis in Russland Veränderungen eintreten, von denen wir noch nicht wissen, ob sie für uns positiv oder negativ sein werden.“ 

Wie Zivilisten zu Kämpfern werden

3. Oktober:
Mariupol, eine Industrie- und Hafenstadt am Schwarzen Meer mit ca. 600.000 Einwohnern. Der Angriff regulärer russischer Truppen und verbündeter Freischärler wurde knapp vor der Stadt gestoppt. Trotz des Waffenstillstands schlagen weiterhin Granaten in den Vororten ein. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung haben die Stadt seit Beginn der Kämpfe verlassen, gleichzeitig wurden 17.000 Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten aufgenommen. Wir sprechen mit dem Bürgermeister, einem Mann der alten Garde. Er beklagt sich darüber, dass die vom Krieg betroffenen Städte von der Regierung in Kiew allein gelassen werden, mit der Bürgerinitiative "Neues Mariupol" und mit einem Feldkommandeur der ukrainischen Armee in einem provisorischen Stützpunkt nördlich der Stadt. Zu viele Eindrücke, um sie auf einen Nenner zu bringen. Es geht an die Nieren, die jungen Freiwilligen zu sehen, von denen viele schon schlimme Erfahrungen hinter sich haben. Sie machen etwa die Hälfte der Truppe aus. Ihre Ausrüstung stammt zum Teil noch aus den 60er Jahren. Die große Mehrheit der Bevölkerung in Mariupol weiß, was sie dieser improvisierten Armee zu verdanken hat - ohne sie wäre die Stadt von den Angreifern erobert worden, die mit Panzern und Artillerie vorrückten. Bürgerinitiativen sammeln Geld, warme Kleidung, Medikamente und Verpflegung für die Soldaten. In einem kleinen Kellerraum fertigen sechs Frauen Tarnnetze. Geld wollen sie dafür nicht. Tausende Helfer haben mit Spaten und Schaufel Panzergräben ausgehoben, um die Stadt zu schützen. Es sind keine dumpfen Nationalisten, sondern die Zivilgesellschaft, die sich für die Verteidigung ihrer Stadt engagiert.

Wenn es einen demokratischen Patriotismus gibt, ist er hier zu finden. Es sind die gleichen Leute, die sich auch für eine Erneuerung der politischen Kultur engagieren und begonnen haben, die öffentlichen Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Bei den bevorstehenden Kommunalwahlen wird es in Mariupol wie in vielen anderen Städten Bürgerlisten geben, die frischen Wind in die Lokalpolitik bringen sollen. In der ukrainischen Gesellschaft findet ein Mentalitätswandel statt. Relevante Teile der Bevölkerung haben sich aus der Passivität befreit und fordern die alten, paternalistischen und korrupten Eliten heraus. Sie hoffen nicht auf Besserung von oben, sondern setzen auf Eigeninitiative und Selbstorganisation. Bürgerinitiativen haben Zulauf, bekannte Akteure aus der Zivilgesellschaft kandidieren auf diversen Parteilisten für das nationale Parlament. In Charkiv organisiert das „Bürgerforum“ ein breites Spektrum von Aktivitäten: Offenlegung der Vermögen von Amtsinhabern, lokale Gegenöffentlichkeit, Bildungsreform, Aufbau einer „Bürgermiliz“ zur Verteidigung der Stadt gegen Putschversuche der Separatisten. Ob dieser demokratische Aufbruch Erfolg hat, hängt maßgeblich davon ab, ob der fragile Waffenstillstand konsolidiert werden kann, oder ob die Ukraine in einen langen Verschleißkrieg gezogen wird, der alle Ressourcen bindet und wenig Raum für eine neue politische Kultur lässt.

OSZE-Kontrollen fehlt die Reichweite

Treffen mit General Igor Pawlowski, Kommandeur des nördlichen Frontabschnitts vor Mariupol. Seine militärische Laufbahn begann in der Roten Armee. Jetzt organisiert er die Verteidigung gegen die russische Intervention. Er sitzt mit dicker Strickjacke in einem schäbigen Büro auf dem Gelände des brachliegenden Flughafens von Mariupol, in dem es zugeht wie in einem Taubenschlag. Auszüge aus dem Gespräch: Die ukrainische Armee war im August auf dem besten Weg, dem separatistischen Spuk rund um Donezk und Luhansk ein Ende zu bereiten. Das massive Eingreifen regulärer russischer Einheiten hat die Kräfteverhältnisse jedoch umgekehrt. Vor allem die russischen Raketenwerfer haben zu hohen Verlusten unter den ukrainischen Soldaten geführt. Die russische Armee benutzt die Ostukraine als Testfeld für die Modernisierung dieser Systeme. Vor uns war eine OSZE-Delegation im Stützpunkt, die das Übereinkommen von Minsk überwachen soll. Allerdings wird die OSZE-Mission nur die Demarkationslinie zwischen den Freischärlern und der ukrainischen Armee kontrollieren. Die russische Grenze dagegen bleibt sperrangelweit offen für Waffen und Truppenbewegungen in das Gebiet der Separatisten. Die OSZE traut sich nicht in das Grenzgebiet, weil die russische Seite nicht für ihre Sicherheit bürgt – angeblich hat Russland keinen Einfluss auf das Treiben seiner Verbündeten im Donbas.

Tatsächlich werden die prorussischen Freischärler von Russland ausgerüstet, dort trainiert und von russischen Offizieren befehligt. Pawlowski lässt keinen Zweifel daran, dass die russische Armee Mariupol einnehmen kann, falls Putin den Befehl dazu gibt. Allerdings müsse er mit erheblichem Widerstand rechnen, und es sei zweifelhaft, ob Russland die Versorgung der Stadt garantieren könne. Schon jetzt droht in den besetzten Gebieten eine humanitäre Katastrophe. Die russischen Truppen führen einen „Raubkrieg“ in der Ostukraine: Die Getreideernte ist komplett nach Russland geschafft worden, und die Lastwagen, die von dort in die Region geschickt werden, fahren nicht leer zurück, sondern sind mit Industriegütern und sogar mit Metallschrott beladen. Pawloski macht einen durch und durch bodenständigen, besonnenen Eindruck: Ein General, der weiß, dass Russland über die größeren militärischen Reserven verfügt und deshalb hofft, dass der Waffenstillstand umgesetzt wird und seinen Soldaten weitere Kämpfe erspart bleiben. Zugleich lässt er keinen Zweifel, dass sie wieder kämpfen werden, wenn es sein muss.

Fast alle, mit denen wir in diesen drei Tagen gesprochen haben, bezweifeln, dass sich Putin mit seinen bisherigen Erfolgen zufrieden geben wird. Es spricht viel für einen erneuten Versuch, eine Landbrücke zur Krim zu errichten. Auch wird der Kreml alles tun, um die Integration der Ukraine in die EU zu verhindern. Umso wichtiger ist es, dass die europäischen Regierungen keinen Zweifel daran lassen, dass der Ukraine die Tür zur europäischen Gemeinschaft offen steht. Auf diesem Weg braucht sie unsere ungeteilte politische und wirtschaftliche Unterstützung. Gleichzeitig muss der Druck auf die russische Führung hoch gehalten werden, ihre Destabilisierungspolitik zu beenden, die Waffenlieferungen einzustellen und ihre Soldaten restlos abzuziehen.

Im Konflikt um die Ukraine geht es auch um die Zukunft Europas. Wenn die Ukraine wieder in den postsowjetischen Orbit gezwungen wird, festigt das die autoritären Regimes von Budapest bis Moskau. Umgekehrt wäre eine demokratische, wirtschaftlich erfolgreiche Ukraine der Anfang vom Ende des Putinismus.

 

Hinweis: Dieser Artikel erschien in leicht gekürzter Fassung am 12. Oktober 2014 im Tagesspiegel.