Mexikos Kunst erobert den öffentlichen Raum

Bazar del Monu in Ciudad Juárez, Mexiko
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Der „Bazar del Monu“ ist ein Ort, den sich die Menschen von Ciudad Juárez zurückerobert haben. Jeden Sonntag verwandelt sich der Park in einen Kunstmarkt

Keine Grünflächen, kaum Spielplätze und ein Stadtviertel, das Kriminelle kontrollieren. Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez  wehrt sich kreativ – immer mehr Künstlerinnen und Künstler besetzen den öffentlichen Raum. Ein Interview mit Carolina Rosas Heimpel, Künstlerin aus Ciudad Juárez, Mexiko.

Tausende Tote im so genannten Drogenkrieg, eine unbekannte Zahl ermordeter Frauen sowie viele Verschwundene. Wie beeinflusst diese Gewalt die Kunst in Ciudad Juárez?

Während der letzten Eskalation der Gewalt, zwischen 2008 und 2012, haben wir uns alle zurückgezogen und zu Hause eingeschlossen. Für Musiker gab es keine Auftrittsmöglichkeiten. Sie hatten Angst, in einer Bar oder woanders zu spielen. Irgendwann brach alles, was sich angestaut hatte, heraus und explodierte. Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder ob sie sich einfach an die Angst gewöhnt hatten. Jedenfalls hatten sie es satt, bei sich zu Hause zu spielen. Sie schlossen sich in Gruppen zusammen und gingen raus. Das passierte in den letzten Jahren.

Ist diese Dynamik auch in anderen Bereichen der Kunst zu beobachten?

Bei der Musik war das besonders offensichtlich. Aber ja, es schien so, als ob wir alle beschlossen hätten, rauszugehen. Es gab einen Boom, eine Explosion. Das passierte auch bei Künstlern, die sich anderen Ausdrucksformen wie der Malerei widmeten. Viele Maler hatten sich zurückgezogen. Nach dem Motto: „Ich male kein Bild mehr, weil ich traurig bin.“ Die Malerei war sehr nach innen gerichtet, sehr individualistisch. Jetzt ist sie wieder im öffentlichen Raum präsent und hat einen sehr expressiven und anklagenden Charakter.

Wie kennzeichnet sich der öffentliche Raum an einem Ort wie Ciudad Juárez?

Juárez hat wenig öffentliche Räume, und diese sind sehr verwahrlost. Nach den vielen Gewalttaten der letzten Jahre haben die Menschen Angst herauszugehen. Eltern erlauben ihren Kindern nicht mehr, im Park zu spielen, auch wenn dieser dem eigenen Haus direkt gegenüber liegt. Kriminelle Gruppen nehmen dann solche Areale in Beschlag. Der öffentliche Raum ist nicht mit dem in Deutschland vergleichbar. Er ist hässlich und lädt nicht dazu ein, ihn zu nutzen. Die Grünflächen sind nicht grün, die Bürgersteige keine Bürgersteige. Parks sind Brachflächen, einige haben Spielgeräte, wo Kinder spielen könnten, aber das sind keine wirklichen Spielplätze. Die Stadt ist für Autos gemacht, es gibt nur Straßen. Wir haben weder Museen noch Galerien.

Künstlerinnen und Künstler wollen diesen Raum zurückgewinnen. Was bedeutet das konkret?

Wir wollen ihn besetzen, um das soziale Geflecht zu stärken. Das versuchen wir zum Beispiel in meinem Kollektiv mit dem „Bazar del Monu“. Das ist ein Kulturmarkt, der jeden Sonntag in einem zentralen Park im Zentrum stattfindet. Der Basar ist ein Aufhänger, um uns den Ort wieder anzueignen. Künstler, die in Ciudad Juárez Platz suchen, können dort agieren. Man kann malen, lernen, lehren oder ausstellen. Es werden kostenlose künstlerische Workshops oder Zeichenkurse angeboten. Andere machen Performance. Lokale Bands haben einen Ort, an dem sie auftreten können. So gewinnen wir den Raum für die Bürgerinnen und Bürger zurück. Sie können sich dort vergnügen, aber auch Gespräche führen und öffentlich diskutieren. Es ist eine Wiederaneignung, um die Angst und die Verwahrlosung zu überwinden. Die Menschen haben das Gefühl, dass es ihr Ort ist. Die Leute sollen verstehen und schätzen lernen, dass es ihr Park ist. Wenn also jemand feststellt, dass die Toiletten nicht funktionieren oder Bäume fehlen, soll er nicht darauf warten, dass die Regierung das regelt. Sie wird das sowieso nie tun. Wir fragen: Warum kümmert ihr euch nicht selbst drum?

Welche Rolle hat die Kunst in solchen Projekten?

Die Kunst ist das Medium. Streicht die Regierung das halbe Viertel in einem hässlichen Grau oder Grün, intervenieren Künstlerinnen und Künstler ästhetisch. Das Kollektiv Fundamental zum Beispiel hat eine Brücke rosa gestrichen. Diese Gruppe gibt Workshops in Schulen und ermuntert Jugendliche, für sich selbst den öffentlichen Raum zu erobern, um zum Ausdruck zu bringen, was sie über die Stadt denken. Den jungen Leuten schlug das Kollektiv vor, die Brücke als Kommunikationsort zu nutzen. Durch Wandmalereien machen sie auf fehlende Räume oder die herrschende Unsicherheit aufmerksam.

Welche Rolle spielt die Tatsache, dass Ciudad Juárez eine Grenzstadt ist?

Die Grenze trennt uns nicht. Viele Künstler arbeiten auf der anderen Seite, in El Paso. Das Kollektiv Rezizte organisiert jedes Jahr ein Festival, auf dem Künstler aus Mexiko und den USA auftreten. Die Gruppe besteht aus Studierenden, die sich vor allem mit Grafikdesign beschäftigen. Rezizte will eine juarensische Identität fördern. Eine von der Grenze geprägte Identität. Deshalb greifen sie die Figur des Pachuco auf...

… des Pachuco?

Mexikaner, die in den USA oder der Grenzregion lebten, haben einst bewusst Aspekte der Gringo-Kultur mit der mexikanischen vermischt. So schufen diese so genannten Cholos den Pachuco. Rezizte greift die Figur auf und nutzt sie für Graffiti. Sie nehmen sich Persönlichkeiten aus Ciudad Juárez wie den Schauspieler und Sänger Tin-Tan, der durch seine Kleidung und seine Sprache den typischen Pachuco darstellt. Mit Schablone sprühten sie ein Bild seines Gesichts an die Mauern der Stadt, um an ihn zu erinnern. Sie benutzen auch die Figur des Auftragskillers und verbinden sie mit einem Skelett, also dem Tod. Das Skelett haben sie an verschiedenen Orten angebracht. Läuft man an ihm vorbei, zielt dessen Pistole direkt auf einen. Dann gibt es noch die Batallones Femininos. Diese feministischen Rapperinnen singen von der Arbeit in den Weltmarktfabriken. Vor allem aber klagen sie die Frauenmorde an, um Frauen mit ihrer kämpferischen Lyrik Kraft zu geben.

Wo treten die Batallones Femininos auf?

In den Vierteln, in Bars, auf der Straße und auf dem Bazar del Monu. Außerdem organisieren sie ein Festival mit dem Namen Feminem. Sie sind mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen verbunden und geben unter anderem Workshops im Kommunikationszentrum eines einfachen Viertels, um jungen Mädchen den Rap näher zu bringen. Auch an einem Gymnasium arbeiten sie mit einer Gruppe. Sie geben vielen jungen Frauen, die nicht wissen, wie sie sich ausdrücken sollen, den Rap als Instrument in die Hand. Das gibt den Mädchen die Möglichkeit, sich zu vermitteln.

Kunst ist ein Kommunikator zwischen der Stadt und ihren Bürgerinnen und Bürgern. So haben Sie Ihre Arbeit einmal ausgedrückt. Was meinen Sie damit? 

Die Künstlerinnen und Künstler entwickeln sich aus dem spezifischen Kontext ihrer Stadt. Sie sind die Mediatoren, weil sie in der Community arbeiten und etwa durch eine Wandmalerei etwas anregen. Sie leben im Barrio. Wenn Freunde sterben, gehen die Sprayer auf die Straße, um an sie zu erinnern. So bleibt eine Spur, die daran erinnert, was passiert ist.

Trug diese Form, den öffentlichen Raum zu besetzen, dazu bei, die Gewalt zu verringern?

Nicht grundsätzlich. Aber durch den „Bazar del Monu“ schaffen wir das für einen begrenzten Zeitraum. Der Park ist mitten in der Stadt. Es ist ein sozialer Brennpunkt. Dort verschwinden Frauen, in viele Wohnungen wird eingebrochen, Autos werden gestohlen. Den Basar gibt es jetzt seit 15 Jahren, seither fanden während des Marktes keine gewaltsamen Vorfälle statt. Das liegt an der Präsenz der Leute an den Sonntagen. Zu einer anderen Uhrzeit oder an einem anderen Tag bleibt der Ort gefährlich. Aber zumindest senken wir die Gewalt in diesem kleinen Bereich der Stadt für eine gewisse Zeit.