Der Friedensprozess in Kolumbien

Interview

Im März 2018 fanden in Kolumbien die Parlamentswahlen statt, zum ersten Mal seit 1964 nicht inmitten des bewaffneten Konflikts zwischen Staat und der Rebellengruppe FARC. Florian Huber, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Bogotá, spricht im Interview über die anstehenden Präsidentschaftswahlen, die Entwicklungen im Land und den Friedensprozess. 

Schlechte Aussichten für den Frieden? Kolumbien im Wahljahr
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Schlechte Aussichten für den Frieden? Kolumbien im Wahljahr

An welchem Punkt befindet sich der Friedensprozess im Moment, wie verläuft seine Umsetzung und was gefährdet ihn?

Ende März 2018 fanden in Kolumbien die Parlamentswahlen statt, zum ersten Mal seit 1964 nicht inmitten des bewaffneten Konflikts zwischen Staat und der Rebellengruppe FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia). Beide Seiten hatten im Juni 2016 einen endgültigen Waffenstillstand erklärt und im September 2016 ein Friedensabkommen unterzeichnet. Die letzten Waffen gaben die FARC im Juni 2017 ab, bevor sie sich am 1. September 2017 als neue Partei konstituierten: wieder mit dem Kürzel FARC, nun aber als Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común, was etwa "Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes" bedeutet.

Zuvor hatte das kolumbianische Parlament mittels Verfassungsänderung den Weg frei gemacht für die Gründung der neuen Partei und deren Teilnahme an den Wahlen. Doch diese führten zu einem mageren Ergebnis für die FARC: 0,34 Prozent im Senat und 0,21 Prozent in der Repräsentantenkammer. Stärkste Kraft wurde dagegen die rechte Partei Centro Democrático um Ex-Präsident Álvaro Uribe, die im Kongress als Oppositionspartei gegen die Gesetze zur Umsetzung des Friedensabkommens stimmte.

Insgesamt muss man leider sagen, dass diese Umsetzung äußerst zäh und schleppend verläuft. Vor allem seit das Verfassungsgericht Mitte letzten Jahres entschied, dass das Parlament über die Gesetzesentwürfe zur Umsetzung des Abkommens nicht nur en bloc mit Ja oder Nein stimmen darf, sondern über die einzelnen Gesetzesartikel diskutieren und sie zur Abstimmung stellen kann. Und dann kam Ende 2017 der Wahlkampf dazu: erst für die erwähnten Parlaments- und nun für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Es bleibt daher abzuwarten, wer als Sieger aus ihnen hervorgeht und was das Ergebnis für die Umsetzung des Friedensabkommens bedeuten wird.

Welchen Einfluss haben die Präsidentschaftswahlen auf die Entwicklungen und Diskussionen im Land und auch auf den Friedensprozess?

Nach den Umfragen zur Präsidentschaftswahl führen momentan der Kandidat des rechten Centro Democrático, Ivan Duque, und der linksprogressive, alternative Kandidat und Ex-Bürgermeister Bogotás, Gustavo Petro. Während Duque über die stärkste Fraktion im neuen Parlament verfügen würde, hat Petro nur wenige Vertreter/innen im Kongress. Beide Seiten wären für Mehrheiten im Parlament auf Koalitionen angewiesen. Daher werden die Präsidentschaftswahlen auch entscheidend dafür sein, wie die im Parlament vertretenen Parteien Bündnisse eingehen, um dem Präsidenten die erforderlichen Mehrheiten für die Verabschiedung von Gesetzen zur Umsetzung des Regierungsprogramms zu beschaffen.

Davon wird auch abhängen, welche weiteren Gesetze zur Umsetzung des Friedensabkommens, etwa in den Bereichen der Landreform oder politischen Beteiligung, erlassen bzw. ob Regelungen, z.B. die Gewährung von Sitzen für FARC-Vertreter/innen im Parlament oder das Sonderstrafverfahren für die Aburteilung von während des bewaffneten Konflikts begangene Straftaten, wieder rückgängig gemacht werden können.

Welche Unterschiede und Besonderheiten bietet der jetzige Wahlprozess als erste Präsidentschaftswahl nach dem Abkommen, was hat Dich besonders überrascht?

Nach aktuellen Umfragen sehen weniger als 3 Prozent der Bevölkerung die Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC und die Friedensverhandlungen mit der zweiten Rebellengruppe ELN als ein wichtiges Thema der politischen Agenda an. Fragen zur Gesundheits-, Wirtschafts- und Bildungspolitik, sowie zum Kampf gegen Korruption stehen für die Bürgerinnen und Bürger weiter oben. Dies zeigt aber auch, dass das Friedensabkommen Raum für neue politische Themen und Debatten zur Präsidentschaftswahl eröffnet hat.

Im Rahmen des Friedensprozesses wurde eine Wahrheitskommission gebildet, welche Rolle nimmt sie ein, aus welchen Instanzen besteht sie und wie schätzt du ihre Arbeit ein?

Die Bildung einer Wahrheitskommission, neben der Errichtung eines Sonderstrafgerichts und einer Behörde zur Suche nach Verschwundenen, ist ein zentrales Element des Friedensabkommens und bei der Frage, wie mit den während des bewaffneten Konflikts begangenen internationalen Verbrechen umgegangen werden soll. Die Arbeit der Kommission, die aus elf Personen – sechs Frauen und fünf Männern besteht - beginnt aber gerade erst: am 9. Mai 2018 wurden die Mitglieder der Kommission offiziell vereidigt.

Die Arbeit der Kommission soll in drei Jahren enden – insoweit stehen ihr große Herausforderungen bevor, insbesondere wenn die neue Regierung ab August wenig Interesse an dieser haben sollte. Im Gegensatz zum Sonderstrafgericht soll die Kommission als zeitlich begrenzte und außergerichtliche Instanz zur Wahrheitsfindung bei dem bewaffneten Konflikt zugrundeliegenden Gewaltmustern beitragen. Dazu wird sich die Kommission wohl auf emblematische Fälle beschränken müssen.

Wie schätzt du die jetzt heranwachsende, post-FARC-Generation der Drogenhändler ein? Welche Auswirkungen kann man auch international davon spüren?

Think Tanks wie InSight Crime sprechen von einer neuen Generation von Drogenhändlern, nach den großen Kartellen von Medellín um Pablo Escobar und Cali, dann den Paramilitärs und der FARC, und schließlich den sogenannten bandas criminales, organisierte bewaffnete Gruppen, die aus der Demobilisierung der Paramilitärs hervorgegangen sind und häufig als Neo-Paramilitärs bezeichnet werden.

Diese vierte Generation von Drogenbanden ist häufig weniger klar identifizierbar, ihre Anführer stellen ihren Reichtum nicht mehr so offensichtlich zur Schau, und sie haben Verbindungen zu den in Grenzregionen wie Catatumbo, Choco, Cauca oder Nariño operierenden bewaffneten Gruppen, darunter neoparamilitärische Gruppen, FARC-Dissidenten und die ELN und EPL, die um die Kontrolle über die Koka-Anbaugebiete kämpfen. Während der Friedensverhandlungen ist die Anbaufläche nach Angaben der Vereinten Nationen von 96.000 Hektar im Jahr 2015 auf 146.000 Hektar im Jahr 2016 gestiegen.

Es bleibt abzuwarten, ob das Ziel der Regierung, die Anbaufläche durch freiwillige Substitutionsprogramme um 50.000 Hektar zu senken, und die gleiche Fläche durch zwangsweise manuelle Vernichtung zu beseitigen, aufgehen wird. Die Zahlen für 2017 werden im Juli dieses Jahres erwartet. Dann wird sich zeigen, wie die neue Regierung ab August darauf reagieren wird.

Hat sich die Rolle der Frau in Politik und Gesellschaft vor Ort gewandelt, dürfen Frauen mitentscheiden im Friedensprozess?

Bei den Parlamentswahlen gingen etwa 21,7 Prozent der Stimmen für die Sitze im Senat und in der Repräsentantenkammer an Frauen. Diese spielten bereits eine wichtige Rolle bei den Friedensverhandlungen und dem Abkommen, das ausdrücklich einen Genderfokus hat. Dieser wurde jedoch geschwächt, nachdem bei einer Volkabstimmung im Oktober 2016 eine knappe Mehrheit gegen den Friedensvertrag gestimmt hatte. Gegner/innen des Abkommens hatten unter dem Schlagwort der „Genderideologie“ gegen dieses Stimmung gemacht.

Das Abkommen sah außerdem die Schaffung einer Subkommission für Genderfragen mit Beratungsfunktion bei der gesetzlichen Umsetzung der im Abkommen getroffenen Vereinbarungen vor. Doch die schleppende Umsetzung des Abkommens hat auch die Arbeit der Subkommission stark beeinträchtigt. Auch hier stellt sich die Frage, ob und wie eine neue Regierung die Rolle der Frauen bei der Umsetzung des Friedensabkommens stärken will.

Welche Rolle spielt die Heinrich-Böll-Stiftung in dieser ganzen Situation, was könnt ihr vor Ort tun?

Als politische Stiftung stärkt und vernetzt die Heinrich-Böll-Stiftung in Kolumbien vor allem zivilgesellschaftliche Akteure in ihrer Arbeit zur Friedensförderung, der Verfestigung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen, der Einhaltung der Menschenrechte, der Diskussion von umweltrelevanten Fragen und der aktiven Bürger/innenbeteiligung bei gesellschaftspolitischen Fragen.

Kolumbien steht mit dem Friedensabkommen erst am Anfang einer Reihe von neuen Herausforderungen, insbesondere angesichts neuer Formen sozial-ökologischer Konflikte, vom illegalen Goldabbau und seinen Verflechtungen mit illegalen bewaffneten Gruppen bis hin zur Frage um die Land- und Ressourcennutzung mittels neuer Megaprojekte im Agrar- und extraktiven Sektor. Zu diesen Fragen möchten wir gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen neue Lösungsansätze anbieten.

Das Interview führte Maya Luisa Wochner.