Zwischen Schuldabwehr und wachsender Bedrohung

Analyse

Der Antisemitismus in Deutschland wird seit dem 7. Oktober 2023 unter einem neuen Blickwinkel betrachtet.

Die Synagoge Besht Yeshiva Dresden mit einem Polizeifahrzeug
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Die Synagoge Besht Yeshiva Dresden mit einem Polizeifahrzeug. Vom rechtsextremen Antisemitismus gehen nach wie vor die meisten Bedrohungen, Straf- und Gewalttaten aus.

Die Aufmerksamkeit für Antisemitismus richtet sich derzeit vor allem auf islamistische und linke Gruppierungen, die den Terror der Hamas in Israel verherrlichen und damit die Grundlage für weitere antisemitische Vorfälle in Deutschland schaffen. Der Antisemitismus von rechts und aus der Mitte der Gesellschaft darf deshalb nicht aus dem Blick geraten.

Antisemitismus vor der Haustür: Am Morgen des 19. November, gut sechs Wochen nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober, wurde auf einen Schaukasten „Jüdisches Leben“ vor dem Rathaus Tiergarten in Moabit ein Brandanschlag verübt. Erst wurde ein Stein durch eine der Glasscheiben geworfen, dann Feuer gelegt. Die kleine Ausstellung über die Geschichte des Krankenhauses Moabit und speziell seiner jüdischen Angestellten wurde komplett zerstört.

Und ist der Zusammenhang des Brandanschlags in Moabit mit den Hamas-Solidaritätsaktionen nicht eindeutig, gerade in einem Stadtteil mit hohem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund aus muslimisch geprägten Ländern? Ein Bekennerschreiben zu dem Anschlag gibt es nicht. Noch bevor die Ausstellung am 6. Dezember wieder aufgebaut wurde – nur die verrußten Modellhäuschen blieben so, wie sie waren -, wurde eine Parole an dem Schaukasten angebracht: „Gegen jeden Antisemitismus“. Die Initiator:innen der Ausstellung erklären auf der Internetseite siewarennachbarn.de, dass es „unerheblich ist, ob man Juden aus politischen oder religiösen Gründen hasst“. Generell gelte:

„Antisemitismus und Rassismus schüren Hass und sind Gift für die Gesellschaft.“

„Es ist etwas aus den Fugen geraten“

Seit dem 7. Oktober hat sich, wenn in Deutschland über Antisemitismus gesprochen wird, der Fokus klar verschoben. Als der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, am 10. Dezember am Brandenburger Tor auftrat bei der Solidaritätsdemonstration „Nie wieder ist jetzt“, sagte er, die Lage der jüdischen Gemeinden in Deutschland sei dramatisch.

„Sie sind massiv unter Druck angesichts des antisemitischen Aufruhrs auf deutschen Straßen – viele von ihnen haben in den vergangenen Wochen direkt antisemitische Angriffe zu spüren bekommen. Ich erkenne zuweilen dieses Land nicht wieder. Es ist etwas aus den Fugen geraten.“

Er betonte aber auch:

„Antisemitismus ist in Deutschland in der Mitte der Gesellschaft gang und gäbe, vor allem israelbezogener Antisemitismus.“

Verfassungsschutz: Neonazis agitieren gegen Muslime und Migranten

Der neue Fokus ist nachvollziehbar – er deckt sich mit der Beobachtung von Sicherheitsbehörden. In einer Erklärung zur „Sicherheitslage“ beschrieb das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) am 29. November eine „komplexe und angespannte Bedrohungslage“, die „durch die barbarischen Verbrechen der Hamas noch verstärkt wird“. Als „Scharfmacher und Mobilisierungstreiber“ machte der Geheimdienst „Islamisten, palästinensische Extremisten, türkische Rechtsextremisten, deutsche und türkische Linksextremisten“ aus. Die verschiedenen Akteur:innen einige ein „gut verwurzelter Antisemitismus“, sagte BfV-Präsident Thomas Haldenwang. Das „gemeinsame Feindbild Israel“ würde „alte, aber auch neue Verbindungen“ hervorbringen. Zugleich stellt die Behörde fest:

„Deutsche Rechtsextremisten nutzen die aktuelle Situation zur Agitation gegen Muslime und Migranten.“

Dabei hatte das Land neue antisemitische Netzwerke erst im Zusammenhang mit den Corona-Protesten erlebt. In seinem Geleitwort für das Buch „Fehlender Mindestabstand – die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“ schrieb Zentralrats-Präsident Josef Schuster 2021, geeint würden die Demonstrant:innen – „Ökolatschen neben Springerstiefeln“ - durch „den Glauben, dass eine geheime Elite das Virus in die Welt gesetzt habe, dass die Bürger zu Marionetten würden etc.“. Er stellte fest:

„Das alte antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung wurde der aktuellen Situation angepasst.“

Er beobachtete die

„paradoxe Situation, dass die Coronaleugner einerseits Juden als Täter identifizierten und andererseits sich selbst mit Holocaustopfern verglichen“.

Damals ging es um eine Radikalisierung von Teilen der bürgerlichen Mitte – mithin auch um einen Antisemitismus, dem keinesfalls nur von „den Anderen“ Vorschub geleistet wird.

Fragt man Menschen, die sich seit Jahren mit dem wachsenden Antisemitismus in Deutschland beschäftigen, nach dem neuen Blickwinkel seit 7. Oktober, gibt es zunächst Verständnis. Der veränderte Fokus sei „kaum verwunderlich“, sagt beispielsweise der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, Meron Mendel 1 .

„Es ist auch richtig, in dieser Situation genau zu schauen, was los ist, wo Gefahren liegen, wie diesen begegnet werden kann.“

Mendel sagt aber auch:

„Dennoch ist die Gefahr des rechten und rechtsextremen Antisemitismus nicht deswegen gebannt, weil der Fokus derzeit woanders ist.“

Es sei „sicherlich ein Risiko, davon abzulenken oder irgendwie Gefahren gegeneinander auszuspielen“. Der Direktor der Bildungsstätte warnt zugleich vor dem Versuch von Rechtsextremen, Stimmung gegen Muslime zu machen oder sich als harmlos zu inszenieren.

In ähnliche Richtung geht die Wortmeldung von Daniel Eliasson, Grünen-Kommunalpolitiker im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf2 In Anspielung auf Äußerungen von Politikern wie Jens Spahn oder Hubert Aiwanger zu einem „importierten Antisemitismus“ sagt er:

„Die Ohnmacht dieses historischen Moments wollen Konservative jetzt ernsthaft nutzen, um ihren reaktionären Forderungen eine Legitimation zu verschaffen? So bekämpft man keinen Antisemitismus, sondern sorgt nur dafür, dass sich viele Deutsche bei Antisemitismus, ja sogar beim Thema Erinnerungskultur gar nicht mehr angesprochen fühlen.“

Am 26. November schrieb Ronen Steinke, Journalist der „Süddeutschen Zeitung“ und Autor des 2020 erschienenen Buches „Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“, auf Instagram, die Motive für solche Argumentationen aus der „Vogelschiss-Partei“ AfD oder der CDU seien durchsichtig.

„Das ist Schuldabwehr. Dieses Land hat es nie nötig gehabt, die Ideologie des Antisemitismus zu importieren. Darauf hat Deutschland schon selbst ein Copyright. Nicht trotz, sondern leider auch wegen des deutschdeutschen Antisemitismus fühlen sich heute auch eingewanderte Judenhasser ermutigt.“

Igor Levit warnt vor Ressentiments

Oder, in den Worten des Pianisten Igor Levit:

„Es gibt den Antisemitismus in Deutschland. Ob er von Steffi aus Berlin, von Heinrich aus Halle oder von Mohammed aus Essen kommt, ist dabei egal.“

Im „Tagesspiegel“-Interview Ende November sagte Levit, er spreche

„nicht von den Deutschen, sondern zum Beispiel von Neonazis. Genauso spreche ich nicht von den Muslimen oder den Palästinensern, sondern von radikalen Islamisten. Antisemitismus lässt sich nicht mit Rassismus bekämpfen. (…) Sobald über ganze Menschengruppen geurteilt wird, bloß um eigene Ressentiments zu bestätigen, bin ich raus.“

Wie kann es gelingen, die verschärften antisemitischen Bedrohungen ernst zu nehmen? Dies aber nicht per Geschichtsklitterung und Leugnen der allgemeinen gesellschaftlichen Verantwortung für eine Lage im Land, in der sich jüdische Menschen nicht mehr sicher genug fühlen, um sich öffentlich zu äußern?

Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung (AAS), sieht eine „neue Qualität“ des Antisemitismus im Land – und will nicht verstehen, dass Menschen aus sich progressiv verstehenden Milieus auch auf der Straße

„so sehr ungeniert offen gemeinsame Sache mit dem islamisch motivierten Antisemitismus machen“3 .

Er analysiert:

„Antisemitismus ist die Brückenideologie schlechthin und vereint ganz unterschiedliche Milieus.“

Rechtsextremer Antisemitismus dürfe eben deshalb nicht vernachlässigt, die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Momentan sei der Blick aus gutem Grund auf die islamistischen und linken Gruppierungen gerichtet, die den Hamas-Terror verherrlichen und so eine Grundlage für weitere antisemitische Vorfälle in Deutschland schaffen würden, sagt Reinfrank. Aber:

„Im Windschatten der Terror-Verherrlichung setzt die extreme Rechte ihre Angriffe auf die Erinnerung und jüdisches Leben in Deutschland fort.“

In der Chronik der AAS seit Oktober sei der rechtsextreme Antisemitismus derjenige, von dem im Alltag nach wie vor die meisten Bedrohungen, Straf- und Gewalttaten ausgehen würden.

Eine der vermutlich kompliziertesten Fragen ist die, ab wann Israel-Kritik als antisemitisch zu bewerten ist. Die Antwort darauf ist mit dem 7. Oktober schwieriger geworden.

Gefühlte Unsicherheit

Unstrittig ist dagegen, dass Antworten gefunden werden müssen auf das wachsende Unsicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Eine vom Zentralrat der Juden gestartete Online-Umfrage vom 20. November bis 30. November unter jüdischen Funktionär:innen in Deutschland hatte ergeben, dass es nach dem 7. Oktober in 68 Prozent der Gemeinden negative Auswirkungen wie Angst vor Angriffen, weniger Besucher:innen oder große Verunsicherung unter den Mitgliedern gebe. Bemerkenswert ist, dass 96 Prozent der Führungspersönlichkeiten zufrieden sind mit der Zusammenarbeit mit der Polizei und anderen Sicherheitsbehörden. In der Vergangenheit hatten Polizeiverbindungen in die rechte Szene Jüdische Gemeinden zum Teil erheblich verunsichert, wie beispielsweise der Autor Ruben Gerczikow in einem Beitrag für das Buch „Staatsgewalt – wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern“ analysiert.

Die große Herausforderung in der Zukunft wird darin bestehen, Antisemitismus in all seinen Facetten zu beachten und zu analysieren – und die Gegenwehr nicht jüdischen Menschen zu überlassen. Das gilt erst recht für das Wahljahr 2024, in dem nicht nur ein neues Europaparlament gewählt wird, sondern auch Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen stattfinden. Umfragen zufolge wird die in weiten Teilen rechtsextreme AfD in den drei Bundesländern als stärkste Partei in die Landtage einziehen. Und damit auch eine Partei mit verbreiteten antisemitischen Haltungen.

  • 1Quelle: Gespräch mit dem Autor
  • 2Quelle: Dem Autor vorliegender Text von Daniel Eliasson.
  • 3Quelle: Gespräch mit dem Autor